Von Kindern, die nicht Kind sein durften

Alwin Meyer hat mit „Vergiss Deinen Namen nicht“ ein wertvolles Zeugnis verfasst

Von Constanze FiebachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Constanze Fiebach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das unfassbare Leiden der Menschen, die im Konzentrationslager Auschwitz waren, macht uns fassungs-, ja sprachlos: Aber was ist mit dem Leiden der Kinder, die dort ihr Leben fristeten? Teilweise wurden sie dort gar geboren. Zu sagen, dass ihr Leben dort begann, erscheint paradox.

Alwin Meyer, der selbst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, hat über Jahrzehnte die Menschen ausfindig gemacht, die als Kinder in Auschwitz leben mussten. Mit Einfühlungsvermögen hat er ihre Erfahrungen und Worte gesammelt und in einem fast 800 Seiten umfassenden Buch zusammengetragen.

Der Leser bekommt im Vorwort eine Art Zusammenfassung dessen, was diesen Kindern, die Auschwitz überlebten, gemeinsam ist. Er erfährt von ihrem Misstrauen, der Lern- und Wissbegierde, der Frage nach den eigenen Wurzeln, der Herkunft und Identität sowie der Hoffnung auf noch lebende Familienmitglieder. Und natürlich, eine Frage ist besonders dringlich und laut: Wie leben nach Auschwitz? Diese Frage, die sich allen Überlebenden der Shoah stellen musste, bedeutete für diese Kinder, die teilweise kein Leben vor dem Lager hatten oder sich nicht mehr daran erinnern, etwas anderes, als für die erwachsenen Überlebenden. „In quälend langen Jahren mussten sie lernen, das Leben aus einer anderen Perspektive als der des Lagers zu sehen […]. Sie mussten lernen wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können.“

Man erfährt etwas vom „Leben davor“ derjenigen, die sich daran erinnern können. Und dann bekommt jeder und jede einzelne derjenigen, die bereit waren über ihre Erfahrungen aus Auschwitz zu erzählen, ein einzelnes Kapitel. Schon die Überschriften der einzelnen Kapitel verraten, was den Erzählenden besonders prägnant in Erinnerung geblieben ist. Ergänzt werden die persönlichen Berichte durch Fakten, die dem Leser helfen, die Situation in den geschichtlichen Kontext einzubinden.

Dass das Leben weitergeht, zumindest physisch gesehen, wird dadurch belegt, dass es auch um den weiteren Lebensweg der überlebenden Kinder nach dem Holocaust geht: „Sie suchten und fanden ein neues Leben, gingen zur Schule, studierten, heirateten, bekamen Kinder, gingen ihren Berufen nach, schufen ein neues Zuhause.“ Trotzdem zeigen die Erzählungen ganz individuell, dass Auschwitz immer präsent ist: „Am Tag, am Abend, in der Nacht.“ Die Erfahrungen prägen nicht nur das Leben der Überlebenden in einer kaum vorstellbaren Weise sondern ebenso das ihrer Kinder und Enkelkinder. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, wird aber in diesem Buch jenseits von Traumatheorien eindrucksvoll an authentisch berichteten Einzelschicksalen verdeutlicht, die trotzdem für Tausende sprechen.

Die „Kinder von Auschwitz“ geben Einblick in ihr privates Leben, in ihre Erinnerung, in ihre Seele. Und durch knapp 30 Seiten Fotos bekommen die sprechenden Stimmen ein Gesicht. Dieses Buch ist ein wertvolles Zeugnis dessen, was trotzdem in seiner ganzen Unfassbarkeit unaussprechlich bleiben muss.

Titelbild

Alwin Meyer: Vergiss Deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
757 Seiten, 38,80 EUR.
ISBN-13: 9783869309491

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