Ein indonesisches Märchen

„Der Träumer“ – ein autobiografisch gefärbter Roman von Andrea Hirata

Von Elisabeth BökerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Böker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ikal ist zwölf Jahre alt. Sein Vater, ein Minenarbeiter, ist Analphabet. Seine Mutter kann mit großer Anstrengung Briefe entziffern, da sie wenige Monate zur Grundschule ging. Ikals Familie lebt auf der indonesischen Insel Belitung und zählt zu den ärmsten Bewohnern. Eigentlich müsste der Junge Ikal einen Beitrag zum Lebensunterhalt seiner Familie leisten, doch das kann er nicht, da er noch zur Schule geht. Er möchte die Wünsche seines Vaters erfüllen, der möchte, dass sein Sohn eine Schulbildung erfährt und sich ein besseres Leben aufbauen kann, als es ihm selbst möglich war. Das spornt Ikal an: Er wird zum zweitbesten Schüler seiner Klasse.

„Wir besitzen nichts anderes als unsere Träume, denk daran! Ohne unsere Träume wären wir schon tot, Boi. Und wir werden um die Welt fahren, auf der besten Universität studieren! Was auch immer passieren mag“, sagt ein Freund zu Ikal. Diese Einstellung ist beeindruckend – besonders, wenn man sich die authentisch wirkenden und anschaulich beschriebenen Lebensumstände Ilkas vor Augen führt. Ikal, der deutliche autobiografische Züge des Autors Andrea Hirata trägt, unternimmt alles, um seinen Traum zu verwirklichen. Er geht zur Oberschule, die in einem mit dem Fahrrad zwei Stunden entfernten Ort von seinem Zuhause liegt. Das nötige Geld für Schule und Unterkunft verdient er sich als Hafenarbeiter. Und er lernt hart, um Klassenzweiter zu bleiben, so dass sein Vater voller Stolz das Schulzeugnis empfangen kann.

Doch in einer Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs im Land verliert Ikal den Traum beinahe aus den Augen und will die Schule hinwerfen, jedoch verwirft er diesen Gedanken gerade noch rechtzeitig: „Vielleicht werden wir nach der Oberschule nur einfache Arbeiter, aber wir werden doch unser späteres Schicksal nicht vorwegnehmen! Wir zeigen uns hier von unserer besten Seite“, heißt es im Roman. In einer Retrospektive spricht er weitsichtig aus, was man sich selber immer wieder vor Augen halten sollte:

Das Beste aus der Situation machen, in der man sich befindet. Das erschien mir realistisch. Ich verbannte den Pessimismus aus meinen Leben. Ich hatte erlebt, wie gefährlich es sein konnte, sich einer düsteren Sicht auf die Welt hinzugeben, sich selbst aufzugeben und ich wusste, dass die Menschen mit zunehmenden Alter oft an Zuversicht verlieren, sich nur noch Sorgen machen und die Dinge für schwieriger halten, als sie sind.

Als Ikal die Schule beendet hat, reist er auf einem Viehtransporter in die Hauptstadt Jakarta, um sich für Stipendien zu bewerben – er möchte in Europa Wirtschaftswissenschaften studieren. Trotz zahlreicher Absagen und einem Leben im Moloch gibt Ikal seinen Traum nicht auf. Eines Tages, nach langem Warten, erhalten er und sein bester Freund aus der Schule tatsächlich die Zusage für ein Stipendium, um in Paris an der renommierten Sorbonne zu studieren. Ihr sehnlichster Traum ist wahr geworden. Viele Unwägbarkeiten mussten bis hierhin ausgeräumt werden, doch jetzt zahlt sich alles Warten und Weiterkämpfen aus.

Doch nicht nur wird ein Traum wahr, Protagonist und Ich-Erzähler Ikal erfüllt auch ein Versprechen: In der Grundschule versicherte er seiner engagierten, ehrenamtlich unterrichtenden Lehrerin, die sich den Lebensunterhalt abends mit Nähaufgaben verdiente, dass er eines Tages ein Buch über die Regenbogentruppe – den Namen für die Schulklasse – schreiben wird. Die Regenbogentruppe erschien auf Indonesisch 2005 und wurde mittlerweile in 25 Sprachen übersetzt. Der Träumer ist die Fortsetzung um den Helden Ikal und erschien kürzlich auf Deutsch.

Es ist für die meisten Leser vermutlich eine völlig fremde Welt, die Andrea Hirata in seinem neuen Roman beschreibt. Aber es gelingt ihm stets, den Leser mitzunehmen, sodass er die Welt aus Ikals Perspektive wahrnehmen kann. Durch das Lesen dieses Romans bekommt man eine neue Perspektive vermittelt, die sehr bereichernd ist. Der Roman klingt durch die immer wieder geschehenden Wunder klingt wie ein modernes Märchen. Das geschickt gestaltete, offene Ende steigert die Erwartung auf die Fortsetzung.

Titelbild

Andrea Hirata: Der Träumer. Roman.
Übersetzt aus dem Indonesischen von Peter Starnagel.
Hanser Berlin, Berlin 2015.
223 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247918

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