Ein kleine, subjektive Literaturgeschichte

Daniel Kehlmanns Frankfurter Vorlesungen „Kommt, Geister“ als Abrechnung mit der Vergangenheit

Von Yun-Chu ChoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yun-Chu Cho

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der ersten Dozentur von Ingeborg Bachmann 1959 geht es in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main um die Frage der poetischen Produktion. Im Sommersemester 2014 setzte nun Daniel Kehlmann mit seinen Vorlesungen diese Tradition fort. Die fünf Vorlesungen sind im März 2015 als kleiner Sammelband unter dem Titel „Kommt, Geister“ im Rowohlt Verlag erschienen.

Spätestens seit dem phänomenalen Werk „Die Vermessung der Welt“ (2005) kennt man das literarische Wunderkind Kehlmann. Dessen letztes Werk „F“ landete zwar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2013, wurde dennoch von Kritikern unter anderem als „Firlefanz“ bemängelt. Was darf nun der Leser von einer Poetik-Dozentur eines solchen Schriftstellers erwarten? „Kommt, Geister“ – mit diesem Zitat aus Shakespeares „Macbeth“ ruft Daniel Kehlmann all jene Geister herbei, die ihn geprägt haben. Es geht um Geister der Nachkriegszeit, aus der Literatur, und nachhallende Geister der Geschichte, die selbst in einem polemischen Text von Günter Grass noch präsent sind.

Die erste Vorlesung „Illyrien“ ist die stärkste Komposition seiner fünf Vorträge. Mit einer Anekdote über ein Treffen mit seinen amerikanischen Freunden, die sich über den moralischen Unterton von Günter Grass in seinem Israel-Gedicht mokieren, wird das deutsche Gespenst der Vergangenheit, der Nationalsozialismus und der Umgang mit ihm, eingeführt. Hauptthema ist die Verdrängung der Thematisierung des Nationalsozialismus in der deutschen Nachkriegskultur. Die Kritik an dem Deutschen, exemplarisch an Günter Grass, lautet, er lege einen allzu moralischen Habitus an den Tag, möchte zu politisch sein. Kehlmann kontert, indem er dem zu sehr politisierenden Literaten Ausschnitte aus Peter Alexander-Filmen gegenüberstellt: In der deutschen Nachkriegszeit gab es in den 1950er-Jahren auch eine Haltung, die für Kehlmann anhand des Schauspielers Peter Alexander verkörpert wird, in dessen Filmen jegliche historische Vergangenheit vertuscht und stattdessen eine heile Welt vorgespielt wird. Der Zweite Weltkrieg wird in dieser Art Nachkriegskunst freilich nicht thematisiert. Kehlmann veranschaulicht in seinem Text, wie wichtig demgegenüber die moralisierende Haltung von Personen wie Grass war.

Das Gespenstische der Peter Alexander-„Schmonzetten“, wie Kehlmann es beschreibt, liegt in der falschen Authentizität, die in den Filmen vermittelt werden. Die Geisterwelt der historischen Schatten und Echos eröffnet sich Kehlmann zufolge erst, wenn man auf die Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg achtet: So wie der Hoteldirektor, der mit dem Kosenamen Adi gerufen wird und den Namen „Adolf“ in seinem Namen nicht verleugnen kann. Auch die pensionierten Generäle, die vermehrt in Peter Alexander-Filmen auftreten, tun dies im militärischen Habitus alter Gewohnheiten, die den Alt-Nazi erahnen lassen. Die Amerikaner, die zuvor den moralischen Ton von Grass verspotten, denen dann die zum „Film gewordene Verdrängung“ anhand von Peter Alexander-Filmen gezeigt werden, verstummen. Man einigt sich darauf, dass man Grass dankbar sein kann. Reden ist immer besser als Beschweigen, so scheint die Botschaft von Kehlmann zu lauten.

Hierbei reflektiert er auch über Ingeborg Bachmann, die 1959 die Frankfurter Poetik-Vorlesungen hielt, als eine Figur, die den positiven Gegenpol zu Peter Alexander darstellt. Das Schweigen von Opfern und Tätern beziehungsweise das Zum-Schweigen-Bringen der Opfer des Zweiten Weltkriegs, das Bachmann laut Kehlmann in einer ihrer Kurzgeschichten thematisiert, wird von ihm hervorgehoben. Der Autor stellt in den Vordergrund, wie wichtig moralische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit sind, indem er Bachmann als Paradebeispiel nennt. Die Verdrängung historischer Schuld am Beispiel von Peter Alexander steht somit dem Aufklärungsanspruch Bachmanns gegenüber.

Mit dem Jahr 1959 verknüpft Kehlmann drei Namen, die vermeintlich nichts gemein haben: Ingeborg Bachmann, die Schriftstellerin, Fritz Bauer, der Generalstaatsanwalt, der maßgeblich die Frankfurter Auschwitzprozesse initiierte, und Peter Alexander, der bekannte Volksschauspieler. Bachmann hatte zeitlebens mit dem Konflikt zu kämpfen, dass ihr liebevoller Vater ein überzeugtes NSDAP-Mitglied war; Kehlmann stellt ihre Theorie der Subjektivität in den Mittelpunkt. Fritz Bauer stand zuweilen in harscher Kritik, ins Ausland emigriert zu sein, anstatt aktiv im Land gegen den Nationalsozialismus gekämpft zu haben, und Peter Alexander spielt in seinen Filmen eine idyllische Heimat vor, die jedoch unterschwellig Reste des Nationalsozialismus beschwören. Hierin offenbart sich für Kehlmann das Moment des Gruselns. Überhaupt scheint das unheimlichste für ihn das Deutschland der Nachkriegszeit zu sein.

Somit liest Kehlmann jene „Geister“ der deutschen Geschichte heraus, die gespenstisch wirken. „Vergessen ist eine anstrengende Übung“ heißt es, Verdrängung ist harte Arbeit. Er zitiert dabei Theodor W. Adorno aus einer seiner Poetikvorlesungen von 1959: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit.“ Kehlmann vermisst bis heute einen Roman, der von Tätern und Opfern zugleich geschrieben wird, und kommt zum Schluss, dass die gesamte Nachkriegsliteratur diesen einen Roman ersetzt, in dem, „was sie behandelt“, und „worüber sie schweigt“.

Sprachlich befindet sich Kehlmanns Verknüpfung dieser Menschen und Ereignisse auf höchstem Niveau. Die Vorlesung endet mit dem Georg Kreisler-Lied „Weg zur Arbeit“ und erinnert daran, dass die meisten Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg ungeschoren davonkamen. Man kann die Stille, die am Ende der Vorlesung geherrscht haben soll, förmlich spüren. In der Nachkriegszeit steht die Inauthentizität derjenigen, die nicht sprechen wollen, der Realität der historischen Fakten gegenüber. Jedoch ist der poetische Realismus für Kehlmann unzureichend, nicht zufriedenstellend. Ein Echo darauf sind seine Texte: Kehlmann taucht lieber in die Welt der Fantasie ab. Die Sphären der Fantasie – sei es J.R.R. Tolkien, William Shakespeare oder gar Leo Perutz – haben Kehlmann stark beeinflusst. Somit denkt er in den folgenden Vorlesungen die Thematik der „Geister“ weiter, indem er die Gespenster seiner Kindheit in Erinnerung ruft. Auf die Einstiegsvorlesung „Illyrien“ folgen „Elben, Spinnen, Schicksalsschwestern“, „Robin Goodfellows Reise um die Erde in vierzig Minuten“, „Teutsche Sorgen oder die Entdeckung der Stimme“, und abschließend „Unvollständigkeit“.

Kehlmanns Geister kann man somit etwa bei Vladimir Nabokov, W.G. Sebald, Jorge Louis Borges, Jeremias Gotthelf, Georg Kreisler, und Stephen King finden. Wenn Kehlmann die albtrauminduzierten Folgen seiner Lektüre der „Schwarzen Spinne“ von Gotthelf beschreibt, so steht die Spinne für „alles und nichts, etwas, was es nicht geben sollte, und doch gibt“ – es scheint wie ein Fingerzeig auf die Nazivergangenheit der Deutschen. Gotthelfs Spinne steht für die Geschichte: „Wer sie berührt, leidet Qualen. […] Und doch muss man sie berühren, und koste es das Leben.“ Anhand von Fantasie und Mythologie versucht sich Kehlmann ein Konstrukt zu schaffen, um zu erklären, dass nach einem großen Kampf der Alltag einkehrt. Gespenster, so Kehlmann, entstehen durch dem Umstand, dass man sich davor fürchtet, überhaupt eine Vergangenheit zu haben. Es ist ein Aufruf zur Auseinandersetzung mit der Geschichte.

Der Großteil des Bandes konstituiert eine Nacherzählung seiner liebsten Kinderbücher und Werke, die ihn im Laufe des Lebens geprägt haben. Leider entwickeln sich hieraus jedoch schwächere Gedankengänge gegenüber der herausragenden ersten Sitzung. Für Kehlmann-Fans mag es eine interessante Lektüre sein, bekommt man doch einen Einblick in die Lesegewohnheiten des Autors. Für Lesebegeisterte bietet er allerdings kaum neues Material: Der Stoff, der ihn geprägt hat, ist allgemein bekannt, somit hätte er ganze Passagen, die nicht mehr sind als Nacherzählungen oder Inhaltsangaben, gänzlich streichen können.

Seine eigenen Werke erwähnt Kehlmann kein einziges Mal, doch in jeder seiner Sitzungen erzählt er subtil eigentlich nur genau davon – und er kündigt es auch gleich zu Anfang in seiner ersten Vorlesung an, indem er die Theorie des Subjekts nach Ingeborg Bachman zitiert: „am unverhülltesten spreche von sich, wer von ganz anderem zu sprechen scheine“ – er geht zwar dem „Ich“ größtenteils aus dem Weg, beschreibt aber unentwegt dieses „Ich“ und folglich seine Werke.

So erfährt man auf den ersten Blick zwar nicht sonderlich viel über Daniel Kehlmanns Leben oder Person, dem geübten Leser sollte jedoch nicht schwerfallen, seinen Duktus herauszulesen und vereinzelt auch einen Hauch Überheblichkeit, wenn er Jerry Bruckheimer-Filme als „schlecht“ bezeichnet oder Peter Alexander-Filme in den Abgrund des Schlechten ziehen möchte. Letztendlich ist es eine subjektive Rekapitulation seiner Vergangenheit und der Werke, die ihn geprägt haben. Er zeigt, dass er sich in der Literaturgeschichte auskennt, indem er nach dem Muster der „Geister“ stichprobenartig Werke heraussucht und analysiert.

Wer Horrorgeschichten der klassischen Art erwartet hat, wird in diesem Band nicht fündig werden. In den fünf Poetikvorlesungen, die er im Sommersemester 2014 hielt, bewegt er sich thematisch um die historische Schuld und den Umgang mit der deutschen Vergangenheit in dem damit verbundenen soziokulturellen Umfeld. Es geht also nicht weniger um die Frage, wie man mit den „Verbrechen und der Grausamkeit“ umgeht, die der „menschlichen Zivilisation“ zugrunde liegen. „Gespenstergeschichten“ sind ein Medium hierfür.

Leider wird die brillante Rhetorik vom Anfang in „Kommt, Geister“ nicht über den ganzen Text durchgehalten. Im Folgenden verliert sich der Text oft in reine Nacherzählungen bekannter Geschichten. Trotz dieser deskriptiven Mängel glänzt der kleine Band vor allem durch die herausragende Leistung im ersten Textteil und lädt zu spannenden neuen Lesarten ein. Am Ende entsteht eine kleine, subjektive Literaturgeschichte, die mittels zahlreicher poetologischer Vergleiche eine interessante Lektüre ergibt. Die Art, wie er Ideen-Fragmente aneinanderreiht und manchmal bereits allgemein Bekanntes erzählt, um seine Gedankengänge zu untermalen, muss man allerdings mögen.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Kommt, Geister. Frankfurter Vorlesungen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
175 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035709

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