Fiktionale Filme verstehen

Über Jonas Kochs interdisziplinäre Untersuchung

Von Sascha Ulrich-MichenfelderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Ulrich-Michenfelder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonas Koch klärt in seinem Band „Erklären und Verstehen fiktionaler Filme“, wie diese auf den Rezipienten wirken, kognitiv verarbeitet und damit rezipiert und letztlich auch interpretiert werden. Dabei sind die aufgegriffenen Fragen keineswegs einfach zu beantworten. Wie bereits der Untertitel Semantische und ontologische Aspekte andeutet, legt der Autor eine disziplinübergreifende Untersuchung vor.

Der theoretische Rahmen dieser Studie ist zweifelsohne eindrucksvoll. Beginnend beim russischen Formalismus erfolgt eine außerordentlich versierte Untersuchung entlang sprachlicher und filmischer Fiktionstheorien, die letztlich in eine detaillierte, themenbezogene Analyse von Alfred Hitchcocks Psycho münden. Die Definitionen werden vom Autor eingangs sehr sorgsam dargestellt und ermöglichen es dem Leser, den Ausführungen induktiv zu folgen. Gerade die Annäherung an den filmischen Gehalt, der als Summe verdichtet-filmischer Repräsentationen erklärt wird, kann den didaktisch interessierten Leser überzeugen. Schließlich wird damit impliziert, dass jeder Film – frei nach Wolfgang Klafki – einen (Bildungs-)Gehalt aufweist, deren filmische Repräsentationen analysiert werden können. Allein schon diese Vorstellung macht die Überlegung eines klassischen Filmkanons im Schulunterricht obsolet und ermöglicht die Suche nach diesen verdichteten Repräsentationen im Unterricht. Gleichwohl verfolgt Jonas Koch mit seinem Band keine primär didaktischen Ziele, sondern stellt heraus, dass die Elemente eines fiktionalen Films von vielfältigen Erklärungsmöglichkeiten abhängen.

Repräsentativ sind in diesem Zusammenhang Kochs Ausführungen zur sprachlichen Fiktion. Detaillierter als eine filmwissenschaftliche Studie zunächst vermuten lässt, widmet sich der Autor dieser und weiteren Theorien zur sprachlichen Repräsentation sowie zu Propositionen und Implikaturen. Das Fazit dieses theoretischen Kapitels lautet, dass jede Form der sprachlichen Fiktion von außen angestoßen wird, gerade weil Fiktion kein einfaches Fantasiespiel, sondern eine gezielte Auseinandersetzung mit einer sprachlichen Situation ist. Diese Erkenntnis wird im sich anschließenden Kapitel zur filmischen Fiktion erweitert und an konkreten Beispielen anschaulich erläutert. Hieraus werden fiktionale Erklärungsmuster abgeleitet, welche die theoretischen Überlegungen aus Linguistik und Filmwissenschaft bündeln. In diesem Kontext wird der in der Filmwissenschaft umfangreich diskutierte Begriff der Motivierung zunächst aus historischer Sicht betrachtet und daran anknüpfend eigenständig erläutert. Anschließend werden verschiedene Motivierungsarten abgeleitet, die als Analyseraster für die Auseinandersetzung mit Hitchcocks Psycho fungieren.

Kochs induktives Vorgehen ist sehr lobenswert, denn es führt den Leser durch die theoretischen Ausführungen an die Exemplarität der Filmanalyse heran. Er argumentiert von Paul Grice bis Juri Lotman, von Ansgar Nünning bis Matías Martínez und von Johann Wolfgang von Goethe bis Christian Morgenstern – die Fülle der dargestellten Theoreme, die zugleich kritisch rezipiert werden, ist schlichtweg eindrucksvoll. Überzeugend ist zudem die besondere Dichte und Präzision, mit welcher der Autor sich den Fiktionstheorien nähert. Der theoretische Abschnitt dieses Bandes ist eine gelungene interdisziplinäre Zusammenstellung, die in einem gekonnt beherrschten Montageverfahren inhaltlich verbunden ist.

Positiv zu nennen sind neben der akkuraten Darstellung und der eigenständigen Erweiterung der Fiktionstheorien auch die materielle Ausführung dieses Bandes sowie die Anhänge (bestehend aus Film- und Literaturverzeichnis sowie Indizes), die abermals verdeutlichen, welche große Sorgfalt in die Bearbeitung dieser Thematik eingeflossen ist.

Gleichwohl – man mag es erahnen – eignet sich der Band nicht für einen Einstieg in die filmischen Fiktionstheorien. Vielmehr richtet er sich an Leser mit hinreichenden Kenntnissen der Wissenschafts- und Mediengeschichte, der Literatur- und Filmtheorie sowie der Linguistik. Trotzdem ist die Studie von Koch aufgrund seiner außerordentlichen dichten Ausführungen und seiner Sorgsamkeit im Umgang mit verschiedenen Theoremen äußerst empfehlenswert. Anschlussstudien bieten sich beispielsweise im Bereich der Mediengeographie zum Thema filmische Repräsentationen an und lassen durchaus auch didaktische Bezüge zu. Als theoretische Grundlage für weitere filmwissenschaftliche Studien zur Fiktionsforschung eignet sich Kochs Band ausgezeichnet.

Titelbild

Jonas Koch: Erklären und Verstehen fiktionaler Filme. Semantische und ontologische Aspekte.
mentis Verlag, Münster 2015.
241 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783897859920

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