„Ich und Du, Müllers Kuh und der Esel, der bist Du“

Marion Poschmanns dritte Poetikvorlesung „Das Ich und die Deutungshoheit: Sonnenkönig und versprengtes Wir“

Von La-Yen LangerRSS-Newsfeed neuer Artikel von La-Yen Langer und Franziska HoffmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Hoffmann

Von Sätzen, die stets wahr und gleichzeitig nie wahr sind, von einem Ich, das in einer Glühbirne sitzt und sich entzieht, von einem Stein, der als Person behandelt und zum Wir wird: Das Ich und die Deutungshoheit: Sonnenkönig und versprengtes Wir ist die dritte Poetikvorlesung der Autorin Marion Poschmann im Rahmen des poet in residence der Universität Duisburg-Essen.

Unter dem Titel „Informationen” eröffnet die Autorin mit einem Zitat aus Samuel Becketts Roman Der Namenlose die Vorlesung: „Entfaltung des Ich in Raum und Zeit”: „Wo nun? Wann nun? Wer nun? Ohne es mich zu fragen. Ich sagen. Ohne es zu glauben.” In diesem Zitat ist laut Poschmann alles über Literatur gesagt. Wo? Wann? Wer? Der Raum, die Zeit, das Ich. Fragen, die der Leser an den Autor richtet. Fragen, die der Autor vorgibt, beantworten zu können. Diese narrativen Setzungen müssen mit Schwung und Konsequenz festgelegt werden, entscheiden sie doch über Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit. Die Erzählinstanz sei das Rückgrat eines Textes und mithin für das Funktionieren oder Nichtfunktionieren des Textes verantwortlich.

Die Autorin selbst verwendet ausschließlich den schwer zu entwerfenden Ich-Erzähler in ihren Romanen, denn diese Erzählfigur schöpfe das vollständige Potential der Literatur aus und unterstreiche die Einzigartigkeit des Romans als Kunstform, die das „Hineinsehen“ in eine andere Person gestatte. Die Ich-Figur umfasse den größten Radius, der einer literarischen Figur zugeschrieben werden könne, indem diese ihre scheinbar eingeschränkte Ich-Perspektive ausdehnen und zersprengen könne. Jede Perspektive lasse sich letztlich auf ein erzählendes Ich zurückführen – ob dies nun innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt angesiedelt ist. Das spannende an der Ich-Figur ist für Poschmann, dass sie ihren Standort beziehungsweise ihren Blickpunkt verschieben und sogar springen lassen könne. So hat die Autorin in ihrem Roman Die Sonnenposition (2013) z. B. eine Szene gestaltet, die aus der Sicht einer Glühbirne geschrieben ist. Der Modus der Ding-Erzählung ermöglicht es dem Autor, die Perspektive des Protagonisten zu verlassen und Gegenständen eine Stimme zu verleihen, denen zuvor keine Beachtung geschenkt wurde. Somit wird der Fokus des Lesers ganz gezielt auf kleine, vorher unscheinbare Gegenstände und Bewegungen gelenkt. Im Sinnabschnitt „Position” behandelt Poschmann die Geschlechterthematik. Zunächst erläutert sie sachlich die Differenzen der weiblichen und männlichen Rolle in der Literatur, anschließend geht sie etwas emotionaler auf die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung männlicher und weiblicher Autorschaft ein. So würde eine weibliche Autorin nie im gleichen Umfang Anerkennung für ihr Werk erfahren wie ein männlicher Autor. ‚Gefühl’ werde bei letzterem als ¸sensibel’ geschätzt, bei ersterer hingegen als ¸hysterisch’ abgetan.

Für Poschmann selbst steht eine Differenzierung des grammatischen Geschlechts nicht zur Debatte; sie kämpfe nicht für neue Sprachregelungen, die Frauen stärker kenntlich machen, sondern halte sich an die althergebrachte Ausdrucksweise, bei der die männliche Form als neutral gelte und die weibliche miteinbezogen werde. Die Autorin merkt an, dass sie in ihren älteren Prosawerken zunächst eine weibliche Erzählfigur verwendet habe, was jedoch zur Folge hatte, dass die Rezipienten dazu neigten, sie mit ihr, der Autorin, zu identifizieren. In der Hundenovelle (2008) bleibt das Ich daher weitgehend geschlechtslos; nur an einer einzigen Stelle wird die Weiblichkeit der Erzählfigur erwähnt. In Die Sonnenpostion hingegenverwendet Poschmann erstmals einen männlichen Ich-Erzähler. Dass sie als Schriftstellerin aus einer fiktiven männlichen Perspektive schreibt, sei bei ihren Lesern auf Unverständnis gestoßen, aber: „Das Geschlecht ist nicht der Punkt, an dem ich mich aufreiben möchte, denn ich halte es […] im Hinblick auf die Kunst für nicht so wichtig. Es ist, wie die Geschlechtsumwandlungen zeigen, veränderlich. Es ist etwas Äußerliches; es ist etwas, von dem sich auch absehen lässt.” Ob Poschmann mit dieser Herangehensweise eine Entschärfung der anhaltenden Genderdebatten gelingt, ist jedoch fraglich.

In der Lyrik hingegen empfindet Poschmann die Verwendung einer Ich-Instanz als unproblematischer, da diese kaum geschlechtlich determiniert und besetzt sei. In ihren Gedichten nehme das Ich eine neutrale Position ein, sodass sich nun aus der Richtung eines unbestimmten Subjekts die Gedanken bilden können. Das Ich in der Lyrik sei nicht als einzelne Person konstruiert, es entspreche vielmehr einem Wir. Gemeint ist jedoch nicht ein Wir in seiner eigentlichen Verwendung, sondern in einer abstrakten Form, die verschiedene Instanzen darstellen könne und somit mehr einem Raum als einem Körper entspreche, der viele und vor allem unterschiedliche Standpunkte einnehmen könne. Ihre Lyrik erhalte durch diese gestreute Perspektive etwas Vages und Undurchsichtiges. Das Ich entziehe sich.

Dieses Ich sei in der Literatur weder Gegenstand noch Mittel, sondern ein Zweck. Poschmann verweist mit dieser These nicht nur auf Kant, sondern schreibt dem Ich auch eine gewisse Transzendenz zu. Seine Gestalt erhalte der Ich-Erzähler allein durch seine individuelle Erzählung. Durch die Art, wie er spricht, vielleicht auch mehr als durch das, was er sagt. So habe der Ich-Erzähler eine doppelte Funktion: Er moderiert nicht nur, er erschafft sich gewissermaßen selbst, wenn er spricht. „Dadurch haftet ihm von vornherein etwas Zwiespältiges an: Wie kompakt, wie verlässlich kann eine Figur sein, die sich permanent selbst zu erfinden scheint?” Der Erzähler verfüge über eine gleichsam ‚auktoriale’ Macht, er besäße demnach die „Deutungshoheit”.

In ihrem aktuellen Roman Die Sonnenposition liegt diese „Deutungshoheit” bei dem Erzähler Altfried Janich, in dessen Nähe sich alle anderen Figuren sonnen. Die Sonnenkönig-Thematik bildet für Poschmann die Folie, vor deren Hintergrund sie den männlichen Ich-Erzähler modelliere. Doch unterscheidet sich das Ich des Romans maßgeblich von dem historischen Sonnenkönig Ludwig XIV, wie Poschmann in ihrer Vorlesung anhand von Abbildungen des Monarchen deutlich macht. Altfried empfinde kein Interesse an Macht, sei im Gegenteil ein Schattenwesen an einem „ortlosen Ort”. Ebenso wie das Ich sei auch die Sonne nicht eindeutig lokalisierbar, denn auch hier müsse zwischen wahrnehmbarer und tatsächlicher Position unterschieden werden.

Wie bereits in den vorherigen Vorlesungen greift Poschmann zum Ende dieses Vortrags erneut das Stein-Motiv auf, diesmal in Form von japanischen Steinen. Die Autorin erklärt, dass die Steine Energien leiten sollen. Sie werden außerdem von den Besuchern der japanischen Stein-Gärten als reale Person betrachtet, und daher auch teilweise gestreichelt, mit Spielzeug beschenkt und sogar angebetet.

Die Steine lassen sich nicht auf einen Blick erfassen, sie sind unscheinbar und schlicht – ihre Anordnung wirkt zufällig, regellos. Dennoch gilt diese Setzung als ultimatives Kunstwerk mit einer enormen Ausstrahlung. Anhand der Stein-Metapher soll die Komplexität des Ich verdeutlicht werden. Die Abbildungen verschiedener Steine beziehen sich jedoch nicht nur auf die zuvor erarbeiteten Themen, sie dienen auch als Signal, welches das Ende der jeweiligen Vorträge einläutet.

Die Autorin verdeutlicht im Zusammenhang mit den gezeigten Bildern und Fotos ihre umfangreiche Arbeit, bei der nur wenig dem Zufall überlassen wird. Was Poschmann auch in den vorherigen Lesungen gezeigt hat, ist vor allem eines: Das, was am Ende ihre Gedichte und Romane ausmacht, mag zwar einem Traum entsprungen sein, aber die jeweilige Umsetzung bedarf umfangreicher Recherche und kompositorischer Arbeit, geleitet von einem akribisch ausgeführten Konzept. Ein solches hat sie auch für die Poetikvorlesung erarbeitet. Steine, Hunde, Glühbirnen und Sonnenkönige werden zu Personen; und die poetische Kraft der Autorin stellt auch in ihrer Vorlesung einen Schwebezustand her, in dem es viel zu entdecken und erfahren gibt.

Von Marie-Luise Eberhardt, Franziska Hoffmann, La-Yen Langer und Cansu Sahan

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen