Den Faden weiterspinnen

Beiträge zum 100. Geburtstag von Christine Lavant

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was können wir tun, damit wir nicht dem Vergessen anheimfallen? – Die österreichische Dichterin Christine Lavant hat mit der Metapher von der Herzspindel eine schöne Formel gefunden, die einem so Fragenden vielleicht eine Lösung anbieten kann. Ein kurzes, zehnzeiliges Gedicht aus dem Band Der Pfauenschrei von 1962 hebt mit der Aufforderung an: „Drehe die Herzspindel weiter für mich“. Das kann man auch so verstehen: Solange unser Herz schlägt, sind wir physisch „am Leben“, können auf der Erde wandeln und für uns selbst sorgen. Wenn wir aber  sterben, dann müssen wir darauf setzen, dass man unser gedenkt, dass andere für uns den Faden der Erinnerung weben.

Zum 100. Geburtstag der Dichterin, den wir dieses Jahr begehen, ist ein Band mit Texten von 27 zeitgenössischen Autoren (darunter 15 Frauen) erschienen, die Christine Lavants Aufruf gefolgt sind. Nur eines ist ihnen allen gemeinsam: dass sie die Herzspindel weiter drehen. Ansonsten aber nehmen die Huldigungen an die Dichterin ganz unterschiedlichen Formen an. Wir finden hier von Lavants Werk inspirierte Gedichte, aber auch Variationen darauf, des Weiteren Kommentare zum lyrischen Schaffen und zur Prosa der Dichterin und schließlich Interpretationen einzelner Texte oder des Gesamtwerks.

Der Reiz des Bandes liegt besonders in dieser Vielfalt der Beiträge, im breiten Spektrum der von den Autoren gewählten Gattungen, sprachlichen Registern und Zugängen. Freilich verlangt dies dem Leser auch ab, dass er bei der Lektüre das Objektiv der Wahrnehmung ständig neu justieren muss. Klassisches steht hier neben Experimentellem, Transparentes neben Hermetischem. Es dürfte kaum jemanden geben, dem alle Texte in derselben Weise interessant und gelungen vorkommen werden. Was die literarischen Beiträge und darunter besonders die von Lavant und ihrem Werk angeregten Gedichte angeht, so mag der eine oder andere nur schwer zugänglich sein. Bei den eher interpretierenden und literaturwissenschaftlichen Ansätzen wiederum sind nicht alle gleichermaßen elaboriert: Einige verharren im Ungefähren, im Impressionistischen, andere sind hingegen präzise und konzis formuliert.

Im Folgenden sollen stellvertretend einige der Lavant-Lektüren aus dem Band erwähnt werden, die besonders zu überzeugen vermögen. So imaginiert sich beispielsweise Friederike Mayröcker in ihrer gewohnt eigenwilligen Sprache ein „Selfie der Christine Lavant“. Darin lässt sie Christine Thonhauser – wie Lavant mit bürgerlichem Namen hieß – eine knappe, aber aufschlussreiche Selbstauskunft geben, die von einer profunden Lektüre von Lavants Werk zeugt. Anders geht Maja Haderlap – eine Landsfrau der Kärntner Dichterin – vor: Ihr Gedicht „unter dem hundsstern“ lässt sich als eine Art Initiationsszene der Dichterin lesen. Haderlap denkt sich aus, wie Christine Lavant gleichsam zum Dichten berufen wird, wie ihr die Gabe des Wortes verliehen wird:

nicht gottverlassen, denn gott stand
am gartenzaun, als man ihn anderswo
vermutete. nicht verrückt, auch wenn
das mädchen sah, wie der mann
die gestirne musterte und eine zigarette
rauchte. du musst gar nichts glauben,
diesen satz legte er in ihre gedanken,
ohne sich umzudrehen. er werde sich
unter die südlichen berge zum schlafen
legen wie ein hund vor sein herrenhaus,
erklärte der nächtliche gast und ging
quer über das feld. im wortfieber liegend
fand man das mädchen, kontaminiert
mit abwesenheit. ihre augen zogen den
mond als blasse worthülse an den tag
und die gräser tasteten aus dem dunkel
nach ihr. himmel und erde lasteten schwer
auf der zunge. es roch nach schnee.

Maja Haderlap nimmt hier Wortschatz und Metaphorik von Lavants Texten auf und denkt diese noch ein Stück weiter. So findet sich der Hundsstern bereits bei Lavant, und der formelhafte Schluss „es roch nach schnee“ ist von einem Gedicht Lavants inspiriert, das mit der Zeile „Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt“ beginnt. Gleichzeitig spielt Haderlap aber auch auf die literaturwissenschaftlichen Diskurse über Lavant an, wenn sie das Stereotyp von der „gottverlassenen“ Dichterin hier quasi umstößt.

Teresa Präauer hat sich von demselben Gedicht Christine Lavants anregen lassen und bietet in einem knappen, sehr lesenswerten und zugänglichen Beitrag mit dem Titel „Es riecht nach Schnee“ eine Interpretation davon an, eine Art „close reading“, das eng am Gedicht entlang verläuft. Anderes wiederum hat sich Kathrin Schmidt vorgenommen: In einen Text, der im Grunde genommen von ihrer eigenen Biografie handelt, flicht sie der Reihe nach alle Wörter eines lavantschen Gedichts ein. Damit diese erkennbar bleiben, setzt Schmidt sie in Großbuchstaben. Auch dieser Beitrag ist eine gelungene und zugleich sympathische Hommage an die Dichterin. Er deutet an, dass Christine Lavants Werk gewissermaßen in Kathrin Schmidts Leben aufgegangen ist.

Einige Autoren wie Raphael Urweider oder Andreas Altmann ließen sich gleich zu ganzen Gedichtzyklen verleiten, während Uljana Wolf nach der Übertragbarkeit von Lavants Gedichten ins Englische fragt. Die meisten Beiträge des Bandes widmen sich dem lyrischen Werk Lavants, doch wird dabei auch ihre Prosa nicht ganz vergessen. Damit wird zugleich und beinahe nebenbei an ein wichtiges Faktum der Rezeptionsgeschichte der Autorin erinnert: Galt die Lyrikerin Lavant lange Zeit als Geheimtipp, so kann man heute annehmen, dass sie ihren Platz im Pantheon der deutschsprachigen Dichter (wieder-)gefunden hat. Noch nicht so weit gediehen ist hingegen die Rezeption des erzählerischen Werks, die erst in den Anfängen steckt.

Der Band Drehe die Herzspindel weiter für mich ist eine lesenswerte und würdige Ehrung der Dichterin anlässlich ihres 100. Geburtstags. Er ermöglicht auch den Einstieg in Biografie und Werk der Dichterin, zumal im Band zehn Gedichte von Christine Lavant selbst abgedruckt werden. Das Lavant-Jahr ist noch nicht zu Ende: Der Wallstein Verlag gibt gegenwärtig eine vierbändige Gesamtausgabe von Christine Lavants Werk heraus. Vergangenes Jahr sind bereits die Zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte erschienen; im November sollen die Zu Lebzeiten veröffentlichen Erzählungen folgen. Wir Leser sind also auch in Zukunft eingeladen, die Herzspindel weiter zu drehen.

Titelbild

Klaus Amann / Fabjan Hafner / Doris Moser (Hg.): Drehe die Herzspindel weiter für mich. Christine Lavant zum 100.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
183 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316522

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