Passagen in die Gegenwartsliteratur

Heribert Tommek setzt auf Struktur statt Ereignis und beackert ein weites Feld

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf eines konnte man sich beim „Literarischen Quartett“ verlassen. Die Sendezeit wurde immer strikt eingehalten: Nach 90 Minuten Streitgespräch über fünf Bücher fiel pünktlich der Vorhang. Marcel Reich-Ranicki, dem Erfinder dieser Fernsehsendung, diente eine abwärts zählende Digitaluhr auf dem Boden zur Orientierung. Als die Uhr einmal, im Schloss Schönbrunn, versehentlich aufwärts zählte, war Reich-Ranicki nicht amüsiert. Techniker robbten ins Bild, um das Gerät zu reparieren. Ein andermal, beim gleichen Problem im Münchner Literaturhaus, hielten ihm Techniker ein Pappschild entgegen, auf dem ganz groß stand: „Noch“. Und klein darunter: „10 Minuten“.

Die Technik war ein willkommener Störenfried in dieser wohl erfolgreichsten Literatursendung im Fernsehformat. Sie zeigte dem Zuschauer, wie anwesend das Medium hier beim Gespräch über abwesende Bücher und ebenso abwesende Autoren war. Mit guter Unterhaltung machte das Medium die Botschaft. Das „Quartett“ hatte gute Quoten und wirkte sich erfolgreich auf den Buchmarkt aus. Nahezu alles, was Rang und Namen in der deutschen Gegenwartsliteratur hatte, wurde hier gelobt oder verrissen. Das „Quartett“, das von 1988 bis 2001 auf Sendung ging, war eines der größten Ereignisse der jüngeren Gegenwartsliteratur. Heribert Tommek aber interessiert nicht das Ereignis, sondern die Struktur, nicht das anekdotische Stationendrama, sondern die Gesamtkonzeption für die soziokulturelle Bühne. Nicht, um im Bild des Quartetts zu bleiben, wer die Karten der Gegenwartsliteratur mischt oder verteilt, ist interessant, sondern: wie sie hergestellt werden und wie man mit ihnen gewinnen oder verlieren kann.

Tommek setzt dabei auf die Karte der Feldtheorie. Er schneidet Pierre Bourdieu auf eine kulturwissenschaftliche Betrachtung zu, die theoretische Komplexität mit der Überzeugungskraft luzider Fallstudien verbindet. Das ist ein unbedingter Vorzug. Denn so gewinnen manche Schlagworte der Kulturwissenschaft – etwa Dynamik kulturellen Wandels, Flexibilisierung, Wissensgesellschaft, Habitus oder Autorposition – eine inhaltliche Dichte, die in literaturgeschichtlichen Darstellungen hier und da verloren geht. Lang ist der Weg in die Gegenwartsliteratur, behauptet der Regensburger Literaturwissenschaftler, weil der Zeitraum 1960 bis 2000, von dem die Rede ist, von permanenter Mobilisierung und Modernisierung bestimmt ist. Es geht also um die kulturellen Transformationen der Nachkriegsliteratur. Seine Messinstrumente entnimmt Tommek der Feldtheorie Bourdieus.

Hier können lediglich einige Grundzüge dieser fundamentalen Vorlage für die Gegenwartsliteraturforschung dargestellt werden:

1. Zu den bisherigen Merkmalen der Gegenwartsliteratur – „Wandelbarkeit, Zeitgenossenschaft, Zukunftsorientierung“ (Braun) und „Präsenz und Performanz“ (Jahraus) – treten Pluralisierung und Flexibilisierung im literarischen Feld. Dieser Großsektor wird in drei Bereiche unterteilt: in das eingeschränkte literarische Subfeld der Long- und Steadyseller (die Autoren mit Werkausgaben zu Lebzeiten etwa), in den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich der Bücher mit fünfstelligen Verkaufszahlen (dazu gehören die Werke der Popliteratur und des „Fräuleinwunders“) sowie das Feld der literarischen Massenproduktion (der Bestseller, von „Crazy“ bis „Feuchtgebiete“). Zwischen diesen Formationen gibt es Übergänge: Skandalisierung und Ereignisinszenierung schlagen Brücken von der Breitenliteratur ins Mittelfeld, vom autonomen Subfeld führt die Strategie des wandlungsfähigen „Eigensinns“ in den ökonomischen Mittelbereich. Etwa bei Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge.

2. Der „Nobilitierungssektor“ hat sich verändert. Gemeint ist die Repräsentationsfunktion der Autorposition im Ringen um symbolische und ökonomische Aufmerksamkeit im Medienzeitalter. Was der Autor wert ist, bestimmen Preise, Rezensionen, Verkaufszahlen und wissenschaftliche Resonanz. Neu ist, dass die Exzellenzstellung im literarischen Feld nicht mehr zwischen Elfenbeinturm und Barrikade behauptet wird. Der Autor verankert sein Schreiben vielmehr in ästhetischen (Peter Handke und Botho Strauß), naturwissenschaftlichen (Durs Grünbein und Raoul Schrott), ökonomischen (Ingo Schulze und Daniel Kehlmann) oder quasi-bürgerlichen Strukturen (Uwe Tellkamp, Martin Mosebach). Wenn die Gegenwartsliteratur so gelesen wird, dass sie nicht mehr nur ‚neu‘ ist, sondern vor allem ‚andersartig‘, dann verschiebt sich auch der Avantgarde-Begriff. Der Avantgarde-Autor will mit seinem Werk nicht mehr Epoche machen, sondern sein Material erforschen oder Geschichte schreiben. An der lyrischen Entwicklung von Kling und Grünbein und deren unterschiedlichem Sprach- und Medienverständnis lässt sich das gut veranschaulichen.

3. Es ist in den letzten 10 bis 20 Jahren zu einer Expansion der ästhetisch ambitionierten, aber ambivalenten Unterhaltungsliteratur gekommen, die gutes Handwerk mit höherem Kunstanspruch verbindet und sich nicht scheut, die Tricks beim Schreiben auszustellen. Daniel Kehlmanns erfolgreiches ‚geniales‘ Schreiben, auch in der Literaturkritik, hält dafür als Beispiel her.

4. Die Dynamik im literarischen Feld verschiebt sich von der horizontalen Achse auf eine Vertikale. Gemeint ist damit, dass der Wettstreit zwischen Orthodoxie und Häresie abgelöst wird durch den beständigen Austausch von Hoch- und Populärkultur. Die Tradition schrumpft, der Kanon öffnet sich nach oben und nach unten. Das hat Folgen für die Autorenbilder:

5. Wer sich mit Neuem in der Öffentlichkeit, in Kritik und Wissenschaft bewährt hat, der wird zum Autor und dessen Texte werden zum Werk, im besten Fall mit höheren Weihen („Priester“). Wer den „Avantgardekanal“ ohne diesen Erfolg durchläuft, der bleibt in einer Kulturnische („Prophet“) oder tritt mit populärkultureller Autorität als „Bohèmien“ oder „ethnokultureller Zauberer“ in die Mitte des Marktes. 

Man muss sich auf dieses Begriffsraster, unterstützt mit Abbildungen, einlassen, um dem nicht einfachen Argumentationsgang der Studie zu folgen. Auch an die 2.000 Fußnoten tragen nicht gerade zur flüssigen Lesbarkeit bei. Doch die Feldtheorie zeigt sich so auf der Höhe ihres literarischen Gegenstands. Mag auch manches auf dem langen Weg in diese Gegenwartsliteraturtheorie abhanden gekommen sein (wo ist Walter Kempowskis Erinnerungs- oder Patrick Roths Bibelarchäologie geblieben?) – dieses Buch enthält eine Fülle von Anregungen und ist sattelfester als viele eingängige Gegenwarts-Kapitel in Literaturgeschichten.

Titelbild

Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000.
De Gruyter, Berlin ; München ; Boston, Mass. 2015.
620 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110352702

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