Mein Alzheimer-Ich

In ihrem Tagebuchroman „Einfach unvergesslich“ beschreibt Rowan Coleman fiktive Erinnerungen einer demenzkranken Frau

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rowan Colemans Roman über die Alzheimerkrankheit weicht deutlich von dem ab, was man in diesem Themenkreis erwarten mag. Jenseits von Pflegeheim und Bettpfanne versetzt er sich eher in die bunt schillernde Welt von populären Frauenzeitschriften, die kurzerhand zusammengeht mit den bekannten Szenarien des geistigen Verfalls. Dabei zieht die britische Bestsellerautorin erstaunliche Verbindungen, die das Buch trotz seiner künstlerischen Belanglosigkeit zu einem aufschlussreichen Dokument der Gegenwartskultur machen.

Der internationale Verkaufserfolg des Romans, der in Deutschland auf die Spiegel-Bestsellerliste gelangte, erklärt sich wohl aus einer derzeit allgemein gesteigerten Aufmerksamkeit für das Thema Demenz. Die zahlreichen im Internet aufzufindenden Kunden- und Laienrezensionen sprechen es aus, dass dieser Roman häufig aus persönlicher Betroffenheit heraus gelesen wird. Sei es, dass man mit erkrankten Personen im eigenen Umfeld konfrontiert ist, oder sich selbst vor den berüchtigten Symptomen fürchtet. Solche Furcht dürfte das Buch in besonderer Weise bedienen, da die betroffene Protagonistin Claire gerade einmal 40 Jahre alt ist und ihre „frühmanifeste“ Alzheimererkrankung von der Diagnosestellung sofort ins Endstadium übergeht. Das ist dramaturgisch notwendig, da sämtliche Lebensgeschichten und Beziehungskonstellationen über die Demenz organisiert sind: Durch sie erst schließen sich die Kreise, durch sie erst kommen die Figuren zu sich selbst.

Konzeptionell steht das Tagebuch oder „Erinnerungsbuch“ von Claire im Mittelpunkt, was im Originaltitel The Memory Book noch besser zum Ausdruck kommt. Der Roman setzt sich zusammen aus Einträgen in dieses Buch, wobei alle Mitglieder der Kleinfamilie an den Rückblicken und Gegenwartsschilderungen mitschreiben. Dieses Wechseln der Perspektiven hat allerdings kaum einen Einfluss auf die erzählerische Gestaltung, so dass man oft vergisst, wer gerade an der Reihe ist. Die Leitidee besteht darin, dass Claires Persönlichkeit durch die Krankheit gleichsam schwindet und dabei in jenes Erinnerungsbuch übergeht: „wenn das Buch voll ist, [ist] Mums Kopf leer“ – so die Prognose ihrer 20-jährigen Tochter Caitlin. Es werden sogar zusätzliche Seiten in das Buch gebunden, um Claire noch etwas länger präsent halten zu können. Auch diese bis hinein in das physische Material reichende Bindung der menschlichen Individualität an das Buch wird behauptet, aber kaum erzählerisch umgesetzt.

Stattdessen bietet Coleman ein Rührstück, in dem drei Generationen von Frauen durch die Demenz geradezu erzogen werden. Die Großmutter Ruth hatte Anfang der 1980er-Jahre ihren alzheimerkranken Ehemann pflegen müssen. Dadurch war sie von einem LSD konsumierenden Hippie zur strukturierten, vernünftigen, erwachsenen Frau gereift. Als dann 30 Jahre später auch ihre Tochter Claire erkrankt, weiß sie daher genau, was zu tun ist. Auch die Erkrankte selbst kommt in den für den Leser irritierenden Genuss einer solchen erzieherischen Funktion der Demenz. Hat sie doch die Beziehung zu ihrer eigenen Tochter Caitlin auf eine Lebenslüge aufgebaut: Während der Kindsvater nichts von der Existenz seiner Tochter ahnt, glaubt diese, er habe schlicht kein Interesse an ihr. Dass dadurch massive Probleme in der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Tochter entstehen, erkennt Claire zwar, aber es scheint sie nicht weiter zu stören. Erst mit dem Einsetzen ihrer Erkrankung ringt sie sich zu einer Aufklärung durch. Das führt zu einem kitschigen Happy End, das sich auch vom bevorstehenden Tod der Hauptfigur nicht mehr irritieren lässt. Für die Tochter Caitlin geht die Sache jedenfalls gut aus. Sie wird zwar nach ungewollter Schwangerschaft verlassen und muss überdies als Studienabbrecherin im Stripclub anheuern, aber bereits rund eine Woche später ist durch die schicksalshafte Wucht der Demenz alles in die Spur geraten: Caitlin lernt ihren Vater und buchstäblich im gleichen Atemzug auch den für sie idealen Traumprinzen kennen. Dadurch ist sie gerettet.

Während die Beziehungen, Geschlechterrollen und Charakterzüge schematisch aufgebaut sind und in stereotypen Bahnen verlaufen, entfaltet der Roman gerade in den Schilderungen der demenziellen Veränderungen eine überraschende Differenziertheit. Gelungen sind etwa einige Szenen, in denen die plötzlich einsetzende Orientierungslosigkeit Claires geschildert wird. Eine Orientierungslosigkeit, die tiefer geht als eine rein räumliche oder chronologische, die aber doch auch angenehm nüchtern bleibt. Die Reihenhäuser gleichen sich alle plötzlich noch mehr – und ist wirklich schon wieder Weihnachten? Was bedeutete es noch gleich, den Tisch zu decken? („Meine Mutter hält mir einen Strauß metallener Gegenstände entgegen.“)

Überhaupt ist es ein Tonfall der Lockerheit, mit dem die Protagonistin ihre Symptome reflektiert. Sie sei ja eigentlich schon immer eher „unkonventionell“ gewesen, heißt es, und so manche Dinge würde sie ohnehin ganz gerne dem Vergessen überantworten. Zudem setzt Claire ihre Erkrankung gezielt ein, um sich lustvolle Grenzüberschreitungen herauszunehmen. Ihr Wahlspruch dabei: „Mein Alzheimer-Ich kann das“. Diese ironische Selbstdistanzierung, die wohl nicht zufällig an emanzipatorisch gedachte Diätratgeber (Moppel-Ich) erinnert, baut Coleman kühn aus: Sie lässt Claire auch in anderen Bereichen festhalten an den vertrauten Mustern von Selbstbehauptung und Lebensfreude, so dass ihr noch ein wildromantisches Abenteuer vergönnt ist. Claires Treffen mit dem wiederholt plötzlich auftauchenden fremden Mann, zu dem sie eine – notwendigerweise – radikal gegenwartsgeprägte Beziehung aufbaut, gehören dann auch zu den lesbaren Passagen des Buches. Was an diesen unvoreingenommenen Begegnungen der beiden Figuren aufscheint, ist ein möglicher Zugang zum Krankheitsbild, der über Mitleid und Hilfe hinausgeht. Claires Wahrnehmungsveränderungen ermöglichen dabei sogar eine rauschhafte Steigerung: „Vielleicht bin ich wie eine Flamme, die kurz vor ihrem endgültigen Erlöschen viel heller und intensiver als sonst aufflackert“. Fast nietzscheanische Dimensionen eröffnen sich hier; ungesättigt gleich der Flamme – und das im Endstadium der Alzheimerdemenz!

Leider verdirbt die Autorin diesen Erzählungsstrang am Ende, indem sie auflöst, dass der fremde Herr in Wirklichkeit die ganze Zeit über der zeitweise von Claire nicht mehr erkannte Ehemann gewesen ist. Der hatte spielerisch mitgemacht. Das Entwürdigende einer solchen Posse wird nicht dargestellt, so wie insgesamt erstaunlich leichtfüßig mit passiv-aggressiven, sadistisch-destruktiven Verhaltensweisen umgegangen wird. Auch die stereotypen Geschlechterrollen, die ganz nonchalant die Grundlage aller Beziehungen darstellen, und der erwähnte erzieherische Charakter der Demenz sind besonders aus einem Grund problematisch: Die Schilderungen erlauben keine Offenheit. Es wird immer genau, geradezu autoritär vorgezeichnet, wie Charakter und Handlungsweise einer Figur wahrzunehmen sind. Das liegt daran, dass sie einfach direkt beschrieben werden und nicht durch Worte und Taten vor dem Auge des Lesers zum Leben erwachen. Es ist schlicht ein Mangel an erzählerischer Gestaltungskraft, der hier zu konstatieren ist. So gibt das Buch auch sprachlich nicht viel her: Die einfallslose Prosa ist deskriptiv überfrachtet und wird von den grob gezimmerten Spannungsbögen nur noch mühsam getragen. Aufdringliches Pathos und betuliche Kalendersprüche wie „Hör auf dein Herz“ oder „Du musst beschließen, dass du glücklich sein darfst“ machen die Lektüre streckenweise zu einer Qual.

Die Demenz steht dramaturgisch im Mittelpunkt. Doch ausgeblendet sind dabei solche Probleme, die in der Realität die Versorgung von Demenzkranken begleiten. Die Pflege von Claire besteht lediglich darin, dass man sie bewacht, auf dass sie nicht mit ihrer „Komplizin“, der dreijährigen Tochter, wieder einmal über das verschlossene Gartentor klettert und zu einem ihrer surrealistischen Spaziergänge ausrückt. Diesen Pflege-Wachdienst verrichtet die Großmutter allein und eher nebenbei. Den Lebensunterhalt verdient währenddessen Claires Ehemann. Dieser wird beschrieben als ein zehn Jahre jüngerer „sexy Handwerker“, der seinen Zollstock standesgemäß am Gürtel trägt „wie ein Revolverheld aus dem Wilden Westen seine Waffe“. Sieht man von solchen verstörend reaktionären Frauenfantasien ab, könnte zumindest eine gewisse Lockerheit in der Schilderung von Demenzkranken und ihrem Umfeld durchaus angebracht sein, um den Umgang mit diesem Phänomen auszudifferenzieren. Das ist es dann auch, was von Einfach unvergesslich in Erinnerung bleibt: Der Eindruck, dass demenzielle Erkrankungen zunehmend in den kulturellen Normalzustand eingegliedert werden, was auch populäre Genres wie diese Art von Unterhaltungsliteratur leisten.

Titelbild

Rowan Coleman: Einfach unvergesslich. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Marieke Heimburger.
Piper Verlag, München 2014.
409 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783492060011

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