Eine Innenansicht des fast Unmöglichen

Christian Fleck haucht der Exil-Forschung neues Leben ein

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Studie „Etablierung in der Fremde“ des Grazer Soziologen Christian Fleck wird künftig zu den wenigen Standardwerken zählen, die in der bisherigen Exil-Forschung vorgelegt wurden. Das klingt nicht nur angesichts der ungeheuren Fülle und Bandbreite von Arbeiten zu jenen anmaßend, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, der Annexion Österreichs, der Zerschlagung der sogenannten „Rest-Tschechei“ und den nach dem Überfall auf Polen im September 1939 folgenden Angriffs- und Vernichtungskriegen fliehen mussten, sondern auch gegenüber dem allgemeinen Eindruck, dass die Exil-Forschung längst in den sicheren Bahnen einer methodologisch-methodisch versierten und institutionell etablierten Wissenschaftsrichtung verläuft.

Wer Flecks Buch studiert hat, wird sich gleichwohl leicht der gemachten Einschätzung anschließen können, zumal dann, wenn er auf ähnlichem Feld und mit den genannten Archivbeständen gearbeitet hat. „Etablierung in der Fremde“ bietet zum einen eine Reflexion der Grundlagen dessen, worauf Exil-Forschung zunächst beruht, nämlich Institutionen, Personengruppen, Entscheidungsmechanismen, Konstellationen und Netzwerke von Helfenden und Hilfesuchenden, Konkurrenzverhältnissen sowie offenen und versteckten Ressentiments. Er tut das aber nicht mit den stumpfen Mitteln eines von außen adaptierten Theoriebestecks oder der Herstellung eines Methodenrahmens, sondern arbeitet ad fontes. Das klingt wenig aufregend, dafür gelingt aber etwas, was bislang allenfalls nur am Rande in den Blick genommen wurde, letztlich aber entscheidend ist fürʼs Überleben – das Wechselverhältnis von jenen, die Hilfe benötigten, und jenen, die Hilfe professionell anboten. Damit sind wir im vielbeschworenen „Maschinenraum“ der Exil-Forschung, die, das macht Fleck Seite für Seite deutlich, sich gerade dort nicht aufhalten wollte, weil der Oberflächenglanz von Namen und Werken den Hinabstieg weitgehend verhindert hat.

Zum anderen stellt Flecks Arbeit eine Pionierleistung auf dem Gebiet der Wissenssoziologie dar. Während man in der Exil-Forschung zumeist Individuen, selten nur Personengruppen und nur einige wenige Institutionen in den Blick nahm, verschmelzen hier diese Grenzen, weil sie realiter immer wieder überschritten wurden. Das führt umgekehrt schlagartig vor Augen, wie Menschen, die sich nicht in dieses Wechselspiel begaben – aus welchen Gründen auch immer – wesentlich häufiger scheiterten, als jene, die sich ganz in fremde Hände begaben. Flecks Buch bietet eine Innenansicht des fast Unmöglichen, angesichts einer sowohl konkreten wie unheimlichen Bedrohungslage. Dass er das mit soziologischen Mitteln bewerkstelligt, sollte zudem anders ausgerichtete Exil-Forscher aufhorchen lassen.

Das Buch gliedert sich in zwei große Blöcke. Im ersten Teil werden „Gründungsgeschichten“ und die Mühen der Ebene von Institutionen und deren Mitarbeitern im Umgang mit Exilanten oder Aufnahme Suchenden dargestellt und analysiert. Im zweiten Teil werden Einzelfallstudien präsentiert, die eng an das zuvor Gesagte anschließen. Einzelresümees, abschließende Bemerkungen sowie ausführliche Register versetzen den Leser die Lage, die Überlegungen Schritt für Schritt verfolgen zu können.

Unmittelbar nach der sogenannten nationalsozialistischen „Machtergreifung“ etablierten sich in einigen Ländern Initiativen und Institutionen, die auf die veränderte politische Lage in Deutschland reagierten. So in Schweden nach einer Sitzung des dortigen Parlaments, in Großbritannien gründete man die „Society for the Protecting of Science and Learning“, in den USA das „Emergency Committee“. Diese arbeiteten, zum Teil mit Niederlassungen auf dem europäischen Festland (vornehmlich in Paris und London, aber auch in der Schweiz), wiederum mit Stiftungen, Philanthropen, Initiativen zusammen, die auf bereits etablierte oder neugegründete Kontakte zu Universitäten, Netzwerken oder einzelnen Hochschullehrern zurückgreifen konnten. Da es darum ging, sowohl möglichst großzügig zu helfen, jedoch zugleich Einzelfallprüfungen unerlässlich waren und schließlich der eigene akademische Markt sowie die allgemeine politische Entwicklung im Auge behalten werden musste, ergaben sich nicht nur umfängliche Korrespondenzen, sondern ein nur schwer durchschaubares, oftmals sich gleichzeitig abspielendes Hin und Her von Gutachten, Stellungnahmen, Ablehnungen, Wiederaufnahmen von Verfahren, auszudiskutierenden Interessenkonflikten, die allesamt, zumeist inklusive der zahllosen Telefonate, die zu Memoranden transformiert wurden, bis heute in Archiven einsehbar sind.

So entstanden Akten mit 500 und weit mehr Seiten, die das manchmal glückliche, manchmal dramatische Ringen mit den sich immer weiter verschlimmernden Umständen nachvollziehen lassen. Genau an dieser Stelle setzt Fleck ein. Er legt gründlich recherchierte – zahlreiche aussagekräftige Tabellen ergänzen den Band – Studien dazu vor, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass Wissenschaftler in den USA oder anderen Ländern aufgenommen wurden. Also genau jenes Übergangsgeschehen gerät erstmals möglichst vollständig in den Blick, das im geglückten Falle eine „Etablierung in der Fremde“ ermöglichte. Um das, was selbst in elaborierten Studien zumeist mit „X erhielt Gutachten von Y und Z, die es ihm ermöglichten mit Hilfe der ‚Rockefeller Foundation‘ sich am ABC College dauerhaft einzurichten“ abgetan wird, darstellen zu können, müssen nicht nur wissenssoziologische und institutionengeschichtliche Kenntnisse vorhanden sein, sondern auch ökonomische, psychologische und irrational wirkende Kategorien zur Anwendung gebracht werden, um die Abläufe zu verstehen. Fleck tut all dies akribisch, wertend und dabei stets die Möglichkeiten und Grenzen seiner Protagonisten im Auge behaltend. Anders als bei der Erstpublikation einiger der hier in völlig überarbeiteter Form gebündelten Studien ergibt erst deren Zusammenstellung ein Bild von der geleisteten Arbeit. Dass er dabei liebgewonnene Klischees, so etwa im Falle der „Frankfurter Schule“, als solche entlarvt, dies dabei aber niemals auf Kosten der Protagonisten tut, gibt dem leeren Begriff „historische Gerechtigkeit“ nachträglich eine besondere Dignität.

Was Fleck im ersten Teil geleistet hat, wird in seiner wissenschaftlichen Bedeutung, das heißt: in der Anwendungsrelevanz sichtbar, wenn man die Ausführungen zu Edgar Zilsel, Paul F. Lazarsfeld und Joseph Schumpeter genauer studiert. Hier wird nicht nur die andere, die Opferperspektive – der Fall Schumpeter bietet Fleck die Möglichkeit eine klassische Counter History zu erzählen – angenommen, sondern hier wird erst richtig greifbar, wie schwierig es war, trotz aller sich allmählich herausschälenden Kriterien für eine mögliche erfolgreiche „Etablierung in der Fremde“, die vermeintlich richtigen Entscheidungen zu treffen. Dass im Laufe der sich immer weiter ausdifferenzierenden Prozeduren fundamentale Fehler begangen wurden, die nachträglich manche Geschichte von Exilanten schlagartig verständlich machen, wird von Fleck klar herausgestellt. Wer je die Briefwechsel zwischen den amerikanischen Universitätspräsidenten und ihren Administrationen über die Aufnahme jüdischer Wissenschaftler gelesen hat, bekommt einen Eindruck davon, was institutionalisierter Antisemitismus in demokratischen Gesellschaften heißen kann. Genau den zu unterlaufen, mit dem Hinweis auf den Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten, stellte nicht das geringste Problem der analysierten Institutionen und ihrer Mitarbeiter dar.

Was für die Flüchtenden hieß: Herausragende wissenschaftliche Leistungen mussten adäquat vermittelt werden, das Durchschnittliche entsprechend aufgewertet werden. Zum richtigen Zeitpunkt mussten die richtigen Kollegen informiert werden, eigene und fremde Befindlichkeit, die konkrete Not, die Unduldsamkeit durften nicht in falsche Worte gefasst werden. Es erstaunt, wie viele der Briefe, Postkarten, Blätter, Abhandlungen et cetera mit ihren Verfassern überlebt haben beziehungsweise diese oftmals überlebt haben. Fleck bringt sie zum Sprechen, verwickelt uns in die Geschichten, die quälenden Ungewissheiten, die euphorischen Momente jener, denen nur in sehr wenigen Fällen aus eigener Kraft die Rettung gelang. In den besten Abschnitten bietet der Autor ein Muster für ein historisch aufgeklärtes, ideengeschichtliches Arbeiten an, das Vieles von dem, was in den letzten Jahren in Kontexten der Biographienforschung oder allgemeiner: der Exil-Forschung stark gekünstelt, weil von keinen Quellenkenntnissen getrübt, und überspannt diskutiert wurde, in die Asservatenkammer falscher theoretischer Neugierde verbannt. Jeder, der sich dem Feld der Exil-Forschung verpflichtet weiß, wird Christian Fleck dankbar sein müssen.

Titelbild

Christian Fleck: Etablierung in der Fremde. Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
475 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783593501734

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