Die Türken stehen vor Wien

Péter Esterházy führt den Leser sinnlich und unkonventionell durch ein seltsames Ungarn

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Unser Buch nutzt die Wirren, den zwielichtigen Schwindel zwischen historischen Kräften, Absichten, ausgesprochenen und unausgesprochenen, erkannten und nicht erkannten Interessen und die freundlich-unwirtlichen Fichten der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, um zu beginnen.“ Da ist der Erzähler allerdings schon auf der dritten Seite, und die Geschichte hat schon begonnen: In einer Kutsche, mit den Worten „blij zijn, sich freuen“, die irgendjemand mit einer vor Kälte steifen Hand auf alle vier Fensterscheiben gemalt hatte, „als Schreibgerät hatte sie die Diamant-Intarsie des Rings im Facettenschliff benutzt“. Und bis hierhin hat sich der Erzähler schon mehrfach unterbrochen, hat in Fußnoten erklärt, dass „bestimmte Quellen“ eine andere Fassung der Geschichte erwähnen, nämlich „zich verheugen“ oder „gelukkig zijn“. Er hat erklärt, warum er diesen Ausdruck bevorzugt, was es mit dem Diamanten aus der Werkstatt des Venezianers Vincent Peruzzi auf sich hat, und immer so weiter.

Wer einen Roman des ungarischen Schriftstellers Péter Esterházy liest, kann sich auf nichts verlassen. Nur darauf, dass hier nicht einfach eine Geschichte heruntererzählt wird. Esterházy, aus einem alten Adelsgeschlecht stammend, liebt das Spiel mit der Sprache, mit den verschiedenen Ebenen, mit dem Leser und den Deutungsmöglichkeiten. Vor allem das Spiel mit den Geschichten, die sich in einer Geschichte verbergen können. In seinem neuen Buch „Die Mantel-und-Degen-Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten“ stehen die Türken vor Wien, Ungarn ist auch schon fast gefallen; jetzt wird die Burg Gedöcs belagert und die Diplomaten sind gefragt – und die Spione. Der Doppelagent Pál Nyáry muss Geheimverhandlungen führen, um die Macht ein wenig zu verschieben oder um das Vaterland zu retten. Genau weiß man das nicht. Denn es ist hier im Roman wie im Leben: „Ich sage nicht, ich durchschaue die Absicht, doch seien auch Sie sich nicht so sicher, dass Sie mich durchschauen. Ich bin zwar ein offenes Buch, aber Sie kennen dieses Buch nicht; mag sein, auch ich nicht. Doch spiele ich mit offenen Karten. Aber welches Spiel?“

Viele Gestalten beleben die Geschichte: die Patriotin Zsófia Pázmándi, Gegenspielerin von Nyáry, ihr Mann Graf Schweidenfeldt, der schwule Koch Zsigmond Kara, Nyárys Burgverwalter Mihály Bárány, der liebe Gott mit dem Namen Ferenc Kovács und seine schizophrene Katze Gizi, ein Florentiner Maler namens Lénart Vincsy, aber auch der Fernseh-Inspektor Columbo und John Lennon. Denn Esterházy springt auch mal eben in andere Jahrhunderte, in die er das Personal versetzt. Es ist ein seltsames Ungarn, das unter seiner Hand entsteht, und eine seltsame Wirklichkeit, die nicht so unerschütterlich ist, wie man normalerweise annimmt. Auch die Seitenzählung ist seltsam, denn die „letzte Seite“ steht etwa in der Mitte, und die Seite 81 gibt es gleich fünfmal. Am Schluss sind die Fußnoten fast wichtiger geworden als der Text.

Und so wird aus diesem eigentlich schmalen Band ein Nationalepos, eine Spionagegeschichte, eine menschliche Komödie, eine antinationalistische Landeskunde, ein politischer Roman und eine Geschichte um Vater und Sohn, alles gleichzeitig. Vor allem aber ein Buch, in dessen Sprache man eintauchen kann, sich an ihr wundernd reiben, sie genießend aufsaugen. Esterházy ist sicher kein „einfacher“ Autor, aber ein sinnlicher, unkonventioneller und leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, in dessen überbordenden und ausufernden Romanen man sich verlieren kann.

Titelbild

Péter Esterházy: Die Mantel-und-Degen-Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Heike Flemming.
Hanser Berlin, Berlin 2015.
238 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247789

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