Genforschung und Kleinstadtjugend

Über „Profile – Die Prognose“ von Christine Seifert

Von Anika UllmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anika Ullmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Cesare Lombroso eine Epiphanie. Bei der Untersuchung des Schädels von Villella, einer italienischen Mörderin, erkannte er den Ursprung der kriminellen Natur. Kriminelle, so seine Entdeckung, seien evolutionär zurückgeblieben – eine Tatsache, die man an ihrer Schädelform erkennen könne. Hang zum Verbrechen wurde so als am Äußeren ablesbar angesehen. Inzwischen geht der Blick ins Innere. Die Genforschung hat zwei Gene gefunden, die angeblich Hinweise auf das kriminelle Potenzial von Menschen geben können. Dieser Themenkomplex steht nun im Zentrum von Profile – Die Prognose von Christine Seifert.

Kriminelle Energie begegnet der Protagonistin Daphne schon am ersten Tag an ihrer neuen Schule, der Quiet High in Oklahoma. Einer der Schüler kommt mit einer Waffe in die Schule, schießt um sich und droht schließlich auch Daphne, die sich mit Mitschüler Jesse im Abstellraum versteckt hat, zu erschießen. Jesse hilft ihr jedoch, und der Amokläufer, so scheint es, hatte nur bedingt vor, andere zu erschießen. Kurzerhand tötet er sich selbst. Das schreckliche Ereignis wirft Fragen danach auf, wie die Tat hätte verhindert werden können. Eine Diskussion, die sich an der Quiet High anders gestaltet als andernorts, denn diese ist Testschule für PROFILE, einem Programm, das untersucht, inwieweit kriminelles und antisoziales Verhalten genetisch vorbestimmt ist. Jeder Schüler der Schule ist Teil des Programms, genetisch erfasst und in der Datenbank der Utopia Laboratories als entweder tendenziell kriminell oder antisozial eingestuft, also mit einer Prognose versehen oder eben nicht. Die Veröffentlichung der Liste aller Schüler mit Prognose hat schwere Folgen, insbesondere für Jesse und Daphne, deren aufkeimende Liebesbeziehung durch Jesses Prognose zerrüttet wird.

Die Protagonistin ohne Menschenkenntnis

Es gibt mehrere Aspekte, die Profile – Die Prognose zu einem schmerzhaft langweiligen und ärgerlichen Leseerlebnis machen. Das größte Frustrationspotenzial birgt dabei wohl die Zeichnung der Protagonistin und ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Daphne ist neu in dem kleinen Ort in Oklahoma und muss sich dort erst einmal zurechtfinden. Grundsätzlich werden die Schüler der Quiet High ohne Prognose als ungebildet, arrogant, aggressiv und emotional wenig kompetent beschrieben. So wird Daphne direkt beim ersten gemeinsamen Abend mit ihren Mitschülern in eine Glasscheibe gestoßen und muss mit dem Krankenwagen weggefahren werden. Mitschülerin Brooklyn nimmt daran Anstoß und ist sauer wegen des emotionalen Stresses, den Daphne ihr damit zugemutet hat. Der Rest der Clique versagt als Korrektiv und scheint sich an diesem egozentrischen und unsozialen Verhalten Brooklyns wenig zu stören. Ja mehr noch, es ist an Daphne sich zu ändern. Etwa rät Dizzy Daphne in Bezug auf Brooklyn: „Sie ist manchmal etwas hart zu neuen Leuten, aber das bedeutet nicht, dass du sie nicht auf deine Seite bringen könntest.“ Trotz solcher verquerer Ideen von Freundschaft und Gemeinschaft freundet sich die Protagonistin mit den beliebten Schülern und Schülerinnen an und bleibt die gesamte Handlung über vehement unentschieden, ob sie einzelne Mitglieder der Gruppe nun mag oder nicht. Und dies, obwohl Daphne wiederholt von eben jenen Menschen angepöbelt und tätlich angegriffen wird, und sie mit den grundsätzlichen politischen Ansichten der Clique nicht übereinstimmt.

Dieses Verhalten führt dazu, dass sich keine wirklich interessante Debatte entwickeln kann. Fragen nach der Verschränkung von und dem Glauben an genetische Vorbestimmung und tatsächlichem Verhalten sowie nach Spannungen zwischen wissenschaftlicher Expertise und Menschenkenntnis können hier kaum ernsthaft gestellt werden. Mit Daphne ist man an eine Protagonistin gebunden, die spektakulär unfähig ist, Verhalten zu bewerten und ein Urteil über andere auf Basis ihrer Taten und Aussagen zu fällen. Gesteigert wird die simple Strickart des Romans dadurch, dass die moralische Ausrichtung der Figuren so deutlich gestaltet ist, dass Ideen zur Beweiskraft von Genen einfach irrelevant werden. Jesse wird fast durchgehend als zuverlässig und sozial kompetent dargestellt. Seine Stimme ist „ohne eine Spur von Sarkasmus“ und sein Blick gibt Daphne das Gefühl, „er sei ein netter Mensch. Von Grund auf nett“. Hinzu kommt, dass er ihr am ersten Schultag gleich zweimal das Leben rettet. Dennoch ist sich Daphne unsicher, ob er ein Verbrechen, das wenige Wochen nach dem Terroranschlag passiert, begangen hat: weil er eine Prognose besitzt und Dizzy ihr Gerüchte über ihn erzählt. Eben jene Dizzy, die als unreif, als künstlich und übertrieben dargestellt wird.

Das Ausmaß der Absurdität von Daphnes Charakter wird besonders deutlich, wenn man ihre Zweifel an Dizzys Freund Josh genauer betrachtet. Direkt bei ihrem ersten Aufeinandertreffen kommt dieser Daphne vor wie ein „Penner“, „ein reanimierter Leichnam“ und „ein Idiot“, der zudem nach „Alkohol und Zigaretten“ stinkt. Auf einer Party sieht sie schließlich mit an, wie Josh einen Jungen mit Prognose brutal durch ein paar Glasscherben schleift, wobei dessen ganzer Unterschenkel aufgeschlitzt wird und er anfängt, stark zu bluten. Auf diese Szene folgt ein Aufeinandertreffen, bei dem Josh versucht, die betrunkene Dizzy zum Sex zu überreden. Das hält Daphne dennoch nicht davon ab, sich nur wenige Minuten später zu denken: „Er ist nicht mein Typ, aber so ätzend ist er auch wieder nicht.“

Der Konflikt und die Auswirkungen der genetischen Schicksalsweisung auf die Liebesbeziehung lässt so bald Langeweile aufkommen. Die Unsicherheit, die Daphne bezüglich Jesse hat, ist nicht nachvollziehbar. Ihr Problem ist nicht Jesses Prognose, sondern ihre nicht vorhandene Persönlichkeit, was eher Ärger ob der unverständlichen Charakterzeichnung als Nervenkitzel erzeugt.

Das große Schulterzucken

Ebenso dumpf wie Daphne als Hauptfigur ist auch die Diskussion über Genetik und der Idee von vererbbarem kriminellem Potenzial gestaltet. Hier herrscht großes Schulterzucken. Als die Schülerin January überfallen und brutal zusammengeschlagen wird, stellt man sich an der Quiet High und unter den Eltern und Schülern erneut die Frage, wie dies hätte verhindert werden können. Diesmal wird jedoch auch der Täter gesucht. Fast sofort werden nun die Schüler mit Prognose bekannt gegeben. Die Schule wird in zwei Schulen geteilt, Schüler mit Prognose bekommen Extraunterricht und dürfen die anderen Teile der Schule nicht mehr betreten. Beziehungen und Freundschaften zwischen Schülern mit und ohne Prognose werden verboten. Schüler mit Prognose werden wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Ihr Teil der Schule wird von den anderen Schülern als „Zoo“ betitelt, die Schüler mit Prognose so als genetisch zurückgeblieben, als Tiere betrachtet.

All dies führt in Quiet High zu wenig Aufregung und auch die Mitschüler ohne Prognose scheinen alle ohne große Fragen zur Tagesordnung überzugehen. Nicht einmal Menschenrechtler, größere politische Debatten oder wütende Eltern von Kindern mit Prognose kommen in dem Roman vor. Durchgehend wird aus der Perspektive derer ohne Prognose und ihren Ängsten erzählt. Der Roman sieht hier scheinbar eine Verbindung zwischen einem konservativen Teil Amerikas und unreflektiertem Verhalten. Dies wird bei einem Elternabend deutlich, an dem Brooklyns Mutter ganz klar die wissenschaftliche Meinung von Daphnes Mutter ablehnt, und dieser ihr Bauchgefühl entgegensetzt. Jene Argumentationsstrukturen, die Emotionen über Fakten stellen und die Moderator Stephen Colbert einst passend als ‚Truthiness‘ bezeichnet hat, genügen an der Quiet High, um rassistisches Verhalten zu rechtfertigen. Dem werden nun Daphne und ihre Mutter Melissa gegenüber gestellt.

Melissa ist Genforscherin und hat PROFILE mitentwickelt, zweifelt aber nun an der Art der Anwendung des Programms. Daphne ist ebenso kritisch gegenüber PROFILE und den Vorgängen an der Quiet High eingestellt. Dennoch können sich beide nicht dazu durchringen, politisch aktiv zu werden oder eine feste kritische Position einzunehmen. Melissa, die stets als sehr bedacht auf ihren intellektuellen Status und Lebenswandel beschrieben wird, spricht sich bei dem Elternabend zwar gegen die Maßnahmen aus, doch nachdem sie von den anderen Eltern überstimmt wird, kümmert sie sich nicht mehr weiter um das Thema. Daphne selbst ergreift ebenfalls ab und an das Wort gegen die unwürdige Behandlung von Schülern mit Prognose. Doch entsprechend ihres schwachen Charakters hält ihre Wut nie länger als einige Seiten an und ist verflogen, sobald sie für ihre Haltung sozial geächtet wird oder eine Einladung zu einer Party winkt.

Profile – Die Prognose nimmt sich ein schweres Thema vor und macht es zum Aufhänger für eine hinkende Liebesgeschichte mit Teenagerdrama, die auch ohne Genetik einfach mit den anstrengenden Charakteren der Jugendlichen ausgekommen wäre. Zwar wird die Ausgrenzung der Mitschüler aufgrund ihrer Gene über die Darstellung der Bewohner Quiets als negativ bewertet, dennoch wird Klassendenken und Rassismus nie zum Anlass genommen, Energie in deren Bekämpfung zu investieren. Zum glänzenden Abschluss sind es schließlich auch immer Schüler mit Prognose, die Verbrechen begehen. Ob diese Auflösung der Geschichte für die moralischen Aussage des Romans spricht, bleibt zu bezweifeln.

Titelbild

Christine Seifert: PROFILE. Die Prognose. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Maria Poets.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
378 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783841421500

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