Ein Leben als Sklavin

Düsterer Mix aus Tradition und Moderne: Amy Ewing startet mit „Das Juwel – Die Gabe“ eine neue dystopische Fantasyreihe

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Nummer 197 von insgesamt 200 ist sie heiß begehrt. Nummer 197 ist 16 Jahre alt, 1,68 Meter groß, 58,5 Kilogramm schwer. Ihre violette Augenfarbe wird als ungewöhnlich angepriesen, ihr musikalisches Talent als außerordentlich. Nach vierjähriger Ausbildung hat sie im dritten der sogenannten „Auspizien“ die Bestnote erzielt – eine Leistung, die kaum eine ihrer Mitschülerinnen je zuvor geschafft hat. Kein Wunder, dass bei der Auktion, auf der Violet Lasting versteigert wird, Höchstgebote eingehen. Am Ende erhält die Herzogin vom See den Zuschlag für das Mädchen. Und für die 16-jährige Violet aus armen Verhältnissen beginnt ein neues Leben mitten im Herzen der Stadt, dem „Juwel“.

Dystopische Fantasyromane haben bekanntlich seit Jahren Konjunktur. Mit „Das Juwel – Die Gabe“ legt nun die junge amerikanische Autorin Amy Ewing einen weiteren Roman über das Leben in einem fiktiven, repressiven Gesellschaftssystem vor. Tiefe gesellschaftliche Risse, verfestigt durch massive Steinmauern ziehen sich durch die „Einzige Stadt“. Während die Menschen in den äußeren „Kreisen“, wie dem „Sumpf“ oder dem „Schlot“, jeden Tag aufs Neue hart dafür kämpfen müssen, um sich wenigstens das Nötigste zum Leben zu erarbeiten, haben die Menschen im inneren Kreis, der „Bank“, die als Dienstleister tätig sind, mehr Privilegien. Im Zentrum der Stadt jedoch befindet sich das „Juwel“, der Sitz der herrschenden Adelsklasse, die sich frei von allen materiellen Sorgen vorwiegend um sich selbst dreht. Doch auch der dekadente Adel hat ein Problem: Die adligen Frauen können selbst keine Kinder bekommen und bedienen sich deshalb der sogenannten „Surrogate“, das heißt junger Leihmütter aus dem äußeren Kreis der Stadt, dem „Sumpf“.

Violet ist eines dieser Surrogate – und weiß um ihre Bestimmung als Eigentum der Herzogin. Ihre Vergangenheit im „Sumpf“ lässt sie damit hinter sich, ihre Familie wird zum Ausgleich versorgt. Doch ist Violet bewusst: „Nur Freiheit werden wir nicht haben. Davon ist nie die Rede.“ Und auch ihr künftiges Leben kennt sie nur in groben Zügen. Was genau erwartet sie im Hause der Herzogin? Was passiert nach der Geburt des Kindes mit ihr? Als Violet alias Nr. 197 schließlich im „Juwel“ ankommt, wird ihr schnell klar, dass ihr Leben mit schicken Kleidern und Bediensteten nicht nur das erwartete Luxusgefängnis ist, sondern die Surrogate auch noch bloße Mittel für die Intrigen zwischen den Adelshäusern darstellen – Todesfälle inklusive. Und so beginnt Violet mit wachsendem Entsetzen hinter die Fassaden der Paläste zu blicken und um ihr eigenes Leben zu fürchten, bis sie sich zu allem Überfluss noch unerlaubt und unpassend verliebt.

Keine Frage: Hier wird eine Geschichte um große Themen wie Sklaverei, Leihmutterschaft, Freiheit, Macht, Freundschaft und natürlich Liebe durchaus spannend erzählt. „Das Juwel“ wird seine Leserinnen finden. Zumal der Band, wie schon die sehr erfolgreiche „Selection“-Reihe von Kiera Cass, auch auf den Aschenputtel-Effekt setzt, wenn aus dem kleinen Mädchen Violet via Ballroben und Kammerzofe plötzlich eine Schönheit gezaubert wird. Dass die Gesellschaftsstruktur des „Juwels“ matriarchal gestaltet ist, sorgt dabei für erfreuliche Abwechslung: Alle Herzöge und Fürsten bleiben zumindest im ersten Band – eine Fortsetzung ist auf Englisch bereits erschienen – im Hintergrund. Doch Violet selbst ist alles andere als eine toughe Frauenfigur. Sie bleibt überwiegend passiv und Spielball der verschiedenen Interessengruppen. Man kann nur hoffen, dass das Mädchen im Folgeband über sich hinauswächst und Amy Ewing dem düsteren Stoff einen über Klischees hinausgehenden, tiefgründigeren Anstrich gibt, statt zu sehr auf die etwas konstruierte Liebesgeschichte zu setzen. Symptomatisch erscheint da auch die merkwürdige Kombination aus Retro und technischer Moderne im Roman: Pferdekutschen existieren hier neben Flachbildschirmen und Reproduktionsmedizin.

Inwiefern die besonderen Gaben der Surrogate, die sogenannten „Auspizien“, sie nicht nur zu idealen Leihmüttern machen, sondern vielleicht doch einen Schlüssel zum Aufbegehren bieten könnten, bleibt letztlich noch abzuwarten. Am Ende des ersten Bandes muss Violet zunächst um ihre Liebe bangen – und natürlich weiterhin um ihr Leben.

Titelbild

Amy Ewing: Das Juwel – Die Gabe. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
448 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783841421043

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