Verdrängte Erinnerungen

Der Gedächtnis-Thriller „Mnemophobia“ von Kaja Bergmann und sein blinder Protagonist Nemo

Von Nicolai GlasenappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Glasenapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Thriller Mnemophobia legt die junge Autorin Kaja Bergmann ihren dritten Roman vor. Signifikante Hinweise auf Handlung und Thematik verbergen sich bereits im Titel. Dieser spricht die Angst des Protagonisten Nemo vor den eigenen Erinnerungen an – Mneme für ‚Gedächtnis‘ oder ‚Erinnerung‘ sowie griechisch phóbos für ‚Angst‘ oder ‚Furcht‘ – und beinhaltet zugleich seinen eigenen Namen.

Nemo ist innerhalb der Literaturgeschichte indes kein unbescholtener Name, lässt sich damit doch der Kapitän der Nautilus in Jules Vernes Abenteuerroman 20.000 Meilen unter dem Meer in Verbindung bringen. Die Meeresmetapher ist auch insofern tragend, als jener Nemo aus Bergmanns Thriller in einem zwischenzeitlich schwarz gestrichenen Leuchtturm wohnt. Offensichtlicher dürfte aber die Analogie zwischen der Tiefe des Meeres und dem Gedächtnis als einem auch in der Tradition antiker Gedächtniskunst räumlich zu fassenden Bereich sein. So besteht Nemos Strategie darin, die Erinnerungen an den einstigen Unfall, der ihn erblinden und seine Freundin Merle die Stimme verlieren ließ, am Grunde seines Gedächtnisses zu verbergen. Doch kehren Auszüge davon in seinen Träumen wieder. Strukturell bilden sie den Gegenpart zu den jeweils mit Datum und Uhrzeit versehenen Kapiteln und enden stets mit einem „… STOP!“, das den durch Nemo initiierten Abbruch der Erinnerung markiert. Auch wenn die Problematik verdrängter Erinnerung ein konstitutives Element von Thrillern und Kriminalgeschichten darstellen mag, stellt sich in Bezug auf eine solche Darstellung von Gedächtnisleistungen die Frage, ob das Geschilderte Authentizitätsansprüchen genügt. Denn allzu aktiv scheint Nemos Verdrängung vonstatten zu gehen. Immer kurz bevor relevante Details ersichtlich werden, stemmt sich Nemo dagegen und verhindert die Rekonstruktion vergangener Ereignisse. Mnemophobia ließe sich also zweifelsohne als erbitterter Kampf zwischen dem Leser und Nemo beschreiben, durch den wesentliche Informationen verdeckt werden.

Doch befindet sich Nemo vielmehr in einer dauerhaften Auseinandersetzung mit sich selbst. War er bis zum Autounfall mit Merle als Maler tätig, ist ihm dies nach seiner Erblindung nur noch eingeschränkt möglich. Sein bester Freund Darius teilt ihm mit, dass seine Bilder mit der Zeit immer düsterer geworden seien. Und so wächst bei der Lektüre nach und nach die Gewissheit, dass die Augenbinde von Nemo nicht allein das Zeichen eines unfreiwillig Erblindeten ist, sondern auch symbolisiert, dass hier jemand ganz bewusst keinen Einblick in bestimmte Zusammenhänge erhalten möchte, die vor allem seine persönliche Innenwelt betreffen. Zu erkennen ist dies in der charakterlichen Gestaltung Nemos, der zumeist zynisch, träumerisch, unsicher und selbstzerstörerisch agiert – an manchen Stellen schon etwas zu penetrant, etwa wenn zum vierten Mal ein ironischer Kommentar auf eine Redewendung folgt, die das Sehvermögen thematisiert. Natürlich ist dies auch als ein impliziter Hinweis an den Leser zu verstehen, welch zentrales Motiv das Sehen in diesem Thriller doch ist. Allein der Leser, sei er auch jugendlichen Alters, dürfte bereits nach dem zweiten oder dritten Hinweis darauf aufmerksam geworden sein. Und so mag Wiederholung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur definitiv ihre Berechtigung haben, im Falle von Mnemophobia wird dieses Moment jedoch gelegentlich überreizt.

Zudem wechselt Nemo in seinen Gedanken oft sehr sprunghaft zwischen weit auseinanderliegenden Sprachregistern. Mag man darin erneut die innere Zerrissenheit dieser Figur erkennen, wirkt indes auch das etwas zu gewollt und künstlich und erweist sich als wenig förderlich für den Lesefluss. Hierin liegt sicherlich die große Herausforderung, einen Thriller vorwiegend in Form einer Innenperspektive zu gestalten, wo diese Gattung sich doch gerade dadurch auszeichnet, dass sich Verschiebungen innerhalb des Plots ergeben und dadurch neue Zusammenhänge entstehen. Der Egozentrismus Nemos steht dem in doppelter Hinsicht im Wege: durch die den Text strukturierende Perspektive und seinen Umgang mit den Ereignissen.

Insgesamt wartet Bergmanns Mnemophobia mit einer ungewöhnlichen Anlage für einen Text der Thriller-Gattung auf. Wer jedoch eine klar umrissene Handlung vorzieht und bei der Lektüre gerne die Übersicht über Entwicklungen behält, wird hier enttäuscht. Zu subjektiv und disparat wird ihm das Geschehen vermittelt. Lässt man sich hingegen auf die Konstruktion des Textes ein, könnte genau darin ihr Reiz liegen. Die Einfälle der jungen Autorin sind bemerkenswert und vielversprechend. Hinsichtlich der Konzeption des Textgefüges, der Figurengestaltung und der stilistischen Umsetzung sind gerade deshalb für nachfolgende Werke Steigerungen zu erhoffen.

Titelbild

Kaja Bergmann: Mnemophobia. Thriller.
Bookspot Verlag, München 2015.
153 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783956690495

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