Mehrdeutige Ergänzung oder einseitige Interpretation?

Die Graphic Novel „Der Schimmelreiter“

Von Lars GlindkampRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lars Glindkamp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jens Natters im Oktober 2014 veröffentlichte Graphic Novel Der Schimmelreiter soll dem Klappentext zufolge eine Ergänzung zur literarischen Vorlage von Theodor Storms 1888 erschienener Novelle bilden; tatsächlich handelt es sich eher um eine recht konservative Adaptation des Stoffes. So verwendet Natter u. a. fast ausschließlich Originalzitate aus Storms Erzählung. Auch graphisch bemüht er sich, sie möglichst zeitgenössisch umzusetzen: Die Graphic Novel ist geprägt von mit Wasserfarben kolorierten und verlaufenen handgemachten Illustrationen. Diese Verfahrensweise bringt allerdings im Medium des Comic Nachteile mit sich: So wirken diverse Figuren unfreiwillig komisch, wie beispielsweise der Schulmeister, der Erzähler der Binnenhandlung, der einer Figur aus einem Schauermärchen ähnelt. Außerdem verschwinden in den größeren Bildern die Gesichtszüge, was die Figuren allzu konturlos wirken lässt. Darüber hinaus wirkt der Bild-Text-Dialog redundant, indem in Gedankenblasen all dasjenige wiederholt wird, was bereits in den Bildern evident zu sehen ist. Nur in wenigen Darstellungen wird das Potenzial Natters als Zeichner deutlich – vor allem dann, wenn er mit seinen Darstellungen auf andere (Kunst-)Werke referiert, zum Beispiel auf Munchs Der Schrei.

Auch die narrative Form wird nach dem Vorbild von Storms Novelle gestaltet: Der erste Erzähler, der heterodiegetisch in die Geschichte einführt, der zweite Erzähler als Handelsreisender, der homodiegetisch und extradiegetisch auf den dritten Erzähler trifft, den erwähnten Schulmeister, der wiederum intradiegetisch die Binnenhandlung über Hauke Haien schildert. Auch die vierte Erzählinstanz, die als Leerstelle fungiert, streicht Natter nicht, insofern er den Deichgrafen im Umfeld des Handelsreisenden sagen lässt, dass der Schulmeister die Geschichte erzählen könne, „wenn auch nicht so richtig, wie meine alte Hauswirtschafterin (…)“. Insgesamt werden also sämtliche Erzählinstanzen aufrecht erhalten. Trotzdem finden sich in der Graphic Novel gegenüber der Vorlage deutlich weniger Unterbrechungen der Binnenhandlung durch den dritten Erzähler – ein Umstand, der wohl nicht zuletzt dem Wechsel des Mediums zu schulden ist. So handelt es sich beim Schulmeister gerade durch die narrative Leerstelle um eine Art unsichere Erzählinstanz.

Natter suggeriert durch seine Bilder eindeutige Lesarten: Der Mann, von dem Hauke den Schimmel kauft, ist in den graphischen Darstellungen mit großer Eindeutigkeit als Teufel zu identifizieren, wodurch die Assoziation zum Teufelspakt naheliegt, den die Figur eingeht. Bei der Kürzung von Storms Novelle verpflichtet sich Natter vor allem dem transgressiven Entwicklungsgang der Hauptfigur und spinnt an dieser entlang den roten Faden der Binnenhandlung. Somit bleiben allerdings viele Nebenfiguren in ihrer Charakteristik leicht unterkomplex.

Die Graphic Novel schränkt durch ihre bildliche Darstellung das Interpretationsspektrum im Gegensatz zur literarischen Vorlage maßgeblich ein. Somit stellt sie nicht die avisierte Ergänzung im eigentlichen Sinne dar, sondern eine Art eigene, gedrungene Interpretation, die wenig Spielraum für Ambivalenzen lässt. Dies zählt jedoch gerade zu den Dingen, welche die Novelle und andere literarische Texte in ihrer Qualität auszeichnen. Das „Unerhörte“, das nach Goethe die Novelle generisch ausmache, wird hier auf eine einseitige interpretatorische Sicht reduziert.

Natter verpasst es, Storms Schimmelreiter in seiner Adaptation neue Facetten zu geben. Folglich ist seine Graphic Novel vor allen Dingen als eine hochgradig interpretative Illustration von Storms Schimmelreiter einzustufen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jens Natter: Der Schimmelreiter.
Boyens Buchverlag, Heide 2014.
95 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783804214033

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