David Bowie – Meister des Verschwindens

Ein Nachruf

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Als vor drei Jahren das erste akustische Lebenszeichen David Bowies nach zehn Jahren des Schweigens ertönte, waren die Anhänger schockiert: Ein alt und müde aussehender Bowie sang im Video zu seinem unangekündigt und überraschend erschienenen Song „Where Are We Now“ mit brüchiger Stimme ein melancholisches Lied über seine Berliner Jahre. Bis zum Jahr 2003 und dem Album „Reality“ hatte sich Bowie zwischen Albenveröffentlichungen höchstens drei Jahre Pause gelassen. Dann erlitt er 2004 bei einem Konzert einen Herzinfarkt und zog sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück. Ein paar wenige Sichtungen bei Vernissagen in seiner Wahlheimat New York, ein kurzer Gastauftritt bei der von ihm geschätzten Band Arcade Fire, das war’s. Die Spekulationen rissen nicht ab, dass der einst öffentlichkeitssüchtige Popstar ernsthaft erkrankt sei, einige spekulierten sogar schon über seinen Tod. Der verletzliche Tonfall der neuen Single schien 2013 die Befürchtungen zu bestätigen. Hinzu kam das vorab veröffentlichte Cover des angekündigten Albums „The Next Day“: Über das ikonographische Artwork seines 77er Albums „Heroes“ legte er – in Anlehnung an das Schwarze Quadrat Malewitschs – ein weißes. Der Musiker war verschwunden, waren dies nun seine letzten Songs? Natürlich hatte Bowie die Welt ein weiteres Mal zum Narren gehalten: „The Next Day“ klang energiegeladen, vor allem sein Gesang war präsent und stark, die Vorab-Single war eine bewusst eingesetzte Nebelkerze gewesen, und Bowie sang im Titeltrack: „Here I am, not quite dying.“

Wie so oft in seiner Kariere hatte Bowie eine Rolle angenommen, hinter der sich der mutmaßlich wahre David Jones – so sein Geburtsname – versteckte. Ein Kritiker schrieb einst, dass Bowies Maskerade sogar aus mehreren Schichten von Masken bestehe, nach deren Herunterreißen irgendwann nichts mehr übrig bleiben würde, denn die reale Person dahinter sei mittlerweile völlig verschwunden. Bowie hatte als erfolgloser Beat-Sänger Ende der 60er Jahre angefangen und nahm dann mehrere Singles und ein Album mit jener Art von Musik auf, wie man sie damals als junger Mensch eben so sang, wenn man Erfolg haben wollte. Vieles davon war ihm später peinlich und so zählt sein Debütalbum nicht zum ‚offiziellen‘ Kanon seiner Werke. Die eigentliche Karriere des David Bowie startete 1969 mit jenem  großen Hit, dem er zuvor jahrelang nachgejagt hatte: „Space Oddity“ entstand deutlich unter der Weltraum-Hysterie der späten 60er Jahre: der Mondlandung und Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, an den sich der Titel des Songs anlehnt. Die Einsamkeit eines verlorenen Astronauten im Weltraum war zentrales Thema des pychedelischen Folkpop-Songs, der aufgrund seiner pathetisch inszenierten Melodie eingängig genug war, um seinem Schöpfer einen Hit zu bescheren. Doch das dazugehörige Album floppte – wie auch der Nachfolger „The Man Who Sold The World“, ein kryptisches Werk voller Anspielungen an Nietzsches Vorstellung des „Übermenschen“, gepaart mit einem Flirt mit dem Menschenbild des Nationalsozialismus,  inszeniert allerdings (und dies war seinerzeit der weitaus größere Skandal) von einem Sänger, der auf dem Plattencover lasziv im Frauenkleid posierte. Bowie und sein Manager hatten sich seinerzeit eine kluge Strategie überlegt: Erstens gerierte sich der Künstler als der Superstar, der er noch gar nicht war: Er fuhr in teuren Limousinen vor, die er sich eigentlich nicht leisten konnte, und tat alles, um den Eindruck zu vermitteln, dass ihm die Welt bereits zu Füßen liege. Zweitens spielte er mit dem gesellschaftlichen Tabu der gleichgeschlechtlichen Liebe, deklarierte sich öffentlich als bisexuell und begann mit seiner Identität zu spielen.

Das Nachfolgealbum „Hunky Dory“ war ein wunderbares Glamrock-Werk, das retrospektiv als eines seiner besten bezeichnet wurde. Der eigentliche Durchbruch gelang aber erst, als David Bowie die Bühnenfigur Ziggy Stardust annahm und ein Konzeptalbum über jenen außerirdischen Verkünder der nahenden Apokalypse aufnahm, der auf der Erde zum Rock’n’Roll-Star wird, nur um von der gierigen Fan-Meute getötet zu werden. Oder so ähnlich, denn ganz schlüssig war das Konzept wie so oft in Bowies Karriere nicht. Das machte aber auch nichts, denn „The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars“ markiert den Höhepunkt seiner  Zusammenarbeit mit seinem genialen Sidekick, dem Gitarristen Mick Ronson. Aus ihr entstand eine ganze Sammlung phantastischer, melancholischer, völlig überdrehter Songs, die wegweisend nicht nur für die aufkommende Bewegung des Glamrock, sondern für die Popmusikgeschichte überhaupt waren.

Und dann eine weitere Zäsur: Auf einer Londoner Bühne verkündet Bowie alias Ziggy die Auflösung der Spiders From Mars und das Ende seiner Bühnenkarriere. Wenige Monate später war er wieder da: Als „Aladdin Sane“, einer weiteren Kunstfigur, und der Erkenntnis, er, David Bowie, habe Ziggy Stardust lediglich getötet, um in der Haut des Aladdin Sane (a lad – insane) wiedergeboren zu werden. Ab jetzt erfolgten die Häutungen fast im Jahrestakt, wobei Bowie nicht nur andere Identitäten annahm, sondern auch seinen Musikstil jedes Mal radikal veränderte: Der von Orwell inspirierte apokalyptische Glam von „Diamond Dogs“ folgte 1975 der geschniegelte Blue-Eyed-Soul-Crooner von „Young Americans“ und 1976 das Drogenwrack, das sich „Thin White Duke“ nannte. Zumindest dieser war nur teilweise eine Rolle, denn Bowies Drogenkonsum war auf dem Höhepunkt angelangt und an die Aufnahmen zur zugehörigen Platte „Station To Station“ erinnerte er sich später nicht mehr, wie er selbst eingestand. Komischerweise ist sie eine seiner besten. Auch um von den Drogen wegzukommen, zog Bowie – ausgerechnet – nach Berlin und inszenierte sich im Geiste der neuen deutschen elektronischen Musik als Pionier eines avantgardistisch-kühlen Sounds, der Elemente von Bands wie Kraftwerk, Neu! oder Can aufgreift und sie für den globalen Pop weiterdenkt. Die mit Brian Eno aufgenommene, so genannte „Berlin“-Trilogie verlieh Bowie endgültig das Image des musikalischen Vordenkers, auch wenn Kritiker immer wieder äußern, er sei weniger kreativer Schöpfer als vielmehr ein Schwamm, der neue Trends unmittelbar aufzusaugen imstande ist.

Nach einem Intermezzo als Pierrot-Figur auf dem New Wave-Album „Scary Monster (and Super Creeps)“ folgte Bowies wohl radikalste Häutung: die zum globalen Mainstream-Popstar. Bisher war er aufgrund seiner Inszenierungen, seiner medialen Präsenz, nicht zuletzt auch seiner Skandale (unvergessen der Hitler-Gruß des Thin White Duke bei seinem Einmarsch an der Londoner Victoria Station) zwar weltweit ein Begriff gewesen; seine Musik war jedoch meist zu sperrig, zu verwegen und vor allem zu wechselhaft für den großen Weltruhm gewesen. Also nahm er mit „Let’s Dance“ ein lupenreines Pop-Album auf, nicht unbedingt überzeugend, aber gut genug, um ein paar Welthits abzuwerfen. Komischerweise verlor Bowie danach zum einzigen Mal die Kontrolle über seine Karriere. Er nahm mit „Tonight“ und „Never Let Me Down“ zwei redundante Alben auf, die von den Kritikern verrissen und von den Fans gehasst wurden. Auch sein Wandel zum Sänger einer Hardrockband namens Tin Machine, die er Ende der 80er zwei Alben lang durchzog, sorgte für viel Häme. David Bowie war den Weg gegangen, den in den 80er Jahren fast alle ehemaligen Rockgrößen bestritten haben – Bob Dylan, Neil Young, Lou Reed, Paul McCartney, die Rolling Stones: Er ging in Selbstgefälligkeit auf und in einem klebrigen Soundbrei unter, nahm nichtssagende Alben auf und zählte sein Geld.

Sein eigentliches Comeback 1993 mit dem Album „Black Tie White Noise“ wurde übersehen, die abstrakt klingende Platte, die Free Jazz mit zeitgenössischen Beats mischt, gilt bis heute als missglückt. Dabei ist sie ein visionäres Werk, dessen erste Single der vielleicht einzige offen autobiographische Song seiner Karriere ist: „Jump, They Say“. Hinter dem fröhlich-hysterischen Sound verbirgt sich die Geschichte des Selbstmords seines schizophrenen Bruders, es sind die Stimmen, die dieser hörte, die Bowie schmerzhaft im Refrain wiedergibt „They say: Jump!“ Schon einmal, im kryptischen „The Bewlay Brothers“ aus dem Jahr 1971, hatte er das Verhältnis zu seinem Bruder – so kann man den Text deuten – beschrieben.

Die Kreativität war wieder da, das schon zuvor seinem Werk immanente erratische Element wurde indes immer größer. Denn anders als bei den meisten anderen Künstlern seiner Generation hatten Bowies Alben immer etwas Unfertiges, gar Beliebiges. Als würde der Künstler nach zwei Dritteln der Aufnahmen das Interesse an seinem Projekt verlieren. Sogar das vergleichsweise kohärente „Ziggy Stardust“-Album enthält mit der Coverversion „It Ain’t Easy“ und dem banalen „Hang On To Yourself“ zwei Songs, die nicht so recht zum ansonsten recht stimmigen Konzept passen wollten. Umso erstaunlicher, dass er 1995 ein besonders ambitioniertes Projekt erdachte: Auf fünf aufeinanderfolgenden Alben wollte er eine Serienmördergeschichte im Kunstmilieu schildern und narrativ sezieren. Der erst Teil erschien unter dem Titel „1. Outside“ und folgt dem Detektiv Nathan Adler bei seinen Ermittlungen in der New Yorker Kunstwelt, mitsamt gesprochenen Passagen, welche die Erzählung zusammenhalten sollen. Ein besonderer Clou war, dass der fünfte und letzte Teil pünktlich zur Jahrtausendwende erscheinen sollte und der rote Faden, der das Werk durchzog, die Millenium-Angst sei. Freunde von Bowies sperrigen, experimentellen Alben halten „1. Outside“ sogar für sein Meisterwerk, nicht ganz zu unrecht, denn auf dieser Platte gelingt ihm der Spagat zwischen experimenteller Kunst und Unterhaltung wie auf kaum einem anderen. Der Regisseur David Lynch machte zudem 1997 den Song „I’m Deranged“ unsterblich, indem er ihn auf die Anfangssequenz seines mysteriösen Films „Lost Highway“ legte. Doch nach nur einem Album hatte Bowie das Interesse an diesem langfristigen Projekt verloren und widmete sich der gerade aktuellen musikalischen Stilrichtung des ‚Drum & Bass‘: „Earthling“ verbindet typische Bowie-Melodien mit jenen fragmentarisch wirkenden Rhythmen, die 1996 und 1997 mal für ein paar Monate das ganz heiße Ding waren.

Als er 1999 mit „…hours“ – wieder eine Metamorphose – ein „normales“, melodisches Album voller akustischer, gemäßigter Popsongs aufnahm, wurde er erstmals wieder von den  Kritikern gefeiert: Der ‚echte‘ Bowie sei endlich, nach Jahren der gescheiterten Experimente, wieder zum Vorschein gekommen. Tatsächlich aber hatte Bowie nie zuvor in seiner Karriere nach diesen vornehmlich ‚echten‘ Bowie geklungen. Mit „…hours“ vollführte er lediglich ein weiteres postmodernes Experiment: Er suchte nach einer Formel, wie man am ehesten nach ‚David Bowie‘ klingen konnte, wenn man alle mit diesem assoziierten musikalischen und textlichen Zutaten miteinander vermischte. Letztlich war das Album eines seiner schwächsten und er ließ ihm zwei Alben folgen, die ihn langsam der Rente entgegendriften zeigten: „Heathen“ und „Reality“ erschienen 2002 und 2003, boten einen Gemischtwarenladen aus ein paar wenigen großartigen Songs, die zu den besten seiner Karriere zählen, und mehreren unerträglichen Langweilern.

Und dann, ganz am Ende von „Reality“, von vielen Kritikern und Fans bis heute übersehen (es war auch nicht einfach, sich durch das Album zu kämpfen), das große Statement. „Bring Me The Disco King“ ist eine sieben Minuten lange Jazz-Ballade, getragen von Bowies Stimme und dem abstrakte Bilder malenden Klavierspiel seines wohl genialsten Mitstreiters Mike Garson.

Hinter dem etwas albernen Titel verbirgt sich ein ernster, verzweifelter Text. Er beginnt mit den Zeilen: „You promised me the ending would be clear / You’d let me Know when the time was now / Don’t let me know when you’re opening the door / Stab me in the dark, let me disappear”. Er singt von Erinnerungen, die „wie Fledermäuse aus der Hölle flattern“, davon, „in den 70er Jahren die Zeit totgeschlagen“ zu haben. Und immer wieder der verzweifelte Ruf: „Bring me the disco king! Dead or alive!“. Das Lied kann als Gespräch mit dem Tod gelesen werden. Es kann aber auch, darauf haben einige Kritiker hingewiesen, den wahrscheinlich lebensrettenden Moment in Bowies Karriere beschreiben, als er nach dem ‚Disco-König‘ rief. Der hörte Anfang der 80er Jahre auf den Namen Nile Rodgers und produzierte Bowies kommerziellen Höhenflug, „Let’s Dance“. Wahrscheinlich sind beide Lesarten korrekt. Jedenfalls konnte man sich keinen besseren Song vorstellen, um diese Karriere abzuschließen. Fast kam es einem so vor, als sei die ganze Banalität des „Reality“-Albums ein bewusster Schachzug gewesen, um diesen letzten großen Moment im hellsten Licht erstrahlen zu lassen. Was folgte, war der Herzinfarkt, der komplette Rückzug ins Private, die endlosen Spekulationen über den Gesundheitszustand des Künstlers. Und dann das Comeback mit „The Next Day“, kein überragendes, aber ein sehr gutes Album, das vor allem rief: Ich bin wieder da! Auf die Bühne kehrte Bowie nicht mehr zurück, auch der Öffentlichkeit blieb er weitestgehend fern. Und doch überraschte die im November erfolgte Ankündigung eines neuen Albums niemanden.

Die fast 10-minütige, hermetisch klingende Vorabsingle „Blackstar“ mit dem düsteren Video um dunkle, heidnische Rituale war indes auch für einen mutigen Künstler wie Bowie eine Überraschung, so undurchdringlich waren Text und die sehr Jazz-beeinflusste Musik.

Das Album folgt diesem Weg weitestgehend, auch wenn es, nach typischer Bowie-Manier, wieder den Hauch des Unfertigen, Collagierten hat: Zwei Stücke hat er bereits 2014 als Single bzw. B-Seite veröffentlicht, allerdings hat er sie umarrangiert. Andere sind Teil seines gerade in New York uraufgeführten Musicals „Lazarus“. Trotzdem ist es ein unkonventionelles Album, das mit einer riesigen Medienkampagne genau an Bowies 69. Geburtstag am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde. Begleitet wird es von der zweiten Single „Lazarus“, in der sich Bowie, wie man jetzt merkt, mit seinem bevorstehenden Tod auseinandersetzt. Nachdem das Album am Freitag in den Läden war, quollen die sozialen Netzwerke über mit Menschen, die, von dieser Musik berührt, über das Album diskutierten und sich gegenseitig neue Lieblingszeilen zitierten. Nach diesem Wochenende, das die Bowie-Fans auf aller Welt vereint hat, kam am Montagmorgen die Meldung seines Todes. Der Künstler, der noch jeden Moment seiner Karriere als gigantische Inszenierung betrieben hat, dessen wahre Identität hinter seinen zahlreichen Masken wohl nie zum Vorschein gekommen ist, hat sich die größte Inszenierung für‘s Ende aufgehoben. Vielleicht auch deswegen will man die Nachricht einfach nicht glauben und wartet, dass der Zauberer doch noch das Kaninchen aus dem Hut hervorholt, und dass Bowies Verschwinden sich als Höhepunkt eines großen Spektakels herausstellen möge. Umso ernüchternder, dass Bowie auf dem Titeltrack seines nun letzten Albums folgende Zeilen sang: „Something happened on the day he died / Spirit rose a mere and stepped aside / Somebody else took his place, and bravely cried: / ‚I’m a blackstar, I’m a blackstar’“.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz