Sprechen über das, was sich nicht sagen lässt

Das „Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk“ führt ein in die philosophische und theologische Gedankenwelt des christlichen Denkers

Von Karl-Heinz SymonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Heinz Symon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Sehen spielte bei Nikolaus von Kues eine so große Rolle, dass er sogar – um der Autorin des Kapitels De visione dei (Die Gottesschau) Viki Ranff zu folgen – das griechische Wort für Gott θεός von θεωρεῖν (sehen) ableitete. Nun fällt die auf dem Cover abgebildete Skulptur des Nikolaus von Kues insoweit auf, als sie in einer Tätigkeit verharrt, die heutzutage im Abendland recht historisch erscheint, nämlich der des Betens. Anachronismus also bereits auf dem Cover?

Warum sollte man sich mit Nikolaus von Kues (1401–1464) also auch heute noch befassen? Ist die Beschäftigung mit seiner Person nicht etwas Unzeitgemäßes?

Eine naheliegende Antwort drängt sich auf: Weil Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert bereits so modern gewesen ist.

Einen weiteren Grund, warum man sich mit ihm beschäftigen sollte, bietet das Vorwort im Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk. Dort wird auf den Sommer 2014 verwiesen, in dem sich am 11. August zum 550. Mal der Todestag des großen Philosophen und Theologen jährte. Dieses Ereignis veranlasste das Institut für Cusanus-Forschung an der Theologischen Fakultät der Universität Trier, das Handbuch zu Leben und Werk des deutschen Kardinals herauszugeben. Ihre Ziele formulieren die Herausgeber wie folgt: „Den Leserinnen und Lesern werden in allgemeinverständlicher Sprache wesentliche Informationen über das Leben und Werk des Nikolaus von Kues im Kontext seiner Epoche […] in der Wirkungsgeschichte seines Denkens auf dem aktuellen Stand der Forschung vorgestellt.“ Und weiter: Dass das Handbuch dazu diene, „das Interesse für die Person des Cusanus und sein vielschichtiges literarisches Werk zu fördern.“ Aber werden diese eigentlich rudimentären Ziele wirklich erreicht? Schauen wir uns das Handbuch also näher an.

Im ersten Teil gibt die Mitherausgeberin Alexandra Geissler einen Überblick über das 15. Jahrhundert mit seinen „Entwicklungen im Römisch-Deutschen Reich“, zudem einen „Einblick in den Lauf der Geschichte anderer europäischer Länder“ sowie eine Abhandlung zum „großen abendländischen Schisma und die folgenden Konzilien“. Die Darlegung der historischen Daten und Ereignisse sind kompakt und informativ. Dazu wären weitere Bezüge zu Nikolaus von Kues interessant gewesen, die über jene hinausgehen, die sich in den Texten im Wesentlichen auf Anfangs- und Endsätze beschränken. Walter A. Euler, ebenfalls Mitherausgeber des Handbuchs, entfaltet facettenreich die Lebens- und Schaffensbereiche des Philosophen und Theologen. Wobei die Darstellung von Cusanus‘ Scheitern in seinem klösterlichen und kirchlichen Reformbestreben kürzer hätten ausfallen können, währenddessen man sich ausführlichere Informationen bei einigen Hinweisen zu den direkten biografischen Einflüssen auf das Werk gewünscht hätte. Der Mitherausgeber Marco Brösch behandelt in seinem Beitrag das Testament und Erbe von Cusanus. Er gibt dabei eine klare Übersicht über dessen Römisches Erbe sowie seinen Stiftungen nördlich der Alpen.

Im zweiten Teil werden die Hauptschriften des Denkers vorgestellt, wie beispielsweise De docta ignorantia I–III (Über die belehrte Unwissenheit I–III), Apologia doctae ignorantiae (Verteidigung der belehrten Unwissenheit), Idiota de sapienta (Der Laie über die Weisheit), De pace fidei (Der Friede im Glauben, Trialogus de possest [Dreiergespräch über das Können-Ist]), De non aliud (Das Nichtandere). Die Vorstellung findet zumeist in knappen aber aussagekräftigen Darlegungen und in konzentrierten Zusammenfassungen cusanischer Begrifflichkeiten statt. Trotz der Heterogenität der internationalen Autorenschaft (oft in deutscher Übersetzung) sind die Aufsätze thematisch aufeinander bezogen, wohl auch aufgrund der Chronologie der Hauptwerke, in der sich das Denken und das Werk des Nikolaus von Kues entwickelt hat. Auch der gleichbleibende Aufbau der Beiträge wie: 1. Entstehungskontext, 2. Werkstruktur und Inhalt, 3. Analyse und Deutung/Forschungsstand, 4. Wirkungsgeschichte der Schrift trägt zum Zusammenhang der einzelnen Texte bei.

Nach den Hauptschriften sind die Kleineren Schriften an der Reihe, darunter die Mathematischen Schriften und die 294 Predigten (Sermones) des Theologen: In den Mathematischen Überlegungen versucht der Denker und Mystiker mittels Symbolmathematik über die sprachliche Ausdrucksmöglichkeit hinaus das Unaussprechliche und Undenkbare zu denken beziehungsweise zu visualisieren. Mathematik ermögliche dem Menschen den Weg zu sich selbst und damit gleichzeitig auch die Annäherung an Gott, so fasst Menso Folkerts das Anliegen von Nikolaus von Kues zusammen. Aber er merkt auch an, dass dies ganz so enthusiastisch von einigen der Zeitgenossen von Cusanus nicht geteilt wurde. Dazu gibt Folkerts als Beispiel Johannes Regiomontanus (1436–1476) an. Er war einer der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit und bezeichnete Nikolaus von Kues hinsichtlich seiner Versuche zur Quadratur des Kreises als einen „lächerlichen Geometer und Wetteiferer mit Archimedes.“ Mathematisch oder philosophisch den Grund des Wesens von Geometrie und Zahl zu erkennen, vermag anscheinend zu verschiedenen Sichtweisen und Ergebnissen führen. Denn beides, Geometrie und Zahl, kann sowohl als höchste Abstraktionen als auch als tiefste Symbole und Chiffren aufgefasst werden.

Die erläuterte Auflistung der 294 Predigten wird im Buch zu Recht damit begründet, dass Nikolaus von Kues seine Predigten gleichrangig zu seinen anderen Schriften betrachtet hat. Ihm war die praktische Vermittlung des christlichen Glaubens sowie das praktische christliche Leben in den Klöstern, ja letztlich im ganzen kirchlichen Körper vom Laien bis zum Papst eine Herzensangelegenheit.

Der dritte Teil behandelt Quellen und Rezeption. Mit Hinweisen zu den Quellen beantwortet Viki Ranff  Fragen zum Thema: „Welche Autoren und Texte hat Nikolaus von Kues rezipiert?“ Die Hinweise geben Aufschluss über Vorbilder und Eigenständigkeit im Denken des Theologen und Philosophen. Stephan Meier-Oeser gibt dann einen Überblick über Die Rezeption der cusanischen Philosophie und Theologie. Auch dieser Überblick liefert interessante Informationen für die Erforschung der Wirkung und Modifikationen kusanischer Gedankenwelt.

Teil 4 bietet schließlich einen umfangreichen Anhang, bestehend aus einer sich über viele Seiten erstreckenden Zeitleiste zu Leben und Werk sowie Umfeld des Nikolaus von Kues und einer umfassenden Bibliografie, einem Namensregister und einem Abkürzungsverzeichnis. Der Teil endet mit der Vorstellung der Autoren des Handbuchs.

Das Handbuch vermag die Hauptthemen des cusanischen Werks vorbildlich zu vermitteln. Sie drehen sich um die christliche Theologie, besonders das Verhältnis des Schöpfergottes zur Schöpfung, dem Absoluten Maximum zum Kontrakten Maximum oder der complicatio zur explicatio sowie deren Verschränkung durch die coincidentia oppositorum beziehungsweise durch die Person Christus. Desweiteren ergaben sich durch die Lektüre Einsichten in die Erkenntnismöglichkeiten und die Verfahrensweisen der ratio und des intellectus im Verständnis des Nikolaus von Kues. All dieses lädt zur Weiter- oder Wiederbeschäftigung mit den kusanischen Originaltexten oder deren Übersetzungen ein.

Da nun eine wesentliche und ernst zu nehmende Kritik an Nikolaus von Kues von der aristotelischen Scholastik ausging, verkörpert durch den Heidelberger Theologen Johannes Wenck von Herrenberg († 1460), wäre eine Lösung dieses Streits sicherlich ergiebig. In gewisser Weise trifft diese Auseinandersetzung, unter anderem über die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch sowie damit verbunden die Fragen über das Gleich- beziehungsweise Ungleichsein des Schöpfergottes mit seiner Schöpfung und die mit ihnen verflochtene Christologie, ins Herz der christlichen Metaphysik.

Ist nun die Beschäftigung mit Nikolaus von Kues tatsächlich unzeitgemäß? Zwar hat bereits Ludwig Wittgenstein aufgefordert, nur das zu sagen, was sich sagen lässt und darüber, was sich nicht sagen lässt, zu schweigen – aber Nikolaus von Kues schweigt (noch) nicht. Und darum ist er auch noch für den Menschen des 21. Jahrhunderts interessant. Nicht weil dieser Philosoph so modern ist, sondern weil der moderne Mensch in wesentlichen Bestandteilen seines Bewusstseins immer noch so unmodern ist. Denn nur scheinbar hat die Neue Welt (von der Neuzeit bis zur Postmoderne) die metaphysischen Themen Schöpfung – Gott, Endlichkeit – Unendlichkeit, Tod – Unsterblichkeit aus der Welt geschafft. Die Beschäftigung mit Cusanus‘ Werk macht diese Welt wieder aktuell.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Marco Brösch / Walter Andreas Euler / Alexandra Geissler / Viki Ranff (Hg.): Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2014.
448 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783534263653

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