Man muss mit allem rechnen

Der Band „Im Dickicht des Lebens“ präsentiert 13 ausgewählte Erzählungen von Dieter Wellershoff

Von Marc ReichweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Reichwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann, der im Café sitzt, um bei Räucherlachs und Reibekuchen ein Paar am Nachbartisch zu beobachten: „Ich will ja bloß verhindern, dass du vor aller Augen den kürzeren ziehst.“ Eine Frau, die feststellen muss, dass ihr Partner sich aus der Beziehung verabschiedet, ihr seine demente Mutter aber dagelassen hat. Oder ein Ehepaar, das mit der fast erwachsenen Tochter nach Spanien in den Urlaub fährt und sich einbilden kann, ihr Teenager sei gierig danach, etwas zu erleben – tatsächlich aber ist es der Vater, der sich in der Novelle „Zikadengeschrei“ von der Versehrtheit einer Frau in der benachbarten Ferienwohnung erotisch verwirren lässt, wie er es nie für möglich gehalten hätte.

Es sind alltägliche, im besten Wortsinne realistische Situationen, aus denen heraus der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff seine narrativen Konstellationen destilliert. Und es stimmt übrigens, was hier unlängst angemerkt wurde: Viele der Wellershoff-Geschichten spielen am Meer und/oder im Urlaub. Selbst wenn seine Figuren (wie in der Erzählung „Der Rückzug“) in einem stillen Wartezimmer beim Augenarzt sitzen und ihnen alles reglos wie auf einem leibhaften Edward-Hopper-Gemälde vorkommt, heißen die Geräusche, die von der Straße hereindringen, immer noch hübsch meeresmetaphorisch „Dünung“.

Die Prosa, die der pünktlich zum 90. Geburtstag im letzten November kompilierte Band mit Erzählungen von Dieter Wellershoff versammelt, bringt ihre Figuren verlässlich in die Krise – und sie zeigt den Kölner Schriftsteller immer da, wo er verdichtete Einblicke in einzelne Beziehungsschicksale, Liebesgeschichten und Lebensenttäuschungen skizziert, als psychologischen Meister seines Fachs. Die dreizehn Erzählungen des Bandes sind zwischen 1973 und 2005 entstanden, also in einem Zeitraum von rund 30 Jahren. Ihr Umfang differiert: Manchmal hat die Psycho-Krise der Figuren etwas von einer unerhörten Begebenheit an sich und die Erzählung wächst zur veritablen Novelle aus. Manchmal schimmert sie nur in Form einer diffusen Befindlichkeit durch: „Sich wiedererkennen an dem Gefühl, hier falsch zu sein“, heißt es in der Erzählung „Doppelt belichtetes Seestück“ aus dem Jahr 1973.

Dieter Wellershoff, der in den letzten Jahren stark als Mitglied der Flakhelfer-Generation, als Kunstbetrachter und als praktischer Philosoph über das Altern rezipiert wurde, zeigt sich in „Das Dickicht des Lebens“ noch einmal mit seiner originär literarischen DNA.

Die Vorstellung vom Leben als Dickicht, in dem man sich die Dinge nicht überschaubar einrichten kann, sondern – im Gegenteil – mit allem rechnen muss, hat Wellershoff unlängst in einem Interview in der „Welt“ als sein „Weltbild“ charakterisiert. Sie grundiert auch den Ton seiner Erzählungen, der – wie ein Kontrapunkt zu den Erschütterungen, von denen er inhaltlich handelt – immer ruhig, ausgeglichen, beinahe vernünftig daherkommt. Die Sprache ist nicht ganz so radikal lakonisch und rhythmisch reduziert, wie man sie etwa aus dem Manierismus einer Judith Hermann kennt. Ein Blick in den „Briefe“-Band der Dieter-Wellershoff-Werkausgabe lässt aber durchaus ahnen, warum eine Judith Hermann und ein Dieter Wellershoff literarisch aneinander Gefallen finden. Man kann bei Wellershoff (immerhin erscheint sein Werk in 15 Sprachen!) derweil auch an internationale Gewährsträger der Kurzgeschichte wie Alice Munro oder Raymond Carver denken, denn die Art und Weise, wie der Autor Bindungen und Trennungen respektive das, was sie aus den Beteiligten machen, schildert, bleibt in seinen besten Erzählbeispielen ­– im vorliegenden Band sind dies zweifellos „Die Fähre nach England“ und „Zikadengeschrei“ – tatsächlich lakonisch genug, um den Klassikerstatus des Genres zu tangieren.

Noch ein Nachsatz zum Vorwort dieser Ausgabe, das leider gar nicht instruktiv geraten ist. Darin versucht Peter Henning dem Leser unter einem Maximalaufgebot an Anspielungen auf Titel von Wellershoff-Erzählungen noch einmal die Gattung der Short Story als solche beizubringen. Letzteres kann, mit Verlaub, jedes blaue Bändchen bei Reclam besser. Ergiebiger wäre gewesen, den Wellershoff der kurzen Form mit dem Wellershoff der Romane sowie den essayistischen und autobiografischen Stoffen in Beziehung zu setzen. Denn die Ruhe, Besonnenheit und Konzentriertheit, mit der Wellershoff die Ungeheuerlichkeiten unseres Gefühls-Lebens auszuleuchten versteht, machen viele seiner Erzählungen zu psychoanalytischen Fallgeschichten.

Titelbild

Dieter Wellershoff: Im Dickicht des Lebens. Ausgewählte Erzählungen.
Zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen von Peter Henning.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
423 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462049145

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch