Kein harmloses Familienbuch

Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ ist längst ein Klassiker der Kinderliteratur – Andreas Nohl hat es jetzt neu übersetzt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Familienbuch, ein Kinderbuch, aber wenigstens ein Klassiker – Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ ist bereits seit vielen Jahren kanonisiert. Allerdings haben die Geschichten um Mogli – die den ersten Band ausmachten – das Schicksal vieler anderer Texte der vormals großen Literatur geteilt. Sie wurden zur Kinderliteratur degradiert, ohne Ansehen der Qualität oder der Inhalte. Personal, Plot und Struktur der Geschichten erlauben es aber nur vorgeblich, solche Texte in dieses Ressort ‚abzuschieben‘. Denn wer etwa von Märchen glaubt, sie seien harmlos genug, dass Kinder sie ertragen können, hat nur die kastrierten Fassungen kennengelernt. Man betrachte dazu nur einmal das Ende von „Schneewittchen“, von „Die zwei Brüder“ oder von „Hänsel und Gretel“.

Ähnliches ist mit dem „Dschungelbuch“ geschehen, das zwar allgemein bekannt ist. Aber vor den Text hat sich die zwar amüsante, aber eben doch deutlich eingedampfte und gedämpfte Disney-Fassung gelegt, in der der kleine Mogli, der bei den Wölfen aufwächst (von anderen Fällen dieser Art haben sogar die indischen Wölfe ansatzweise gehört), doch tatsächlich einen Lendenschurz trägt. Die Niedlichkeit des Films lässt die präzise Härte des Textes vergessen.

Ist Natur schön? Ja, solange man nicht in ihr gefangen ist. Mogli aber wird, als kaum Einjähriger vor dem lahmenden Tiger Schir Kahn auf der Flucht, von einer Wolfsfamilie und schließlich einem Wolfsrudel aufgenommen und aufgezogen. Er lernt, sich in der urwüchsigen Umgebung souverän zu bewegen und ist, mithilfe seines Mentors Baghira, einem den Menschen entflohenen Panther, sogar in der Lage, sich zum Meister seines Dschungels zu machen.

Er lernt die Sprache der Tiere und weiß, sich mit den Starken unter ihnen zu verbünden, ohne sich die anderen – soweit möglich – zu Feinden zu machen. Baghira, der Panther, Balu, der Bär, Kaa, die Python, Hathi, der Elefant, Akela, der alte Leitwolf, der ihn einst aufnahm und dem er einen würdigen Abschied ermöglicht, sind seine Verbündeten und Fürsprecher. Seine größte Stärke ist freilich, dass er trotz aller Anpassung ein Mensch bleibt und deshalb den Tieren überlegen ist – an Intellekt, an planerischer Intelligenz, an Konsequenz und schließlich an Skrupellosigkeit. Zeichen dafür ist, dass keines der Tiere, seine Wolfseltern ebenso wenig wie Baghira oder Schir Khan, in der Lage ist, ihm in die Augen zu sehen.

In der Tiergesellschaft, die nach Kasten und Rassen geordnet ist und die eigenen Gesetzen gehorcht, die für alle gelten – für die Raubtiere ebenso wie für die Pflanzenfresser –, ist allein Mogli in der Lage, sich über diese Ordnung hinwegzusetzen und sich zu ihrem Herrn aufzuschwingen. Mit allem, was dazugehört. Und dazu gehört eben auch, dass er Schir Khan, der ihm sein Leben lang nachstellt, in eine Falle lockt und tötet.

Wie sehr Mogli seinem Dschungel angehört, ist an den wenigen Begegnungen mit den Menschen zu erkennen, die in den Geschichten des ersten Teils erzählt werden. In seinem Zorn vernichtet er schließlich das Dorf seiner eben wiedergefundenen leiblichen Eltern, weil dessen Bewohner sie töten wollen. Die größten Differenzen zwischen Menschen und Tieren liegen jedoch in der völligen Unwissenheit und Mythenverfallenheit der Menschen, die vom Dschungel nichts wissen, obwohl sie in seiner direkten Nähe, ja teilweise von ihm leben, und ihrer völligen Selbstvergessenheit. Sie, nicht die Tiere, sind die Dummen.

Allerdings verkehrt sich dies bei der abschließenden Geschichte des ersten Buches, die von der Rückkehr Moglis in die Gesellschaft der Menschen erzählt. In ihr wird aus dem Herrscher des Dschungels ein junger Wilder, der sich freiwillig den englischen Kolonialherrn unterordnet. Die Entscheidung, dass er den Dschungel wieder verlässt, hat ihm bereits Baghira angekündigt. Im Vollzug ist sie ein wenig enttäuschend. Der Erzähler, der bis dahin nahe bei seinem Protagonisten gewesen ist, geht auf einmal auf Distanz – und mit ihm seine Leser.

Freilich ist in diesem Teil des „Dschungelbuchs“ kein Mythos begründet, und er handelt auch nicht im Geringsten von der „geheimnisvollen Freundschaft“ zwischen Tieren und Kindern, von dem der Übersetzer Andreas Nohl im Nachwort spricht. Bei allem Respekt vor der übersetzerischen Leistung Nohls, im Nachwort gehen ihm die Pferde durch.

Gerade am zweiten Buch, in dem Mogli keine Rolle spielt, wird erkennbar, dass das „Dschungelbuch“ nicht vom Dschungel respektive von der Natur reden will, sondern vom Menschen. Und hier wird es in der Tat schwieriger und kritischer, als es Nohl wahrhaben will. Man mag der Ansicht sein, dass es mit Kiplings „Imperialismus“ nicht allzu weit her war, zu einem Menschenfreund oder gar Progressiven macht ihn gerade das „Dschungelbuch“ dennoch nicht. Ein Mensch als Herr über den Dschungel, über ein soziales System, das auf Gattungen, ja auf Rassen aufbaut? Ein von Wölfen, einem Panther und einem Bär (nicht von Rindern) sozialisierter Mensch, der die Dummheit der Menschen vorführt? Das lässt sich nicht einfach einem humanistischen Gedankengut zuordnen.

Die Kritik an der Gegenwartsgesellschaft ist dem „Dschungelbuch“ eingeschrieben. Wenn von Tiefen die Rede ist, stehen meist Menschen im Fokus, denn bei Tieren kann ein Autor in Extreme gehen, die er sich in realistischen Erzählungen schon nicht mehr zutraut – ohne dass man es als Schlüsseltext lesen sollte. Die Erzählungen, die auf so unterschiedliche Autoren wie Jack London, Waldemar Bonsels oder auch Herbert Eulenberg vorausweisen, lassen sich ohne Weiteres in die Zivilisationskritik um 1900 einschreiben – und die ist keineswegs per se der linken oder fortschrittsfreundlichen Seite zuzuordnen. Nicht einmal die Rede vom „freien Volk“ der Wölfe und deren Ratsversammlung sind dafür einschlägig. Das gibt es sogar und gerade im rechten Spektrum. Spätestens Moglis freiwillige Unterordnung unter die englischen Kolonialherren wirft ein aufschlussreiches Licht auf diese Geschichten.

Die darin aber keineswegs aufgehen. Denn dagegen stehen der Überlebenswille und der Lernwille (nicht nur) des kleinen Mogli, also Eigenschaften, die dem jungen Menschen in dieser Situation wie im England des späten 19. Jahrhunderts gut zu Gesicht stehen. Man wird also mit gutem Grund nicht so leicht fertig mit diesem „Dschungelbuch“ und ist gut beraten, es nicht als harmloses Familienbuch abzutun – so gut es sich zum Vorlesen eignet und zur Lektüre empfohlen werden soll.

Dazu trägt der Sound bei, den Andreas Nohl in seiner Übersetzung erzeugt. Hatte Curt Abel-Musgrave in seiner frühen Übersetzung noch einige Eingriffe in den Text Kiplings eingestandenermaßen vorgenommen, näherte sich Dagobert Mikusch in seiner bei der Bibliothek Suhrkamp erschienenen Übersetzung wieder mehr dem Original an. Seine Auswahl ließ aber etwa die Schlussgeschichte des Mogli-Zyklusʼ aus, was das Gesamtbild dann doch trübt. Schön auch die Bewegung der Eigennamen, von Maugli über Mowgli zu Mogli, der man noch weitere Beispiele anderer Übersetzer beifügen könnte. Das „Dschungelbuch“ wird anscheinend gern übersetzt. Den neueren Übersetzungen mag man folgen oder nostalgisch an Abel-Mugraves Fassung hängen, die 1898 zum ersten Mal erschien – in jedem Fall ist Nohls Übersetzung satisfaktionsfähig und vor allem höchst vergnüglich zu lesen. Guter Lesestoff mit Nahrung fürs Hirn, zumindest für diejenigen, die nicht die ganze Zeit die Disney-Figuren vor Augen haben. Ihnen sei das ganze Bedauern ausgesprochen, zu dem ein Leser in der Lage ist.

Titelbild

Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch 1 & 2.
Herausgegeben von Andreas Nohl und illustriert von Sarah Winter.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Nohl.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
527 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783958290495

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