Dichtung und Wahrheit in „Mr. Holmes“
Ein Mythos begegnet sich selbst
Von Andreas P Schmid
Noch 2011 sahen wir in Sherlock Holmes: Spiel im Schatten einen durchtrainierten, clever kombinierenden und kämpferischen Superdetektiv, der in – wenngleich wenig eleganter – James Bond-Manier Verfolgungsjagden, Explosionen und Schießereien mühelos überstand. Nur vier Jahre später, zu Weihachten 2015, ist Holmes 50 Jahre älter, leidet an Demenz und züchtet Bienen in der Einöde. Fernab der Baker Street und dem Londoner Stadtleben verbringt der berühmte, aber greise Ermittler zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Ruhestand zurückgezogen an der Südküste Englands. Ganz allein ist er nicht: Seine Haushälterin und deren Sohn Roger kümmern sich und begegnen ihm dabei nie mit heroisierender Bewunderung, sondern nehmen ihn auf ganz verschiedene Weise sehr ernst. Bei seinem Wechsel vom Zentrum in die Peripherie musste Holmes jedoch vieles zurücklassen: Dr. Watson, das Detektivgeschäft, Erinnerungen an vergangene Fälle und vor allem die Unsterblichkeit, die seinem eigenen Mythos anhaftet. Diese neu entdeckte Verletzlichkeit und das allzu Menschliche scheinen im Film von Bill Condon die Stelle von Professor Moriarty als ‚Final Problem’ einzunehmen. Doch Mr. Holmes ist glücklicherweise nicht das sentimentale Rührstück über Pflegebedürftigkeit und Älterwerden, das sich an einigen Stellen anzukündigen scheint. Auch verzichtet man insgesamt auf ein wohlfeiles Werben für Generationenverantwortung, das gegen Ende nur kurz anklingt. Was den neuen Holmes auszeichnet, ist eine weitgehende und feinfühlige Selbstreflexion der Figur, die bis hin zum Nachdenken über Fiktion und Wahrheit in der Kunst, insbesondere in der Literatur ausgebaut wird. Während Guy Ritchie die Zerstörung der Kulisse oder die Wirkung von Fausthieben in Zeitlupe bloß zelebriert, greift Bill Condon zur klassisch-detektivischen Lupe und vergrößert Sherlock Holmes vielmehr, als ihn ins Gewöhnliche und Alltägliche herabzusetzen. Es gelingt, die zum Mythos gewordene Figur mit sich, ihrer Entstehung und ihrer Tradition zu konfrontieren, ohne sie dabei aufzulösen oder zur selbstreferentiellen Parodie verkommen zu lassen. Ist Holmes auch noch so sehr um die Richtigstellung der eigenen Geschichte bemüht, muss und will er sich zuletzt für die Fiktion entscheiden – denn seine Korrekturen sind nichts anderes als er selbst: Fiktion.
Der ‚echte’ Sherlock
Er habe nie eine Geschichte schreiben wollen, außer, um die ganzen Fehler in Dr. Watsons trivialen Erzählungen zu tilgen, begründet Holmes an einer Stelle seine anfänglichen Schreibversuche. Besonders mit der Erinnerung an seinen letzten Fall, nach dem er sich aus unklarem Grund zur Ruhe gesetzt hat, kämpft der gealterte Detektiv. Das Aufschreiben dient – neben der Einnahme kurioser Heilmittel – der Beförderung des Gedächtnisses, das im Verlauf der Demenz zusehends schwächer wird. Mit dem Verlust der Erinnerungen geht ein Siegeszug des Mythos einher, der die Wahrheit und jegliches Interesse an selbiger zu verdrängen scheint. Holmes allein ist an ihrer Rekonstruktion gelegen, und darin zeigt sich, dass mit der Hartnäckigkeit und dem analytisch-rationalen Ansatz der Ermittlung doch wenigstens die zentralen Eigenschaften den Umzug aufs Land überstanden haben. Jedoch geht es ihm nicht um die Aufklärung der von Taschenromanen und Leinwandabenteuern scheinbar irregeführten Öffentlichkeit, sondern um eine ganz persönliche. Bei seinen Nachforschungen verzichtet er auf die Rückkehr an Orte der Vergangenheit und bleibt der Sphäre des Privat-Häuslichen verhaftet. Nur in der Rückblende sehen wir den Detektiv in Japan, England, der Öffentlichkeit. Dort bricht er mit der Fiktion, aber dies stets zugunsten einer neuen Fiktionalisierung: Er trage keinen Hut und rauche Zigarre statt Pfeife, behauptet er in Japan, nur um in der nächsten Einstellung mit Hut auf dem Kopf die Straße entlang zu gehen. Auf das Rauchen verzichtet er ganz. Seinem Begleiter erklärt er sodann, dass die von Dr. Watson geschaffene Figur sein Handeln bestimme: Er könne ihr Verhalten nur entweder adaptieren oder sich gegensätzlich entscheiden. Die Figur betrachtet sich damit als abhängig von der Figur der Figur und inszeniert sich dementsprechend – als Abbild oder Gegenbild. Auch eine esoterisch anmutende Musiklehrerin glaubt nicht, den echten Sherlock vor sich zu haben, als dieser, ohne die erwarteten Attribute mitzuführen, den Unterricht stört. Diese Notizen verweisen allerdings vielmehr auf die Schwierigkeit, eine bereits etablierte Figur anders als bisher zu fiktionalisieren, denn auf die Krise einer echten Berühmtheit: Will man Sherlock Holmes neu erfinden, bestätigt oder widerlegt man stets die Vorlagen und muss befürchten, dass die Rezipienten nur das ‚Original’ suchen und über dessen Ausbleiben enttäuscht sind. Dem Zuschauer im Kino hingegen rückt die Figur immer näher, bis er davon überzeugt ist, den Detektiv, so wie er ‚wirklich’ war, vor sich zu haben. Im markanten Widerspruch zu einer Brecht’schen Verfremdung entfaltet der Film hier seine Sogkraft: Die Illusion funktioniert, obwohl und gerade weil sie ihren fiktionalen Charakter herausstellt.
Die Erinnerung an die Fiktion
Verstärkt wird diese Distanzüberwindung durch die direkte Begegnung Holmes’ mit dem eigenen fiktionalen Äquivalent, das Film wie Zuschauer in Opposition zur Figur setzen. Das Original konkurriert mit dem Realen, aber nur scheinbar. Im Kino und bei der Lektüre der Watson-Erzählungen ist der 93-Jährige verärgert, denn die Stilisierung in der künstlerischen Darstellung stimme auf keinen Fall mit der Realität überein – doch wie darf man sich diese Realität vorstellen? Wie war es denn ‚tatsächlich’? Findet nun eine Berichtigung durch das Authentische statt? Kann es eine solche überhaupt geben? Sherlock erinnert sich nur allmählich und bedarf stets einer Inspiration durch seine unmittelbaren Umgebung: Es sind alltägliche Gespräche, Gegenstände aus früherer Zeit und nicht zuletzt der Schreibprozess, die ihm als profane Musen dabei helfen, das Vergessene fast platonisch wieder ans Licht zu befördern. Die wichtigsten Anstöße erhält er von Roger, dem er neben dem Imkerhandwerk sein Dogma beibringt: ‚Fakten vor Fiktion’. Wie zuverlässig und wahrheitsgetreu die Eingebungen sind und damit auch, welcher Anteil an Dichtung in der anschließend niedergeschriebenen ‚Wahrheit’ enthalten ist, bleibt offen – es wird dafür keine explizite Auflösung angeboten. Doch entscheidet sich Holmes am Ende für das Fiktionale und erkennt dabei selbst und lässt uns erkennen: Die Erzählung, sofern gut gemacht, funktioniert manchmal besser als der Faktenbericht, denn die Fiktion gehört zur Wirklichkeit.
Eine letzte Zuspitzung erfährt diese Wendung beim Verfassen eines Briefs nach Japan, dessen Inhalt – für den Adressaten von großer Bedeutung – Holmes aus den Titeln einiger zufällig ausgewählter Bücher und vor allem mit Hilfe von Fantasie und Erfindung zusammenflickt. Im Kontext der nicht allzu neuen Erkenntnis, dass nicht alles im menschlichen Handeln logisch erklärbar ist, bricht der Detektiv schließlich mit seiner Fakten-Verehrung und erlaubt das Wahrscheinliche im Rahmen des Wahren. Der beschönigte Brief soll dem Empfänger die plausible, aber nicht erinnerte Geschichte seines Vaters als die eines bewundernswerten Mannes erzählen und erreicht sein Ziel, wenn der Sohn das Erfundene als Erinnerung behält und damit zufrieden ist. Zufrieden sein mit der Fiktion – das kann auch Sherlock Holmes und nicht zuletzt der Zuschauer im neuen Film.
Mr. Holmes – eine nur leicht getrübte Freude
Dass mein Sitznachbar einen Großteil der Vorstellung verschlafen hat, ist zugegeben nicht ausschließlich auf seine Übernächtigung zurückzuführen. Die eine oder andere Länge und die eine oder andere allzu vorhersehbare Entwicklung kann man nicht leugnen. Auch auf eine gewisse Gefühlsseligkeit und typische Familienfilmmomente wurde leider nicht verzichtet. Doch verliert sich der Film nicht in diese Gefilde, sondern konzentriert sich auf die zentrale Frage nach Dichtung und Wahrheit, und das gelingt ihm sehr gut. Wirklich ärgerlich ist allein der leichtfertige Umgang mit dem Weltkriegskontext beim Besuch in Hiroshima. Eine halbseitig entstellte Frau löst nur kurz Erschütterung aus, von einem spirituell Trauernden fühlt man sich kaum berührt und die albern aussehende postatomare Landschaft ist lediglich der Hintergrund für ein Heilkraut, das sich als Placebo herausstellen soll. Selbst wenn Holmes in der letzten Einstellung das hier beobachtete Trauerritual adaptiert, findet keine Auseinandersetzung statt. Etwas mehr als nur ein Kulissendasein hätte man der historischen Einbettung schon zugestehen können. Ins Gewicht fällt dieser Schnitzer jedoch kaum, will Mr. Holmes ja nicht die Kriegsfolgen aufarbeiten. Stattdessen besticht der Film durch großartiges Schauspiel (Ian McKellen), detailreiche Figurencharakteristik und einen würdevoll charmanten Umgang mit dem schon so oft rezipierten Mythos. Im auffallenden Widerspruch zur grünstichigen Künstlichkeit der rasanten Actionmär mit Robert Downey jr. zeigt uns Condon eine künstlerische Echtheit, die in ihrer Fragilität allein durch das Zauberhafte vor dem Zusammenbruch bewahrt werden kann. Angenehm unaufgeregt erzählt er eine nachdenkliche, aber nie verkopfte, und vor allem eine schöne Geschichte. Und wie wertvoll schöne Geschichten sind, lernen wir dabei noch von Sherlock Holmes höchstpersönlich.
Mr. Holmes
Erscheinungsdatum: 19. Juni 2015
Regisseur: Bill Condon
ProduzentInnen: Anne Carey, Iain Canning, Emile Sherman
Musik: Carter Burwell
Länge: 104 Minuten
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen