Der Mensch ist ein Spielball des Lebens

Adolf Muschg öffnet in seinem Alterswerk „Die japanische Tasche“ ein verwirrendes Füllhorn an Geschichten

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt mit einem Knall: „Ein beinharter Schlag gegen den Unterbau des Triebwagens“, der Zug bleibt stehen: ein „Personenunfall“, ein Selbstmord. Während die Reisenden darauf warten, dass es weitergeht, dass der „Abspritzwagen“ kommt, der die Überreste aufsammelt, kommt man sich kurz näher. Auch der Geschichtsprofessor Beat Schneider muss warten, ehe er in sein Refugium zurückkehren kann, die Münsterburger Villa „Auerhahn“, wo sich die Wege vieler Menschen kreuzen. Hier ist Schneider vor vielen Jahren eingezogen und hat sich in Elinor, die Tochter der Besitzerin, verliebt. Von hier bricht er auf, um LouAnn zu heiraten, hierher kehrt er wieder zurück, nachdem er in einem Anfall von Eifersucht seine Frau geschlagen hat. LouAnn, auf geheimnisvolle Art behindert, Analphabetin und Künstlerin, zieht sich daraufhin wie Robert Walser in eine Klinik zurück und kommuniziert nur noch durch kryptische Zeichen, winzige Punkte, die lediglich unter dem Mikroskop entzifferbar sind.

Das große Thema des neuen Romans von Adolf Muschg, „Die japanische Tasche“, sind die Zufälle des Lebens. Seine Geschichte und Geschichten. Seine Wege, auf denen wir gehen oder manchmal getrieben werden: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Einige von Muschgs Figuren sind Waisen, ihre wahre Familie ist unbekannt: Beat Schneider wurde als Säugling einem Pfarrer Butz vor die Tür gelegt; seine Frau dachte, es sei sein Sohn und hat ihn sofort verlassen. Schneiders Mutter Alcina gelingt es, als Kindermädchen bei Butz zu arbeiten und das Aufwachsen ihres Sohns mitzuverfolgen. Eigentlich aber heißt sie Megi Rohner, und auch sie ist geistig behindert.

Muschgs Altersroman ist ein verwirrendes Füllhorn, ein Knäuel von miteinander verknüpften oder lose verbundenen Geschichten, Diskussionen und Figuren, deren Existenzen immer unwahrscheinlicher werden. Und die, wie Schneider selbst, überhaupt völlig aus dem Roman verschwinden. Dafür trifft in einem märchenhaften, zeitlosen Wald Schneider plötzlich auf Emil Gygax alias Sutter, einer Figur aus Muschgs Roman „Sutters Glück“, der sich den Rucksack mit Steinen gefüllt hatte, um seiner gestorbenen Frau in den Tod zu folgen. Sogar eine ganze Schulklasse verschwindet spurlos im Wald.

Das ist nicht immer einfach nachzuvollziehen, ebenso wie die vielen Anspielungen auf andere Bücher, auf Kulturtheorien, Teilchenphysik, Molekularbiologie, die Schweizer Geschichte oder die Beziehung des Fadenwurms zur Krebsforschung. Auch die Beziehungen verschwimmen oder bleiben angedeutet vage: So hieß Gygaxʼ Frau eigentlich Rohner, wie Schneiders Mutter, und Gygax hat mit Megi Rohner auch einmal geschlafen. Aber dieses Verwirrspiel ist Programm: Nichts ist sicher, nichts ist wie es scheint, Beziehungen werden eingegangen und lösen sich immer wieder auf. Der Mensch ist, so scheint Muschg sagen zu wollen, hin und her geworfen, ein Spielball des Lebens. Themen tauchen in der Familie in Variationen immer wieder auf. Themen, denen man kaum entgehen kann, sind sie doch Teil des eigenen Lebens.

Einfach macht Muschg es dem Leser also nicht, aber dennoch ist sein Roman ein schönes Leseerlebnis, so dicht und atmosphärisch, so sicher und gleichzeitig raffiniert sind die Geschichten darin erzählt, so brillant und oft ein wenig ironisch wird man durch ein barockes Sprachlabyrinth geleitet.

Titelbild

Adolf Muschg: Die Japanische Tasche. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
482 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406682018

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch