Wie viele Dimensionen hat ein Buch?

Der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase spürt dieser Frage in der Diskussion der Gegenwart und Moderne nach

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viele Dimensionen hat ein Buch? Eine spontane Antwort auf diese Frage könnte lauten: Unendlich viele! Wie sollte sich Fiktion, Imagination in Dimensionen, noch dazu in den uns bekannten, vermessen lassen können? Die Literatur als Reich des Möglichen, als metaphorische „Welt“, scheint eher den n-dimensionalen Räumen der Physik und Mathematik vergleichbar; Räumen, die über den euklidischen Raum – den Raum unserer direkten Anschauung, den uns umgebenden physischen Raum – unendlich weit hinausgehen und sich in der Nichtfassbarkeit verlieren.

Im weiteren Nachdenken darüber kristallisiert sich eine grundlegende Unterscheidung heraus, die vom Buch als einem konkreten haptischen Gegenstand, einem dreidimensionalen Objekt, das sich in den räumlichen Dimensionen von Breite, Höhe und Tiefe erstreckt, sich material in Textform manifestiert, Gestalt annimmt als Aneinanderreihung von Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Seiten; und eben die vom Buch als einem metaphorischen Gebilde, einem metaphorischen Behältnis der fiktionalen, nicht vermessbaren „worlds“ der Literatur. Bei der Betrachtung der drei Dimensionen des Buches scheint es also in der Tat um die Betrachtung desselben als eines Dings zu gehen, das aus Linien, Flächen, Blättern und also physischem Raum besteht: das Buch als Körper.

In seinem schmalen, ästhetisch ansprechend gestalteten Buch „Linie, Fläche, Raum“ geht Carlos Spoerhase, Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin und gegenwärtig an der University of Pennsylvania in Philadelphia im Bereich der „History of Material Texts“ über die Buchförmigkeit der deutschen Literatur forschend, den Dimensionen des Buches im Rekurs auf Walter Benjamin, László Moholy-Nagy und Julius Rodenberg nach. Er zeigt, inwiefern sich die Frage nach den Dimensionen des Buches, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgeworfen wurde, heute erneut mit besonderer Dringlichkeit stellt und nach neuen Antworten verlangt. Ein Ausgangspunkt seiner Darlegungen ist die Beobachtung eines Theoriedefizits beziehungsweise einer poetologischen Unaufmerksamkeit – vielleicht sogar Blindheit – der Literaturwissenschaft hinsichtlich der Wahrnehmung aller Dimensionen des Buches.

„Linie, Fläche, Raum“ ist als Band 8 der Reihe „Ästhetik des Buches“, herausgegeben von Klaus Detjen, im Wallstein Verlag erschienen. Autoren diverser Disziplinen widmen sich in dieser Reihe „den einzigartigen ästhetischen, kulturellen und wahrnehmungspsychologischen Qualitäten“ des gedruckten Buches. In Essays, Porträts und Kommentaren werden das Buch, seine Optik, Haptik und Formgebung, seine Funktionen und Wirkungen sowie die Tradition der Typografie und der Gestaltung diskutiert. Hierbei konzentriert sich der Diskurs zur Buchform und zum Buch als Form auf „die sinnlichen und lesetechnischen Vorteile dieses Mediums“ und vermittelt Einblicke in die Arbeit daran. Bislang erschienen in der Reihe Titel wie „Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches“ von Roland Reuß oder „Medienkörper. Wandmedien – Handmedien – Digitalia“ von Uwe Jochum.

Spoerhase nun widmet sich zu Beginn seiner Ausführungen „den beiden Dimensionen“ des Buches und nimmt Bezug auf einen Essay von Jeffrey Schnapp und Adam Michaels über das experimentelle Taschenbuch im elektronischen Zeitalter, in dem die beiden Autoren „eine mediale Urszene der kontinentaleuropäischen literarischen Moderne“ konstruieren: Diese Moderne setze nämlich ein mit zwei konkurrierenden Fundamentalkonzeptionen des Buches – dem symbolistischen Stéphane Mallarmés, das noch einmal die Totalität in einem einzigen Buch versammeln wolle, und dem „gesprengten avantgardistischen Buch“ László Moholy-Nagys, das „ein transitorischer und durchlässiger Schauplatz für die Gegenwart“ sein wolle. Während Mallarmés Projekt letztlich auf Gutenberg zurückverweise und zugleich von einem traditionalistischen Synthesestreben gekennzeichnet sei, antizipiere das Projekt Moholy-Nagys bereits das elektronische Informationszeitalter der Zukunft.

Spoerhase legt in seinen Ausführungen anhand der Theorie des Buches der späten 1920er-Jahre überzeugend dar, dass es die von Schnapp und Michaels skizzierte Alternative Total-Buch oder Jetzt-Buch „nie gegeben hat“. In den buchtheoretischen Diskussionen dieser Zeit hätten beide Konzeptionen nicht nur in engem Zusammenhang miteinander gestanden, sondern seien auch jeweils auf die ästhetischen Innovationsvorgaben ephemerer Drucksachen wie Zeitungen, Zeitschriften und Plakate bezogen gewesen, weshalb sie aus sich selbst heraus kaum angemessen zu verstehen seien. Die Moderne werde also nicht unter der Schirmherrschaft von zwei ebenso maßgeblichen wie selbstgenügsamen Fundamentalkonzeptionen des Buches ins Leben gerufen, sondern vielmehr von der „fundamentalen (intellektuellen und gestalterischen) Herausforderung, die Modernisierungsfähigkeit des Buches zu reflektieren“. Wie die von ihm untersuchten Essays zeigten, könne die Reflexion über das Buch nicht mehr umhin, sich nachdrücklich zu ästhetischen Innovationen in „heteronomen“ Bereichen des Druckwesens ins Verhältnis zu setzen.

Die ästhetische Theorie und Praxis der literarischen Büchermacher sah sich im Laufe der 1920er-Jahre zunehmend von der ästhetischen Theorie und Praxis der Plakatmacher überholt: Vor dem Hintergrund einer als maßgeblich wahrgenommenen zweidimensionalen Visualität des modernen Plakats entwickelten Theoretiker des Buches wie Valéry, Benjamin und Moholy-Nagy ein reges Interesse für die ästhetischen Eigenschaften der Doppelseite des Buches. Aufgrund der konkreten medienhistorischen Konstellation hätten diese Theoretiker aber, so Spoerhase, keinen Anlass gesehen, ein entsprechendes Interesse für die Dreidimensionalität und Taktilität der buchförmig gehefteten oder gebundenen Blätter aufzubringen.

Die theoretische Beschränkung der ästhetischen Beobachtung von Büchern auf die zweidimensionale Doppelseite, das theoretische Desinteresse an der Dreidimensionalität der buchförmigen Schriftlichkeit, konstatiert Spoerhase, halte bis in die Gegenwart hinein an: Wie die kontinentaleuropäische Avantgarde, deren Reflexionen sich weitestgehend auf die Zweidimensionalität der Buchseite und des Plakats beschränkten, interessierten sich auch die meisten neueren Studien zur Materialität der Literatur kaum für die Materialität des Buchs, sondern für die Materialität der Seite. Für weite Teile der theoretischen Reflexion über textuelle Materialität sei das Buch als lediglich zweidimensionale Seitenfläche von einem Bildschirm nicht zu unterscheiden. Dies habe erhebliche Konsequenzen für die aktuelle Frage, welche Herausforderungen sich bei einer umfassenden Digitalisierung der Erzeugnisse der Buch-Kultur stellen. Hier werde man es praktisch nicht dabei belassen können, „analoge bedruckte Blätter massenhaft in digitale Bildschirmseiten zu transformieren“.

Ein Buch hat mehrere Dimensionen: Linie, Fläche, Raum. Wie diese beschrieben, diskutiert und bewertet werden, prägt immer auch unseren Blick auf und unsere Beschäftigung mit Literatur. Bemerkenswert ist hierbei auch Spoerhases Hinweis, dass ein voluminöser Textumfang, der sich in den materiellen Maßen der Buchgestalt deutlich niederschlägt, oft eng mit dem ästhetischen Ideal einer literarischen Welthaltigkeit verknüpft erscheine, mithin dem Werk nicht äußerlich bleibe.

Im Kapitel „Linie und Fläche“ diskutiert Spoerhase Valérys Essay „Les deux vertus d’un livre“ („Die beiden Tugenden des Buches“), in dem dieser betont, dass sich der Blick auf die Literatur nunmehr auch auf das Sichtbare, das Objekthafte und Körperliche der Literatur zu richten habe. An der Materialität der Literatur interessiere Valéry vor allem die Buchseite: Jenseits der sukzessiven, linearen und schrittweisen Lektüre der Seite sei eine ebenso unmittelbare wie simultane Seitenwahrnehmung, ein Totaleindruck, möglich. Damit rücke die Typographie für Valéry nah an die Architektur heran. Das „schöne Buch“ weist mithin zwei Tugenden auf: Einerseits ist es ein perfektes Vehikel für die sukzessive und lineare Lektüre, andererseits ein für die synoptisch-simultane Wahrnehmung eingerichtetes Objekt. Dem simultanen, intuitiven „Sehen“ von Texten, das der räumlichen Wahrnehmung von Bauwerken analog gestellt wird, setzt Valéry ein konsekutives, intellektuelles „Lesen“ von Texten entgegen, das der temporalen Wahrnehmung von Musik analogisiert wird: „Le texte vu, le texte lu sont choses toutes distinctes“. Valéry interessiert sich in seinem Essay vornehmlich für wahrnehmungstheoretische Fragen. Ein leichtes Wechseln zwischen den beiden ästhetischen Modi „Sehen“ und „Lesen“, konzediert Spoerhase, werde von Valéry als ein zentrales Gütekriterium für buchförmige Literatur (das Buch als materielles Artefakt) vorgeschlagen.

In den folgenden fünf Kapiteln seines Buches setzt sich Spoerhase mit Aspekten wie „Horizontale und Vertikale“, „Lineare Dimension und totale Dimensionalität“, „Einflüsse des Ephemeren“, „Doppelseite und Buchkörper“ sowie schließlich explizit der „Dreidimensionalität des Buches“ auseinander. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis schließt den Band ab.

In Walter Benjamins Mediengeschichte der Schrift, so Spoerhase, sei die Epoche der buchförmigen Schrift bereits ein abgeschlossenes Zwischenspiel: Die heteronome Vertikale der Tageszeitungen und der Straßenreklame verdränge die autonome Horizontale des gedruckten Buches. Die Schrift, heißt es in Benjamins „Einbahnstraße“, „die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt“. Das gedruckte Buch wird von Benjamin als ein Medium der Sammlung, als „Asyl“ eines „autonomen Daseins“ der Schrift, als ein gleichsam kontemplativer Ort eines „Eindringens in die archaische Stille“ imaginiert, dem die Zerstreuung durch ein „dichtes Gestöber von wandelbaren, streitenden Lettern“ in der Tagespresse und im Plakatdruck – sowie im großstädtischen Straßenbild insgesamt – kontrastiert. Das Buch in seiner tradierten Form, bemerkt Spoerhase, sei für Benjamin als Mediengattung nicht mehr gegenwartstauglich und einer abgeschlossenen Epoche zugehörig. Dafür werde es als vergangenes Individualobjekt mit eigener Geschichte und eigenem Schicksal ein Gegenstand intensiver bibliophiler Begierde und Nostalgie. Bibliophilie versteht Benjamin als „Physiognomik“, der Büchersammler wird somit zum „Physiognomiker der Dingwelt“.

„Linie, Fläche, Raum“ ist ein hoch-diskursives und reflektiertes, zugleich elegant und überaus kenntnisreich geschriebenes Buch. Eine besondere, das Auge und die Lektüre zunächst überraschende und dann sehr entlastende Erfahrung wird dadurch ermöglicht, dass die Anmerkungen sich jeweils separat auf der linken Seite der Doppelseite gedruckt finden – so entstehen Frei-Flächen, was dem Buch in formaler Hinsicht die inhaltliche Reflexion auf die Flächigkeit von Literatur einschreibt. Der flächenhafte Charakter des Seite wie auch das architektonische Moment von Textualität wird vorgeführt; Wahrnehmungs- und Darstellungsästhetik, ihrerseits inhaltlicher Gegenstand von Spoerhases Ausführungen, werden auf formaler Ebene thematisch.

Spoerhases Schrift sensibilisiert für die besonderen ästhetisch-sinnlichen Qualitäten des gedruckten Buchs. Sie öffnet einen mehr-, ja viel-dimensionalen (Wissens-)Raum und stellt ihn fühlbar vor Augen. Buchkunst, das zeigt Spoerhase ganz deutlich, ist, wie Julius Rodenberg 1921 in „Zur Architektonik des Buches“ schrieb, „in erster Linie Raumkunst“.

Kein Bild

Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne.
Herausgegeben von Klaus Detjen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
72 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318250

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch