Überraschende Blicke auf Gärten

Marion Poschmanns Gedichtband „Geliehene Landschaften“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Marion Poschmanns Gedichtband „Geliehene Landschaften“ verweist auf die japanische Gartenkunst. Traditionelle japanische Gärten werden oft wie märchenhafte, idyllische Landschaften angelegt und folgen dabei Mustern einer jahrhundertealten Kultur des Gartenbaus. Ihre wesentlichen Elemente sind Teiche, Bachläufe, kleine Wasserfälle und Inseln, Brücken, Blumen natürlich, Büsche, Baumgruppen, Wege, Steine, Pavillons sowie Gartenhäuser aller Art. Die Gärten werden so angelegt, dass sie vom Wohnhaus aus überblickt werden können und dem Auge des Betrachters eine beschaulich-idyllische Landschaft bieten. An dieser Stelle wird der Begriff „geliehene Landschaften“ bedeutsam. Damit ist gemeint, dass sich die Gärten, je nach Lage, eine weiträumige Landschaft „borgen“, die zum Bestandteil der Gartenanlage wird. Eine solche ‚geliehene‘ Landschaft kann eine Hügelgruppe, ein Wald, ein fernes Gebirge oder die Silhouette einer Stadt sein, die mit ihren Hochhäusern und modernen Bauten einen spannungsreichen Kontrast zur Gartenidylle bildet.

Marion Poschmann arbeitet in ihrem neuen Gedichtband bewusst mit solchen „geliehenen Landschaften“, mit verschiedenen Räumen und Hintergründen, die für ihre Gedichte eine Art Projektionsfläche bilden. Das Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches liest sich wie eine poetische Reise zu Gartenlandschaften in aller Welt. Sie beginnt weit weg in Kaliningrad, führt zurück in die Nähe, nämlich nach Lichtenberg in Berlin, und entfernt sich dann wieder nach Coney Island in New York, Kyoto, Shanghai oder Helsinki. Die Titel der Kapitel evozieren vielfältige Assoziationen, stecken voller Anspielungen und machen auf die Gedichte neugierig: Mit „Bernsteinpark“, „Lunapark“, „Sibeliuspark“, „Park des verlorenen Mondscheins“ oder „Literatenpark“ sind sie überschrieben, oder – etwas prosaischer – „Kindergarten Lichtenberg“.

Nicht nur die Kapitel, sondern auch die Gedichte tragen Titel, die Bilder von der jeweiligen ‚Landschaft‘ hervorrufen: „Bastard“, „Bunt“ oder „Schierklar“ sind Bezeichnungen für bestimmte Bernsteinfunde und verweisen auf die Ostseelandschaft Kaliningrads; „Freifallturm“, „Loop the Loop“ oder „Candy Shop“ lassen an einen Vergnügungspark in New York denken. Poschmann treibt ein poetisches Spiel mit den Erwartungen der Leser, die diese an Überschriften von Texten knüpfen.

Ob es der drei Seiten Anmerkungen und Hinweise bedurft hätte, die die Autorin vor dem Inhaltsverzeichnis einfügt, sei dahingestellt. Einige derselben sind hilfreich, da sie die nicht ohne Weiteres verständlichen Zeilen und Ausdrücke in den Texten erläutern. Andere lenken die Aufmerksamkeit der Leser zu direkt auf konkrete Ereignisse, wodurch möglicherweise ein von Sprache und Phantasie geleitetes Lesen der Texte verhindert wird – denn Lyrik lebt immer auch von ihrer poetischen Vieldeutigkeit. Die Eigendynamik eines guten Textes darf zu anderen Vorstellungen führen als zu denen, die der Verfasserin mit ihrem Gedicht vorgeschwebt haben mögen.

Poschmanns Sprache hat die poetische Kraft, Landschaften und Räume entstehen zu lassen, die aus sich und dem Kontext heraus verständlich werden. Ihre Sätze sind oft ganz konkret, auch einfach in ihrer Struktur und ihrer Bedeutung, lösen sich dann aber immer wieder in eine expressive Sprache aus Ausrufen, Wortaneinanderreihungen, Wiederholung von bestimmten Ausdrücken oder phantasievollen Sprachbildern und Anspielungen auf.

Die Bandbreite der Situationen, die in den Gedichten dargestellt werden, ist groß. So geht es zum Beispiel im zweiten Teil des Buches mit der Überschrift „Kindergarten Lichtenberg, ein Lehrgedicht“ um Erinnerungen an Kindergartenzeiten, darüber hinaus aber um den Wandel in der Natur am Beispiel von Blättern an Bäumen. Blätter tauchen in den Gedichten in Ausdrücken wie „Laubforschung“ auf, als Sammelobjekte von Kindern, als „Plattenbaulaub“, als „irdisches Laub“, das grau, als „ideales Laub“, das „himmelblau“ ist, als „vermoderndes“ Laub oder auch als ein durch die Straßen „trudelndes“ Blatt.

Solche Kern- und Schlüsselwörter, die zu Leitmotiven werden, die die einzelnen Texte innerhalb der Kapitel verknüpfen, haben die Funktion von Wiedererkennungsmerkmalen und sind ein auffälliges sprachlich-poetisches Element in Poschmanns Lyrik. Verstärkt wird das, zumindest teilweise, durch einzelnen Kapiteln vorangestellte Sätze, manchmal hochpoetische und verdichtete Aussagen, die – mottoartig – den Blick des Lesers auf wesentliche Momente der nachfolgenden Gedichte lenken. In dem eben kurz angesprochenen „Lichtenberg“-Kapitel ist es ein Satz aus einer Schrift von Gottfried Wilhelm Leibniz. Er spricht darin von einer Beobachtung, die nicht so selbstverständlich ist, wie sie sich liest: dass nämlich kein Blatt einem anderen in allem gleiche; immer gebe es kleine und größere Unterschiede. In einem der folgenden Texte wird darauf direkt angespielt: „Sehe ich Kinder, / die sich jeden Morgen aus der Gestaltlosigkeit / herausstanzen, sich wie Verschlußplatten vor einer Urnenwand / fest an die Hand ihrer Mutter heften, sich selbst zum / Verwechseln ähneln wie ein Blatt dem andern.“

Poschmanns Texte gehen fast immer von konkreten Orten oder konkret vorstellbaren Situationen und Anlässen aus, gehen aber über die Beschreibung von Äußerlichkeiten hinaus, werden manchmal zu geheimnisvollen, verschlüsselten Botschaften von Wirklichkeit, manchmal zu deren Abbildung, nicht selten mit kritischen Einsprengseln, die, auch wenn sie eher beiläufig vorkommen, den Blick auf diese Wirklichkeit verändern.

Im letzten Teil ihres Gedichtbandes, der den Namen desselben trägt, zeigt Poschmann, wie sie mit dem Begriff „Geliehene Landschaften“ sprachlich und dichterisch umgeht. Für ihre Gedichte wählt sie Orte wie Grevenbroich oder Erkelenz im Westen Nordrhein-Westfalens, die vor allem durch den Braunkohleabbau bekannt sind, den Vulkan Juji, den mythischen Berg der Japaner, die ebenfalls fast schon mythischen Alpenberge Mönch und Jungfrau, einen Park mit Platanen, eine Katze und die Träume eines „Dichters“, ein Eigenheim und, nicht näher bezeichnet, ein stadtähnliches Gebiet. Die Räume senden für Poschmann so etwas wie Signale aus, die sie in ihre dichterische Sprache übersetzt und so für alle verständlich macht. Auf diese Weise vermag sie etwas über unsere Welt, unsere Lebenssituation, uns selbst auszusagen.

So entsteht beispielsweise vor den Augen des Lesers eine Geisterlandschaft, die der Braunkohleabbau zurücklässt: „Wir standen am Rand / vor vernichteten Flächen, vor der Gewaltenteilung / in Bagger und Bänder (die größten der Welt).“ Von „Geisterdörfern“ schreibt die Autorin, von „vernagelten Fenstern“, „Staubgardinen“ und „umgesiedelten Friedhöfen“. Die Zerstörung umfasst alle Bereiche des Lebens: „Mondlandschaft / verschlang uns die Sprache.“

Marion Poschmann stehen viele Tonlagen zur Verfügung, auch leichte Ironie ist ihr nicht fremd. Die Menschen – so das Gedicht „Sie haben Ihr Ziel erreicht“ – passen sich der vorgefertigten Form des Eigenheims an und gehen darin auf: „du hast dein Bewußtsein mit Rollrasen / ausgelegt, Sonnenschirm aufgespannt, / schüttelst die Krümel vom Baumarktprospekt, / von Kühltaschen, Fliegengittern“. Die Sprachlandschaften der Autorin werden zu Spiegelungen unserer Zeit und unseres Lebens. Immer schwingt etwas mit, was durch die Intensität der sprachlichen Bilder auf Zusammenhänge verweist, die über das Vordergründige hinausgehen.

Dieses Mehr, das den Texten aufgrund ihrer verdichteten Sprache zuwächst, wird im Kapitel „Coney Island Lunapark“ deutlich. Diesem Abschnitt sind zwei Leitsätze vorangestellt: geheimnisvoll und poetisch-assoziativ der eine, einfach und klar der andere. Letzterer lautet: „We are the same people / only further from home.“ Die Zeilen stammen aus einem Gedicht von Lawrence Ferlinghetti, das zu einem Zyklus mit dem Titel „A Coney Island of the Mind“ gehört. Ferlinghetti erklärt diesen Titel als „a kind of circus of the soul“.

Das könnte auch eine Beschreibung dessen sein, was Poschmann in den einzelnen Kapiteln ihres Bandes macht. Sie verbindet mit den Gärten – dieses Wort muss in seiner Bedeutung gedehnt werden – die Schilderung von ganz verschiedenen Seelenlagen des lyrischen Ichs, die durch präzise und assoziative sprachliche Bilder und Motive verstärkt und gleichzeitig auf ein Ereignis oder einen Ort hin fokussiert werden.

Das erste Motto lautet: „Die Grenzen des Himmels sind im Nun festgemacht als ‚müde‘. Sie sind im Wasser, indem sie erschöpft sind, das heißt, die Orte. Jeder Ort breitet nun jeden Schatten aus.“ Die Sätze gehören zur ägyptischen Mythologie und beschreiben letztlich die Richtungs- und Ortlosigkeit im Angesicht des Weltraums, vielleicht auch des Göttlichen überhaupt.

Das erste Gedicht des Kapitels, das mit den Worten „dunkel“ und „Schatten“ spielt, greift in den Schlusszeilen diese Deutung der Ortlosigkeit auf: „Aller Umriß erschöpft. Müde Orte, in Schatten gelöst.“ Gleichzeitig wirkt Ferlinghettis Satz dieser Schattenhaftigkeit des Daseins entgegen. Denn seine Zeilen betonen ja gerade die Bedeutungslosigkeit des Ortes und stellen ihr die Bedeutung von Menschen als einer Gemeinschaft gegenüber.

Erst wenn man die Erklärung zu dem Kapitel in den Anmerkungen heranzieht – „geschrieben in New York 2012, nach dem Hurrikan Sandy“, durch den der Vergnügungspark „Luna Park“ überschwemmt und zum Teil verwüstet wurde –, wird klar, wie genau Poschmann Hurrikan und Vergnügungspark aufeinander bezieht und beides miteinander verknüpft. Viele Bilder kreisen um Wasser und die Beschädigungen des Parkgeländes durch den Sturm. So fällt der Blick vom „Wonder Wheel“ „hoch oben“ auf die Spuren der Überschwemmung und die Aufräumarbeiten: „Schwemmspuren. Schleifspuren. / Dinge verrutschen auf ihrem Untergrund, und die Hügel / aus Sand, die der Sturm in die Siedlung gedrückt hat, / sind ganz mit gegenläufigen Mustern bedeckt: Bilder / begehbarer Wellen, auf denen sich Arbeitskolonnen in / Warnwesten abrackern“. Kaum überraschend, dass unter solch widrigen Umständen die Fahrt in der Achterbahn nicht zu einer Vergnügungsfahrt wird: „Schockfront. Plötzlicher Stop und dann Monster, Loop.“

Auch in anderen Texten dieses Kapitels verbindet Poschmann mit Einfühlungsvermögen und sprachlicher Meisterschaft zwei oder mehrere Situationen miteinander. So heißt es im Gedicht „Spiegelkabinett“ in einer Zeile ganz lapidar: „Das New York Aquarium steht unter Wasser.“ Und ein paar Zeilen später: „Du findest vom Hurrikan / zerschmetterte Häuser am Strand. Zertretene Muscheln und / Teeschalenscherben“. Die einfache Sprache verändert sich dann mit einem Mal, wird malerisch-poetisch: „Schütte die bläuliche Farbe auf Sand.“

Die Verknüpfung verschiedener Situationen und das Nebeneinander von scheinbar einfachen Sätzen und überraschenden poetischen Bildern machen einen großen Reiz der Lektüre der Gedichte Poschmanns aus. Vordergründig sind viele ihrer Texte Darstellungen verschiedener Örtlichkeiten. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Autorin Orte und Zeitumstände wählt, die nachdenklich stimmen, weil sie in Poschmanns Sprache etwas Beklemmendes über uns und unsere Welt aussagen. Die folgenden Zeilen stammen aus dem Schlussgedicht des Kapitels über New York, überschrieben mit „Candy Shop“: „Eiserne Leere, Skelett des Dezembers. Verlassene Fahrgestelle. / Gerüste verrosten zu Saurierknochen. Erschöpfte stöckeln auf / hohen Schuhen zum Fahrstuhl, am Pförtner vorbei, lösen Tickets / zur U-Bahn, zur Körperverschwörung im Schacht. Karierte Stiere, / die in Geschäften ertrinken.“

Poschmanns Texte sind komplexe dichterische Gebilde und lesen sich innerhalb eines Kapitels wie ein durchkomponiertes „Großgedicht“. Der elegische Ton, durch die Angabe der Gedichtform im Titel angekündigt, ist im „Untergrund“ die eigentliche Klammer, die das scheinbar Divergierende der Inhalte zusammenführt und zusammenhält. Dieser macht die Haltung des lyrischen Ichs zu den einzelnen „Schauplätzen“, den „geliehenen Landschaften“, deutlich: Es ist ein „Weltschmerz-Ton“, ein Bedauern über den Zustand unserer Welt, das nur an wenigen Stellen direkt anklingt, unterschwellig aber die einzelnen Teile wie ein roter Faden durchzieht.

Auch im vorletzten Kapitel des Buches, mit „Helsinki, Sibeliuspark. Elegie“ überschrieben, wird das noch einmal deutlich. Es beginnt im ersten Gedicht – „Eine ganz andere Antwort auf Frost“ – mit einer Zeile voller „spitzer“ i-Laute, die zeigen, wie stark das lyrische Ich der Weite der finnischen Sibelius-Landschaft ausgesetzt ist: „Birken, gilb. Birken, fiebrig. In ihnen der Wind“. In anderen Zeilen dieses neunzeiligen Textes tauchen ebenfalls i-Silben auf, die den Eindruck der Anfangszeile verstärken, Wörter wie „Karelien“, „sienafarben“, „citron“ und „Fieberbirken“. Die Schlusszeile – „Man selbst ist der Herbstnebel, weich und allgegenwärtig.“ – steht sowohl vom Lautlichen als auch vom Inhaltlichen her in einem Gegensatz zu den vorher angesprochenen sprachlich-poetischen Merkmalen.

So wie die einzelnen Gedichte sorgfältig und in sich stimmig komponiert sind, ist auch das gesamte „Sibelius“-Kapitel sprachlich, motivisch und inhaltlich überzeugend aufgebaut. Die Weite der Landschaft, Birken immer wieder, Kiefern, Schnee, „geliehene Landschaften“, die sich nicht ohne Weiteres vereinnahmen lassen, sondern auf ihrer spröden Kargheit bestehen, bestimmen den Ton in den Texten. Nur selten wirken die Formulierungen „gesucht“, etwa wenn Poschmann von „knäckebrotleicht“ schnappenden Pudeln spricht oder für den Wind die Bezeichnung „weich wie Bier im Braunglas“ bemüht. Aber solche sprachlichen Auffälligkeiten sind nicht die Regel und eher unbedeutend. Die Regel sind poetisch eindringliche Zeilen, eindringlich gerade auch in ihrer Einfachheit, die dadurch eine große assoziative Kraft ausstrahlen – beispielsweise in Zeilen wie den folgenden: „Man sitzt auf der Bank, eine Filter- / brücke für Pilzwitze, hat seinen Blick auf die senkrechten / Leuchtstoffröhren der Birken gerichtet und achtet jetzt / stärker auf innere Arten, die aussterben durch / Beunruhigung. Kiefernzapfen. Man sitzt dort, im Rücken / verschraubt mit der borealen Nadelwaldzone, / muss Rücksicht nehmen auf leicht zu störenden Schnee.“

Poschmann versteht ihre Gedichte nicht nur als Schilderungen einer besonders eindrucksvollen Landschaft, sondern auch als politische Botschaften. Diese kommen im Kapitel „Helsinki, Sibeliuspark“ an wenigen Stellen vor, sind aber, gerade weil sie verhalten vorgebracht werden, unüberhörbar. So ist mitten in einem Text von „schmelzenden Polkappen“ und der „tauenden Taiga“ die Rede, von den „verstrahlten Rentieren Norwegens“ oder davon, dass „nahe der russischen Grenze ein Bär eine Joggerin / anfällt und frißt“. Solche Zeilen signalisieren tiefe Störungen der Natur, der „geliehenen Landschaften“ und des in deren Umgebung angesiedelten Lebens.

Marion Poschmann, geboren 1969 in Essen, wurde für ihr Werk, bestehend aus Romanen, Essays und Lyrik, bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, etwa mit dem Peter-Huchel-Preis (2011), dem Ernst-Meister-Preis für Lyrik (2011) und dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis (2013). Nach Gedichtbänden wie dem vorliegenden wäre es nicht verwunderlich, wenn die Autorin auch bald als Büchnerpreisträgerin gerühmt werden würde.

Titelbild

Marion Poschmann: Geliehene Landschaften. Lehrgedichte und Elegien.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
125 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425220

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