Nachrichten vom geistigen Mitbegründer der Republik

Heinrich Manns Essay-Bände aus den Jahren 1904 bis 1925 zeigen den kämpferischen Autor in bester Verfassung

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Mann als kämpferischen Autor zu bezeichnen, ist wohl immer noch richtig, ja ist dringend geboten. Hinzu kommt, dass er einer der wichtigsten Vertreter einer offenen, sich mit Frankreich aussöhnenden und sich den demokratischen Strömungen öffnenden Gruppe deutscher Autoren war. Damit gehört er in der deutschen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts zu einer raren Spezies, die gehegt gehört: den modernefreundlichen Intellektuellen. Allerdings hat Mann – ähnlich wie der jüngere Bruder Thomas – in einer ganz anderen Ecke des literarisch-politischen Spektrums begonnen, was nicht zuletzt dem ersten Band seiner Essays und Publizistik, der die Jahre 1889 bis 1904 umfasst, abzulesen ist.

Der zweite und dritte Band der Essays und Publizistik zeigen nun, wie sich Heinrich Mann mehr und mehr in die Rolle des Repräsentanten einer offenen Gesellschaft einzufinden begann und dabei schnell auf die Höhe jener Essays kam, die ihn – neben seinen Romanen – in die erste Reihe der deutschen Autoren rückte. Seine Wahl in die Sektion für Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste, deren Präsident er 1930 sogar wurde, zeigt den Fluchtpunkt dieser Entwicklung an. Heinrich Mann kam in der Weimarer Republik als einer ihrer offensiven Repräsentanten an, kein Vernunftrepublikaner, sondern überzeugt davon, dass die Republik die einzige angemessene Verfassungsform war, die das „Glück“ des Einzelnen ermöglichte: „Demokratie, Erkenntnis, Friede sind Wege. Pflicht ist nur, das Glück zu erleben“, beendet er einen kleinen Text im Dezember 1917.

Heinrich Mann schrieb in all seinen Essays ab 1904 die Demokratie mit herbei – man muss ihn dafür bewundern. Und dafür wurde er von den Zeitgenossen als „geistiger Mitbegründer der Republik angesehen“, wie im Kommentarband zur Publizistik 1918 bis 1925 zu lesen ist.

Romane wie Professor Unrat (1905), Die kleine Stadt (1909), oder Der Untertan (1914/1918) zeigen ihn auch gerade für die Phase, die der Essay-Band 1904 bis 1918 umfasst, literarisch auf der Höhe seiner Zeit. Zwar stand er den historischen Avantgarden der 1910er-Jahre fern, politisch gesehen optierte Heinrich Mann jedoch schon vor 1914 für eine demokratische Gesellschaftsform und eine Ablösung von der Autoritätshörigkeit seiner Landsleute. Dass im in einer kleinen italienischen Stadt spielenden Roman Die kleine Stadt das „hohe Lied der Demokratie“ erklinge, wie er 1910 schrieb, ist ein Bekenntnis, mit dem er sich deutlich genug gegen die kulturkonservative Haltung seiner Landsleute, insbesondere aber seines Bruders positionierte.

Ein klarer Ausdruck also der Frontstellung unter Brüdern, wenn denn nicht die Kommentatoren mitteilen würden, dass gerade die Formel vom „hohen Lied der Demokratie“ aus einem Brief von Thomas Mann stammt, den Heinrich Mann gern aufnahm und für eine Werbemaßnahme zu nutzen wusste, mit der der Romanerfolg befördert werden sollte. Der Text, für einen Prospekt des Insel Verlags geschrieben, wurde allerdings vom Leiter, Anton Kippenberg, gerade um diese Passage gekürzt. Aus dem Lied der Demokratie wurde auf einmal die Aktualität des Buches. Aktuell konnte also ein Insel-Buch sein, aber dennoch nicht die Demokratie vorantreiben?

Die Liaison mit dem Insel Verlag war jedoch nur von kurzer Dauer, Kippenbergs Bedenken spielten keine Rolle mehr. Manns Abwendung von seinen nationalistischen Anfängen konnte entschiedener nicht sein. Immer wieder taucht in den Texten dieser Jahre die Demokratie als einzig vernünftige und gerechte Staatsform, aber auch als Bedingung einer wahren, zeitgenössischen Literatur auf, die hier noch Dichtung heißen darf: „Demokratie“, so heißt es etwa in einem Text aus dem November 1915, bedeutet „nichts anderes, als was auch Kultur bedeuten sollte: Menschenpflege, die Würde und das Gewissen Aller. Also eine sittliche Grundordnung, wohl nie vollkommen zu verwirklichen; aber ihre Verleugnung und Verachtung wird nicht verziehen, weder von der Welt um uns her, noch von dem Geiste, der die Geschichte lenkt. Und auch eine ästhetische Grundforderung; denn ohne die freie menschliche Entfaltung Aller als Voraussetzung und Grundmelodie, ist eine große Dichtung heute so undenkbar wie die Größe einer Volksgemeinde.“ Ein starkes Statement aus einer avancierten politischen Haltung heraus und aus einem ästhetischen Grundverständnis, das wenig später historisch sein sollte. Aus der Dichtung sollte Literatur werden, selbst wenn sich die Autoren selbst dagegen sträubten.

Dabei blieb er allerdings nicht stehen: In seinem 1911 erschienen Essay Geist und Tat vergleicht er nicht nur die offene Gesellschaftsform Frankreichs mit dem autoritätshörigen Deutschland, sondern wundert sich dabei über dieses merkwürdige Land, das aus seiner Sicht voller Widersprüche steckte: „Man denkt weiter als irgendwer, man denkt bis ans Ende der reinen Vernunft, man denkt bis zum Nichts: und im Lande herrscht Gottes Gnade und die Faust.“

Er warnte seine Landsleute auch vor ihrer Vorliebe für die großen und starken Männer, und machte dies zum Maßstab für die Bewertung des Volks, dem er selbst ja nun auch angehörte: „Kein grosses Volk: nur grosse Männer“, attestierte er, nicht ohne zu bedenken zu geben, was diese großen Männer dieses Volk bereits gekostet hätten. Sie würden sich, wie wir heute wissen, noch erhöhen. Eine Demokratie, so kann man daraus folgern, braucht keine großen Männer, sie braucht ein selbstbewusstes und selbstgewisses Volk.

Im Zentrum des zweiten Bandes der Essays und Publizistik, der die Jahre 1904 bis Mitte 1918 umfasst, steht zweifelsohne der große biografische Essay Zola vom November 1915. Thema und Zeitpunkt müssen aufhorchen lassen: Ein hymnischer Essay über einen französischen Autor? Nach einem Jahr Weltkrieg? Verbunden mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie? Kein Wunder, dass dieser Essay Aufsehen erregte.

Dabei wirkt der Text aus heutiger Sicht methodisch fast ein wenig anachronistisch und unscharf. Heinrich Mann bleibt nicht auf Distanz, er versetzt sich in den großen französischen Autor hinein und verfolgt so dessen wechselhafte und waghalsige Karriere aus einer Binnensicht, die wir heute, aus gutem Grund, vermeiden würden. Solche Distanzlosigkeiten gehören sich nicht.

Dabei gerät ihm Zola, vor allem mit seinem Engagement in der Dreyfus-Affäre, als er seine Karriere, seinen Ruhm, seine Existenz aufs Spiel setzte, zum vorbildlichen modernen Autor, der der Wahrheit verpflichtet ist – und, wie der Kommentar ergänzt, einem Gesellschafts- und Politikverständnis, das mit Menschen- und Bürgerrechten argumentiert.

Das deutet schon darauf hin, dass man es dabei nicht bewenden lassen kann. Und tatsächlich, der Kommentar weist erneut den Weg zum Bruder Thomas, der den Essay intensiv gelesen hatte und seine allgemeineren Bemerkungen, die vorgeblich auf die französischen Zustände abzielten, auf sich bezog. Immer dann, wenn Heinrich Mann gegen die „‚Wortführer und Anwälte‘ der herrschenden ‚Macht‘“ vom Leder gezogen hatte, sah sich Thomas Mann direkt angegriffen. Wohl nicht zu Unrecht, wenn man sich den Dissens der beiden Brüder, die in zwei verschiedene politische Lager auseinandergedriftet waren, vor Augen führt. Indem also Heinrich Mann das Establishment Frankreichs am Ende des 19. Jahrhunderts angriff, attackierte er zugleich scharf seine eigene Gesellschaft, die an denselben Leiden von Antisemitismus, Autoritätshörigkeit und Unterwürfigkeit litt wie die Grande Nation. Und soweit Thomas Mann in der Tat direkt angegangen wurde, dann eben nur und gerade deswegen, weil er Heinrich Mann so nahe stand wie kein zweiter deutscher Autor. Das war, so ist anzunehmen, beiden bewusst.

Erst nachdem sich Thomas Mann sein nationalkonservatives Bekenntnis mit den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) vom Leib geschrieben hatte und dabei einige Repliken auf Heinrichs Angriffe eingearbeitet hatte, konnte er sich – unter anderem erkennbar am 1924 erschienenen Roman Der Zauberberg und einer Reihe von Ansprachen – zu einem bekennenden Befürworter und Verteidiger der Republik weiterentwickeln und sich mit Heinrich 1922 aussöhnen. Immerhin strich Heinrich Mann diese Passagen aus der Fassung des Essays, die er dann 1931 in der Sammlung Geist und Tat. Franzosen 1780–1930 nachdruckte. Im Gegenzug verzichtete Thomas Mann bei Nachdrucken der Betrachtungen auf eine Reihe von Sticheleien gegen den älteren Bruder, wie der Kommentar zu berichten weiß. Der Bruder Thomas war Heinrich Mann im Engagement für die Republik gefolgt.

Der Unterschied zwischen dem zweiten und dritten Band der Essay-Ausgabe wird nicht zuletzt mit der Bedeutung erkennbar, die Heinrich Mann für die junge deutsche Republik hatte. Mit dem Roman Der Untertan hatte er sich als scharfer Kritiker der Wilhelminischen Fassadenmonarchie positioniert. Nach der Abdankung des Kaisers war Heinrich Mann damit mit einem Mal zu dem Autor geworden, der den Unterschied zwischen den beiden Herrschaftsformen und ihren deutschen Variationen zu kennzeichnen wusste wie kein zweiter. Er wurde berühmt, was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass er in zahlreichen Umfragen herangezogen wurde und zu den unterschiedlichen Themen Stellung zu beziehen hatte. Dem unbekannten Autor wäre das wohl nicht passiert.

Heinrich Mann entwickelte sich zwischen 1918 und 1925 zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Autoren seiner Zeit, nahm in dieser Phase jedoch zum Teil auch anderes als zuvor in den Blick: 1917 war der Roman Die Armen erschienen, 1918 dann der Untertan, 1925 folgte erst der dritte Band der Trilogie über das Wilhelminische Reich, Der Kopf, der ihm endlich die ersehnte Villa bringen sollte (auch ein guter Autor hat seine wohl vergeblichen hedonistischen Neigungen). Alle diese Romane verfolgen interessante Themen und Konzepte, wie auch die noch in den Jahren der Weimarer Republik erschienenen weiteren fiktionalen Texte Eugenie oder die Bürgerzeit (1928) oder Die große Sache (1930). Als literarische Texte sind sie heute allerdings beinahe vergessen. Nicht ganz zu Unrecht, denn zu bemüht zeigt sich Heinrich Mann um seine Themen, und zu wenig schaffte er es, sich mit dem sich ändernden literarischen Geschmack weiterzuentwickeln. Erst mit den beiden großen Exilromanen um Henri IV (1935 und 1938) gelangen ihm wieder zwei Großtexte, die den Schwung seiner früheren Erfolge besaßen, sich stilistisch jedoch weiterentwickelt hatten und nicht im Konzept steckengeblieben waren.

Heinrich Manns Fokus lag in den Jahren direkt nach 1918 verstärkt auf den publizistischen Texten und auf dem Essay. Das hatte sowohl pragmatische als auch politische Gründe. Zum einen galt Heinrich Mann um 1918 als einer der Mitbegründer der Republik, was ihn mit einem Mal in das Zentrum auch der intellektuellen Aufmerksamkeit rückte. Zum anderen aber verlor Mann in der Hyperinflation einen Großteil seines Barvermögens. Hinzu kamen die kreativen Abrechnungen seines Verlegers Kurt Wolff, die ihn nicht nur eine Klage erwägen ließen, sondern ihn auch zum 1924 neu gegründeten Paul Zsolnay Verlag trieben, der sich mit dem berühmten Autor schmückte.

Die Essaybände, die in diesen Jahren erschienen, sammeln denn auch verstärkt das, was Heinrich Mann verstreut publiziert hatte. Fünf Sammelbände mit Essays in 14 Jahren zeigen eine erstaunliche Produktivität des Autors, die auch in den beiden Teilbänden des dritten Bandes erkennbar sind: 1919 erschien der Band Macht und Mensch, 1923 folgte Diktatur der Vernunft, 1929 Sieben Jahre, 1932 Geist und Tat sowie Das öffentliche Leben.

Thematisch schreitet Mann in diesen Jahren eine aufschlussreiche Strecke ab, vom enthusiastischen Aufbruch bis hin zum Eingeständnis, dass die Hoffnungen trügerisch waren. Die Emphase wich einem gewissen Realitätssinn. Die Jugend der frühen 1920er-Jahre, die sich für die Extreme engagierte, nannte er tragisch. Alles müsse sich ändern, vor allem müsse das Alte weg. Im selben Zusammenhang berichtet Mann von den faschistischen Banden, die mittlerweile beiläufig mordeten und sich ihren Appetit davon nicht schmälern ließen. Für einen derart eingeschworenen Freund Italiens ist das ein bitteres Eingeständnis.

Dennoch betonte er weiterhin das Primat der Politik, vor allem vor der Wirtschaft, auch wenn er 1925 die Dominanz des Kapitalismus eingestehen musste. Zugleich verschoben sich die Themen wenigstens teilweise. Immer wieder kehren Essays zu den Vereinigten Staaten von Europa wieder, oder zur paneuropäischen Idee von Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, dessen Ideen Heinrich Mann wiederholt vortrug. Auch die gemeinsame Identität Europas stand dem Autor immer wieder vor Augen, wobei seine Ausrichtung nach Frankreich dominant war. Immer wieder schrieb er, vor allem befördert durch den Kontakt mit Felix Bertaux, Berichte über die Situation der deutschen Jugend oder der deutschen Literatur vor allem für die Veröffentlichung in Frankreich. 1923 und 1925 reiste Mann selbst dorthin und vertiefte seine Kontakte.

Teil seines Bekenntnisses zur Demokratie ist auch seine Sicht auf die große Stadt Berlin, der er in einem Essay 1921 grundsätzlich zugestand, „vernünftig“ zu sein. Gerade weil Berlin seinen vormaligen Gründerzeitglanz verloren habe, sei es „unvergleichlich schöner als vor den Katastrophen“. Dass aber die Wirkung der Metropole auf das Land zwiespältig sein müsse, sei kaum abzustreiten. Dennoch ist offensichtlich, dass Heinrich Mann der Neigung vor allem von nationalistischen Kreisen, die Stadt als Moloch und Hort des Bösen zu diffamieren, deutlich widerspricht. 1928 zog er schließlich selbst von München aus, das sich immer konservativer gebärdete, nach Berlin.

Die Abwehr des Nationalismus und seines Ziehsohns, des Antisemitismus, zieht sich als Grundton durch seine Essays, was auch seine erneute Aktualität verstärkt. Dass sich der Einzelne auf ein Kollektiv beziehe, sei naheliegend, nur sei damit am Anfang auf die Vaterstadt gemeint gewesen und sei von daher mehr und mehr ausgeweitet worden. Von einem festen Nationenbegriff kann also keine Rede sein. Bemerkenswert, dass eben immer nur die jeweils herrschende Klasse Interesse am Status quo habe und Veränderung ablehne, ja dafür sogar den Krieg in Kauf nehme. Zugleich betont Mann, dass die Nationen „überhaupt nur geistig bestimmt“ seien, nicht „blutmäßig“ – was heutigen Lesern zur Lektüre anempfohlen sei. Oder an anderer Stelle: „Der Patriotismus verliert seine heilige Bedeutung, wenn er zu schamlosen Agitation wird“, was nicht von Mann selbst stammt.

Dennoch: Auch wenn Heinrich Mann in einem seiner letzten Essays des Bandes die baldige Ankunft eines „wirklichkeitsfreudigeren Geschlecht“ erwartet, auch wenn er an die Möglichkeit glaubt, dass 15 bis 20 Jahre nach dem Krieg eine grundlegende Wandlung der Verhältnisse erstritten werden könne, verstärkt sich der pessimistische Grundton der Texte; das Gefühl der Unsicherheit, das sich breitmacht, bemerkt auch er: „Jede wirtschaftliche Sicherheit ist verloren“, schreibt er 1925, „ganze Klassen sind in Frage gestellt.“ Seine Hoffnung, dass Deutschland „voraussichtlich“ „niemals einen Diktator erleben“ werde, hat sich nicht erfüllt. Aber Autoren, auch wenn sie Dichter sein mögen, sind keine Propheten, nicht einmal Lehrer der Nation. Sie sind nur Leute, die sich Gedanken machen. Über einen wie Heinrich Mann kann die deutsche Literatur eben nur froh sein. Und nicht nur die.

Titelbild

Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Band 2: Oktober 1904–Oktober 1918.
Herausgegeben von Manfred Hahn unter Mitarbeit von Anne Flierl und Wolfgang Klein.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012.
827 Seiten, 148,00 EUR.
ISBN-13: 9783895287589

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Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Band 3/1-2: November 1918–1925.
2 Bände. Herausgegeben von Bernhard Veitenheimer.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2015.
1119 Seiten, 248,00 EUR.
ISBN-13: 9783895289835

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