Aneignungsformen und Traditionslinien in der Mittelalterrezeption der DDR-Literatur

Ein Tagungsband reflektiert die Relation zwischen Literatur und bildungspolitischem Bemühen im sozialistischen Staat

Von Maja-Maria BeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja-Maria Becker und Friederieke ZinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederieke Zink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Für viele junge Menschen ist die DDR heute genauso weit entfernt wie das Mittelalter.“ Mit dieser Aussage plädierte der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger im April 2016 für eine breitere Bildung an Schulen. Wie jede Weltanschauung hat auch unsere Gegenwart ihre eigene Anschauung von Zeit- und Weltgeschichte. Somit erfüllt der literaturwissenschaftliche Sammelband zur „Mittelalterrezeption in der DDR-Literatur“, herausgegeben von Gesine Mierke und Michael Ostheimer, eine doppelte Funktion, dringt er doch nicht nur in den wichtigen Bereich der DDR-Literaturforschung vor, der bislang noch nicht eingehend untersucht wurde, sondern wirft auch ein Licht auf die schwierige Aneignung mittelalterliche Stoffe im Arbeiter- und Bauernstaat.

Die sozialistische Literatur entwickelte sich nach 1945 auf dem Gebiet der DDR unter neuen historischen Bedingungen. Nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges war die DDR angetreten, das bessere Deutschland zu sein. Man suchte also kulturpolitisch nach einem eigenen Weg. Die Wurzeln proletarischer Literatur reichten jedoch nur bis kurz vor die Revolution von 1848 zurück. Daher wurden Stoffe der Antike und der Klassik im Sinne des Systems und des sozialistischen Bewusstseins anverwandelt. Das Mittelalter jedoch erschien dem DDR-Staat als ideologisch zu sehr belastet, so dass die Aneignung im Vergleich zum restlichen deutschsprachigen Raum nur verzögert und unter eigenen Gesichtspunkten erfolgte.

Der vorliegende Band liefert die Ergebnisse eines dreitägigen internationalen Workshops, der im Oktober 2014 in Chemnitz stattfand. Dabei ging es nicht nur um eine Bestandsaufnahme der Rezeptionszeugnisse, die in diesen Kontext gehören, sondern vor allem auch um die Frage nach Aneignungsformen und Traditionslinien, die aufgenommen wurden. Im ersten Teil wird zunächst die Materialbasis erschlossen: welcher Stellenwert kam dem Mittelalter in der DDR-Literatur zu, also was für Texte und Stoffe wurden rezipiert und wie wurden sie umgesetzt bzw. bearbeitet.

Der Aufsatz „Parzival in West und Ost. Ein Beispiel ideologischer und kulturhistorischer Potenziale epischer Texte des Mittelalters“ von Siegrid Schmidt bildet den Einstieg in den Sammelband. Zunächst wird hier ein kurzer Vergleich der Parzival-Bearbeitung Werner Heiduczeks und Auguste Lechners gegeben. Anschließend unternimmt Schmidt den Versuch die unterschiedlichen Umsetzungen durch den jeweils verschiedenen „historischen, politischen und kulturpolitischen Kontext der beiden Werke“ zu erklären, sprich durch das Umfeld der AutorInnen in Österreich bzw. der DDR. Schmidt formuliert abschließend keine explizite Antwort, sondern zeigt vielmehr Entwicklungstendenzen im Umgang mit der Thematik des Mittelalters in Kinder- und Jugendliteratur in den zwei unterschiedlichen politischen Systemen auf und verweist auf neue lohnenswerte Untersuchungsgegenstände. Eine allgemeinene Übersicht über den „Kinderbuchbestand der DDR mit Mittelalterbezug“, die sicher auch für zukünftige Forschungen fruchtbar ist, hat Wiebke Helm erstellt. Sie betrachtet dabei den Zeitraum von 1949 bis 1989/90 und unterteilt in Sachbücher, Adaptionen beziehungsweise untersucht inwieweit historische Erzählungen und Biographien in die Literatur Einzug fanden. Sie resümiert, dass „sich von der Gründung der DDR bis zu ihrem Ende eine gewisse Kontinuität in der Veröffentlichungspraxis mittelalterlicher Stoffe und Motive in der Kinder- und Jugendliteratur“ konstatieren lässt, deren Verwendung sie nicht nur bildungspolitisch begründet sieht. Im Gegensatz dazu arbeiten sowohl Nadine Hufnagel als auch Karen Werner in ihren Aufsätzen ganz klar eine bildungspolitische Intention bei der Verwendung mittelalterlicher Motive heraus. Nadine Hufnagel „Von ›alten Zeiten‹ erzählen. Zur Reinecke Fuchs-Rezeption in der DDR“ formuliert für die Neubearbeitung des Reinecke Fuchs von Franz Fühmann 1961, dass hier ein „überwiegend negatives Bild des Mittelalter“ kreiert wird: so werden beispielsweise religiöse Elemente benutzt, um ein Bild von der „alten Zeit“ zu zeichnen, allerdings ist die Darstellung der Kirche und ihrer Geistlichen durchgängig negativ. Die Feudalgesellschaft wird in der märchenhaft anmutenden Erzählung in Prosaform als zum Glück überwundene dargestellt. Bedeutende mittelalterliche Wertvorstellungen wie êre werden abgeschwächt oder umgedeutet. Unter anderem an diesen Beispielen verdeutlicht die Autorin, dass das Mittelalter in Fühmanns Reinecke Fuchs den Rezipienten als klischeehaft finster vorgestellt wird – ein Zustand, der als überwunden galt. Karen Werner hingegen betrachtet die Einbringung mittelalterlicher Literatur im Schulunterricht der DDR am Beispiel Werner Heiduczeks Die seltsamen Abenteuer des Parzival. Unter Auswertung von Lehrplänen und Schulbüchern kommt sie zunächst zu der Feststellung, dass überwiegend mit Übersetzungen mittelalterlicher Texte und nicht mit stark vom ursprünglichen Text abweichenden Nachdichtungen gearbeitet wird. Die Rolle der Neubearbeitung des Parzival-Stoffes Werner Heiduczeks kann jedoch vor diesem Hintergrund nicht vollständig geklärt werden. Insgesamt hält sie aber fest, dass Literatur im Schulunterricht unabhängig von einer Epoche unter der Prämisse der „Herausbildung des sozialistischen Bewußtseins, insbesondere auch der sozialistischen Moral“ stand. Mit der Verwendung des damals neu aufkommenden Comic-Genres beschäftigt sich Felix Florian Müller in seinem Aufsatz. Wobei er sich mit dem erfolgreichen Comic Mosaik herausgegeben von Hannes Hegen und hier mit der Geschichte des Ritter Runkel beschäftigt. Dabei zeigt er auf, dass zwar auf das mittelalterlich-literarische Rittertum rekurriert wird, zum Beispiel anhand eines Zitats aus Tristan oder mit einem Verweis auf König Artus, aber auch dies geschieht, wie auch schon Nadine Hufnagel für Fühmanns Reinecke Fuchs nachgewiesen hat, eher um die Handlung in einen oberflächlich mittelalterlichen Kontext zu versetzen und nicht um direkte Bezüge zum Artusroman des Mittelalters herzustellen.

Die Beiträge des thematisch zweiten Teils des Sammelbandes beschäftigen sich mit dem Verhältnis von mittelalterlichen und modernen Texten. An ausgewählten Beispielen wird untersucht, wie sich mittelalterliche Motivik in einen modernen Kontext transformiert und welchen Zweck sie dabei jeweils erfüllt. Des weiteren wird das Augenmerk auf die in den 60er Jahren einsetzende Hinwendung zu antiken Stoffen in der DDR-Literatur gerichtet und das Verhältnis von Mittelalter- und Antikenrezeption beleuchtet.

Zwei Artikel untersuchen Christoph Heins Theaterstück von 1986 Ritter der Tafelrunde: Paola Quadrelli vergleicht diesen mit Tankred Dorsts Theaterstück Merlin. Wohingegen Ines Detmers Heins Stück mit dem „Katalysator“ des „temporalen Imaginären“ interpretiert. Beide Autorinnen kommen hinsichtlich der Aussage von Heins Stück zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Stehe einerseits in Merlin wie im Ritter der Tafelrunde der Untergang im Zentrum, mit dem Hinweis, nur ein Generationswechsel könne eine Gesellschaft lebendig halten, will Detmers andererseits Heins Tafelrunde nicht als Niedergangsparabel, sondern als „Plädoyer für die Modernisierung der DDR“ verstanden wissen. Wie sich mit der Übertragung eines klassischen Stoffes in ein zeitgenössisches Szenenbild vielfältige Deutungsmuster hinsichtlich des Untergangs des deutschen Volkes darstellen lassen, analysiert Nathanael Busch anhand der Inszenierung von Friedrich Hebbels Nibelungen im Jahr 1984 in Dresden. In der an Heiner Müllers Germania angelehnten Inszenierung des Nibelungenstoffes durch Wolfgang Engel lassen sich Umweltprobleme oder die in der Atomkriegsbedrohung zu Tage tretende Untergangsstimmung der 1980er Jahre erkennen. In seinem sehr umfangreichen Artikel analysiert Stefan Descher Die Seligkeit der Heiden von Johannes Bobrowski. Die Erzählung, 1964 erschienen, schildert in poetischer Dichte die Einführung des Christentums in der Kiewer Rus, einem mittelalterlichen Großreich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Russlands. Zur Interpretation zieht Descher Bobrowskis Hauptquelle, die Nestorchronik aus dem 12. Jahrhundert, ebenso zu Rate wie die Motiv- und Interpretationsgeschichte. Er wendet sich abschließend vorsichtig gegen Interpretationen, die eine positive Bewertung des Christentums nachzuweisen versuchen. Descher erkennt einen von diesem gewaltsam herbeigeführten und inszenierten Untergang der heidnischen Religion im Text – und er macht sich abschließend für die These stark, für Bobrowski habe bei der Erzählung hauptsächlich die „Thematisierung und Problematisierung des Schreibens und Erzählens von Geschichte selbst“ im Zentrum gestanden. Mit zwei bekannten Autoren des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, beschäftigen sich die beiden nächsten Aufsätze: Christoph Fasbender untersucht die Geschichte des Wolfram-Romans von Lily Hohenstein, einem biographischen Roman über Wolfram von Eschenbach, der bereits 1943 und 1944 erschien und 1958 ein weiteres Mal in Westdeutschland auf den Markt kam – ehe es 1969 zu einer „Einbürgerung“ in der DDR mit Erscheinen im VEB Greifenverlag Rudolstadt kam. Hier zeigt sich, dass die Entscheidung der HerausgeberInnen, sich auch in das „Niemandsland“ der DDR-Literatur zu wagen, also in jene Randbereiche von Literatur, die vor 1949 oder nach 1989 erschienen, interessante Perspektiven auf die Erbe-Diskussion in der DDR ermöglichen, liefert Fasbender doch nicht nur Einblicke in die vor Druckgenehmigung erfolgten Gutachten, sondern auch in die Schwierigkeit der Verleger, sich den nicht explizit sozialistischen Textkorpus mit einem wissenschaftlichen Nachwort innerhalb der Erbe-Theorie anzueignen. Der Roman Dieterich. Vermutungen um Gottfried von Straßburg des Historiker Bruno Gloger erschien im Zuge einer Veröffentlichungswelle von Romanen mit mittelalterlichen Themen in den 1970er Jahren. Sylvia Jurchen liest diesen sehr textnah als Geheimbundroman der „edelen herzen“ und bescheinigt Gloger an einigen Stellen, dass sich der gelehrte Kenner des Tristan-Stoffes gegen gewohnte sozialistische Rezeptionserwartungen wende, indem er, beispielsweise im Gegensatz zu Fühmanns Reinecke Fuchs, das autoritäre System der Kirche parallel zum Regime der DDR stelle. Der Band schließt mit Francesca Bravis Untersuchung des Petrarca-Einflusses auf die sogenannte „Sächsische Dichterschule“. Darin geht die Autorin nicht nur auf diese Dichterschule ein, sondern auch auf unterschiedliche Petrarca-Übersetzungen dieser Autoren in den 1980er Jahren.

Insgesamt vermittelt der von Gesine Mierke und Michael Ostheimer herausgegebene Band zur Mittelalterrezeption einen breitgefächerten Einblick in aktuelle Forschungsergebnisse zu einem bislang wenig beachteten Aspekt der DDR-Literatur. Von der wichtigen Aufgabe der Materialerschließung, über die Frage welche Funktion mittelalterlichen Texten und Stoffen innerhalb der Literatur zukam bis hin zur Untersuchung des Verhältnisses mittelalterlicher und antiker Stoffe in der DDR-Literatur wird ein differenziertes Bild des Forschungskontextes entworfen. Wobei die Relation zwischen Literatur und bildungspolitischem Bemühen des sozialistischen Staates DDR immer wieder reflektiert und thematisiert wird.

 

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Gesine Mierke / Michael Ostheimer (Hg.): Mittelalterrezeption in der DDR-Literatur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
280 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783826056871

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