Erzählen versus reformieren?

Ein Campusroman post Bologna

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Traditionell gilt der Universitäts-, genauer Campusroman als anglo-amerikanisches Genre, zu dem denn auch zahlreiche anglistische Untersuchungen vorliegen (vgl. etwa Weiß, Dubber, Borchardt). Sie betonen fast durchgängig, dass „es in Deutschland diese literarische Gattung nicht oder so gut wie nicht gibt“ (Weiß), und erklären diesen Umstand aus universitätsstrukturellen, sozialen und literaturimmanenten Gründen. So kenne Deutschland weder die Besonderheiten von Campus-Universitäten, das spezifische Campusleben und anglo-amerikanische Sozialleben; auch fehle, so heißt es, deutschen Hochschulen das hohe gesamtgesellschaftliche Ansehen, als glamouröser, allseitsbeäugter Roman-Schauplatz in Frage zu kommen, und außerdem verknüpften sich diese institutionell-sozialgeschichtlichen Unterschiede mit solchen der literarischen Tradition. Letztere führten dazu, dass in Deutschland der „Diskurs über Bildung von der Institution losgelöst behandelt werden“ konnte und die „Schaffung der Untergattung Entwicklungs- und Bildungsroman“ bedingte (Borchardt). Der Universitätsroman aber, so Wolfgang Weiß in seiner grundlegenden Arbeit zum anglo-amerikanischen Universitätsroman, beziehe sich „explizit auf die Institution Universität in der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ und integriere dabei „wesentliche Züge dieser Institution, sei es in realistischer Mimesis, […], sei es in stilisierter, modellhafter Darstellung einschließlich karikaturistischer Übertreibung oder satirischer Verzerrung in den fiktionalen Gesamtentwurf der Handlungswelt des Romans“ (Weiß 1988).

Die Forschung geht davon aus, dass das spannungsreiche Verhältnis zwischen Gesellschaft und abgeschlossener Institution „Universität“ erst diese „Untergattung des Romans hervorgebracht hat und deren wechselreiche Geschichte konstituiert“ (Weiß). Weil dieses Spannungsverhältnis sich stärker zwischen den Verwertungsansprüchen der Gesellschaft und den nicht auf unmittelbare Anwendung angelegten Geisteswissenschaften aktualisiere als zwischen Gesellschaft und Naturwissenschaften, stellten geisteswissenschaftliche Fakultäten in der Regel den Schauplatz von Universitätsromanen dar. Die weitere Privilegierung philologischer Seminare erkläre sich aus dem biographischen Hintergrund der Autoren, die vielfach Literaturwissenschaftler seien – wie dies auch bei Annette Pehnt der Fall ist.

Andere Beobachtungen gelten so für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nicht mehr (vgl. Stachowicz).  Inzwischen haben sich mit Thea Dorn, Dorothee Nolte, Silvia Bovenschen und eben Annette Pehnt vermehrt Autorinnen mit geisteswissenschaftlichem Erfahrungshintergrund dem Genre zugewandt, und Pehnt hat mit der Abiturientin und dann Lehramtsstudentin Michelle eine junge, weibliche Titelfigur gewählt, wo ansonsten der männliche Professor als Protagonist agierte. Ob Michelle und ihre Erfahrungen bei der Einschreibung, den ersten Seminaren, den Hausarbeiten, mit Mittelbau-Dozenten, WG-Mitbewohnerinnen, dem Ex Manuel, den liebevoll-solidarischen Eltern, beim Ferien-Job in der Werbeagentur und beim Auslandsaufenthalt wirklich im Zentrum des Romans stehen oder nur die Projektions- und Reibeflächen der neuen Verhältnisse dienen, wäre zu diskutieren. Denn Michelle dient der scharfzüngigen Erzählstimme vor allem als Erzählvorwand und handlungsmotivierender Antrieb. Die Gegenstände der Reibung sind zweifacher Natur: Auf der Handlungsebene kollidiert Michelle universitätsintern mit den Ansprüchen des vom Prekariat bedrohten akademischen Nachwuchses (der in-betweens), mit dem die Erzählinstanz sich zu identifizieren scheint. Mit den etablierten Professoren und angepassten Karrieristen versteht Michelle sich indes ebenso gut wie mit ihren Eltern, den Vertretern der Ökonomie und anderen Agenten der außeruniversitären Welt. Dieser Einklang mit den Autoritäten und dem Establishment ist indes auf der Ebene des Discours Anlass der Reibung der Erzählinstanz an ihrer Titelfigur. Es liegt auf der Hand, dass ein expliziertes Ressentiment der Erzählstimme gegen ihre Figur sich zwangsläufig auch gegen erstere richtet. Das wiederum führt dazu, dass LeserInnen sich mit ihrer Empathie oder gar Sympathieverteilung ständig neu positionieren müssen. Deswegen, so meine These, steht im Zentrum der Lektüre die Selbstverständigung des/der LeserIn darüber, was an einer Universität stattfinden soll und wie die eigene Rolle dabei aussieht. „Hier kommt Michelle“ heißt nicht „Hier kommt ein Einzelfall“, sondern hier kommt eine Generation. Wer sie als Störung im Lehr- und Forschungsalltag versteht, ist einem Autofahrer vergleichbar, der versucht, seinen Kurs zu halten, während ihm lauter Falschfahrer entgegenkommen. Der Roman, liest man ihn als HochschullehrerIn nicht nur identifikatorisch, sondern auch ein bisschen analytisch, hilft, das, wenn nicht zu verstehen, so doch es einzusehen.

Eine Schlüsselszene des Romans Hier kommt Michelle spielt im Büro einer anglistischen Mittelbaudozentin mit Zeitvertrag, Heike Blum. Sie empfängt eine als durchaus typisch gezeichnete Erstsemester-Studentin in ihrer Sprechstunde, um über die zu schreibende Hausarbeit zu sprechen. Im Dialog kehrt eine Zeichenkette wieder, wie man sie sonst nur aus den Sprech- und Denkblasen in Graphic novels kennt, das drei- resp. vierfache Fragezeichen „???“. Mit ihm reagieren beide, Dozentin und Studentin, auf die Redebeiträge der je anderen, und dem (wechselseitigen) Nicht-Verstehen antwortet ebenfalls beidseitige Verständnislosigkeit.

Die Studentin, Michelle, hat mit Blick auf die zu verfassende Hausarbeit oder auch nur deren Thema

[…] keine Ahnung. Was soll ich denn machen, fragte sie, charmant und zu allem bereit, was Heike Blum ihr vorgeschlagen hätte. Aber Heike Blum wollte eben das vermeiden.

Heike Blum: Sie sollen selbst ein Thema entwickeln, verstehen Sie?

Michelle: Was denn zum Beispiel?

Heike Blum: Na eine Fragestellung, eine Hypothese, die Sie aus der Arbeit an dem Text gewinnen.

Michelle: Aber ich habe den Texte doch noch gar nicht gelesen!

Heike Blum: ????

Eine Schlüsselstelle ist dieser kurze Wortwechsel in mehrfacher Hinsicht: Zum einen bietet er für jemandem, der Geisteswissenschaften studiert, studiert hat oder näheren Umgang mit Studierenden oder Dozenten pflegt, Partikel selbst erlebter oder berichteter Wirklichkeit mit Wiedererkennungswert. Verknüpft mit diesem Realismuseffekt ist die Frage, mit welcher der beiden Dialogpartnerinnen der/die Lesende sich identifiziert, wessen Position er/sie nachvollziehbar im Sinne von ‚normal‘ und ‚richtig‘ findet und welche ihm so fremd und unverständlich, naiv oder unprofessionell erscheint, dass er ebenfalls mit dem Gestus emphatischen Unverständnisses – „???“ – reagieren möchte. Sollte der Rezipient beide Positionen verstehen und die Absurdität der Wechselrede in vollem Umfang nachempfinden, gehört er entweder biographisch zur Generation der in-betweens, der Bologna-Immigrants, die zu alt sind, das European-Credit-Transfer-System und den Impact-Factor umstandslos als Leitkriterien universitärer Lehre und Forschung anzuerkennen, und noch zu jung sind für das akademische Altenteil im Humboldtschen Emeritierten-Stift; oder der Rezipient entspricht typologisch ebenjenem impliziten Leser, auf den hin Pehnts Campusnovelle organisiert ist: einem sorgfältigen und hermeneutisch geschulten Leser ‚alter Schule‘, der aus der Distanz beobachtet, was die beteiligten Figuren und die Erzählstimme nicht erkennen (können). Darin liegt die zweite, metatextuelle Bedeutung der Szene: Sie inszeniert die Missverstehensprozesse im Zusammentreffen unterschiedlich sozialisierter akademischer Generationen als interkulturelle Alteritäts-Erfahrungen und führt vor, wie die Beteiligten einander verfehlen, ohne es selbst zu bemerken.

Schließlich gibt es jenseits der metatextuellen auch eine autopoetische Dimension der Schlüsselszene, insofern der Campusroman hier beispielhaft jene literaturwissenschaftlichen und erzähltheoretischen Positionen von Stanzel bis Genette, die er inhaltlich thematisiert, als Erzählpraxis vorführt, etwa indem er die Frage nach der Leithypothese als Problem der Romanorganisation aufwirft: Ist sie von der Erzähler-auctoritas (innerhalb der Handlung: der Dozentin) zu verantworten oder als eine Eigenleistung des Rezipienten (bzw. der Studentin) zu verbuchen? Eine Rezeptionsleistung ist allerdings, zumindest idealiter, an Lektüre gebunden, und dazu bleibt schon dem traditionellen Philologen notorisch wenig Zeit, wieviel weniger den Literaturstudierenden der Bologna-Ära. Michelle nämlich liest keine Bücher, sondern ausschließlich Zusammenfassungen: „Michelle hat Orwell nie gelesen, sich aber die Zusammenfassungen gut gemerkt.“ – ob das indes für das Erkennen dystopischer Szenarien in der realen Universitätswelt ausreicht, lässt der Text offen. Hier kommt Michelle  bedient in seiner verkürzenden, stereotypen Darstellungsweise diese vorgeblichen Lese- und Arbeitsgewohnheiten der jungen Studentengeneration, die da ‚abgeholt wird, wo sie steht‘, indem das traditionelle Erzählen der epischen Tradition in eine angeblich zeitgemäße intermediale Form transponiert wird.

Die oben thematisierte Frage nach der Leitidee nutzt der Roman, so meine Lesart, zur Selbstverteidigung und zur Autopoiesis gleichermaßen. Indem er Unterkomplexität und literarästhetische Merkmale des Trivialen im Genre des Campusromans mit dem zeithistorischen Kontext der Europäischen Universitätsreform „Bologna“ verbindet, erscheinen traditionell als Mängel gewertete Texteigenschaften als kongeniale literarische Anverwandlungen außerliterarischer Wirklichkeit. Die mimetische Leistung ist nicht nur gegenstandsbezogen, sondern umfasst zusätzlich zu den dargestellten Objekten auch deren Wirk- und Rezeptionsweisen. Insofern antwortete der Roman aktuellen Leserbedürfnissen nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch, etwa durch Kürze und Vereinfachung. Einen intertextuell geschulten, traditionell philologischen Leser muss die Textoberfläche frustrieren. Da er sie aber als Produkt eines Verfahrens historisch einordnen (und als intentionale Leistung würdigen) kann, indem er den Bologna-zeitgenössischen Campusroman auf der Folie seiner Tradition liest, vermag er Hier kommt Michelle als gattungshistorisches Menetekel zu begreifen. So wird der Roman zu einem Lackmustest für die Zugehörigkeit seiner Leser zur Prä- oder Post-Bologna-Generation: für erstere Ausdruck einer gattungspoetischen Schrumpfform, für letztere ein gelungener Unterhaltungsroman.

Dieser Text ist Teil des Aufsatzes „Romanreform? Campusroman meets Bologna“. In: Inseln des Eigensinns. Beiträge zum Werk Annette Pehnts (Poiesis. Standpunkte zur Gegenwartsliteratur). Hg. v. Friedhelm Marx unter Mitarbeit von Marie Gunreben. Wallstein, Göttingen 2013. S. 111-128.

Weitere Bücher, auf die im Text verwiesen wird:

Thea Dorn, Berliner Aufklärung, Berlin 1996.

Dorothee Nolte, Die Intrige. Ein Campus Roman, Berlin 1998.

Silvia Bovenschen, Wer weiß was? Eine deutliche Mordgeschichte, Frankfurt 2009.

Ulrike Dubber, Der englische Universitätsroman der Nachkriegszeit: Ein Beitrag zur Gattungsbestimmung, Würzburg 1991.

Cornelia Borchardt, Vom Bild der Bildung: Bildungsideale im anglo-amerikanischen Universitätsroman des 20. Jahrhunderts, Münster 1997.

Viktoria Stachowicz, Universitätsprosa. Die Selbstthematisierung des wissenschaftlichen Milieus in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Trier 2002.

Wolfgang Weiss, Die erzählte Alma Mater. Der anglo-amerikanische Universitätsroman, in: Forschung und Lehre 8/1995, S. 447-449.

Wolfgang Weiß, Der anglo-amerikanische Universitätsroman. Eine historische Skizze, Darmstadt 1988.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Annette Pehnt: Hier kommt Michelle. Ein Campusroman.
Piper Verlag, München 2012.
138 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783492300827

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