Dem Staatsstreich auf der Spur
Politische Belehrung als frühneuzeitlicher Kriminalroman – John Barclays „Argenis“ (1621)
Von Philip Haas
Der Kriminalroman als Literaturgattung der Aufklärung?
Der Kriminalroman entzieht sich bis heute seinen Kritikern: Zweifel scheinen und werden angebracht, wie er als Gattung zu definieren ist, ob es ihn überhaupt gibt oder ob die Literaturtheorie nicht seit Jahrhunderten einer Schimäre aufgesessen ist, die sich niemals wird überführen lassen.[1] Einig ist man sich hingegen, wann er erstmals auftrat, dass nämlich seine literarischen Vorläufer (Schauerroman, romantischer Roman) im späten 18. Jahrhundert entstanden, sich die Gattung im engeren Sinne dann im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss Edgar Allan Poes entwickelte, bis zahlreiche Detektive und Polizisten für eine der erfolgreichsten und breitenwirksamsten Literaturgattungen ermittelten.[2]
Diese historische Verortung wird dabei sowohl an sozial- als auch an geistesgeschichtlichen Bedingungen festgemacht: Während Verbrechen und Strafe seit jeher Menschheitsthemen waren, Kain den Abel erschlug und Schriftsteller seit der Antike dieses Sujet bearbeiteten,[3] sei der Kriminalroman dem bürgerlichen Rechtsstaat und dessen moderner Kriminalistik verpflichtet, die nach Verbannung der Folter nach Indizienbeweisen verlangte. Der Detektiv oder Polizist als rationaler Ermittler sei erst durch diesen fundamentalen Wandel des Kriminal- und Rechtssystems um die Mitte des 18. Jahrhunderts denkbar, folglich auch erst zu diesem Zeitpunkt eine fiktionale Verarbeitung besagter Materie möglich gewesen. Somit habe „der Rationalismus der Aufklärung und der innerweltliche Optimismus des 18. Jahrhunderts der Gattung Pate gestanden“.[4]
Ist der Kriminalroman eine Literaturgattung der Aufklärung und ein Produkt der Moderne, das sich vor der „Sattelzeit“[5] des 18. Jahrhunderts nicht einmal denken lässt? Zweifel scheinen angebracht, Ermittlungen nötig, ob sich die Vormoderne tatsächlich dieser Unterlassungssünde schuldig gemacht hat.
Indizien, Kriminalität und Kriminalroman in der Vormoderne – eine Spurensuche
Auf den ersten Blick scheinen die Beweise erdrückend zu Lasten der Vormoderne zu sprechen: Im Frühmittelalter wurde fast ausschließlich bei Majestätsverbrechen eine Art Beweisaufnahme durchgeführt, während ansonsten vor allem Eide und Leumundszeugen, gelegentlich auch Gottesbeweise über Schuld und Unschuld der Delinquenten entschieden. Ab dem 12. Jahrhundert gewann durch die Rezeption des römischen Rechts die individuelle Schuld an Bedeutung, die vor allem durch das Inquisitionsverfahren (inquire = nachforschen, untersuchen) ergründet werden sollte. In Form der im Jahre 1532 von Kaiser Karl V. erlassenen Constitutio Criminalis Carolina, die ihrerseits auf der Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 basierte, wurde für das Heilige Römische Reich erstmals eine einheitliche und systematische Strafrechtsordnung erlassen: „Sie kannte den privaten Anklage- und den amtlichen Inquisitionsprozess (der sich im Laufe des 16. Jahrhunderts meist überall durchsetzt), regelte die Anwendung der Folter und erlaubte eine Verurteilung nur bei einem Geständnis oder bei Überführung durch zwei Tatzeugen.“[6] Wie die Folter anzuwenden war, regelte die Carolina nicht, aber sehr wohl die Voraussetzungen für den Griff zu den Folterwerkzeugen und die Pflicht des Richters, entsprechende Voraussetzungen für eine Folterung durch Ermittlungen zu schaffen.[7]
Einen Sonderfall bildete die Hexenverfolgung, die ebenfalls eine Indizienlehre entwickelte, die Anwendung der Folter aber schneller zuließ als sonst üblich.[8] Den von Anfang an vorhandenen Kritikern der Hexenprozesse, welche an der Existenz von Magie und Hexerei zweifelten, hielt man entgegen, „dass es auf den Realitätsgehalt nicht entscheidend ankomme, wenn man die Verfolgungen auf die in der Hexerei zum Ausdruck gelangende häretische Gesinnung gründe.“[9] Ein fiktives Verbrechen konnte eine reale Gesinnung offenbaren. Im regulären Strafrecht existierten hingegen „zahlreiche Immunitäten von der Folter, z.B. für Adelige, Kleriker oder Doktoren des Rechts. In der Praxis war die Folter keineswegs die Regel“,[10] aber die kriminalistische Ermittlung war es auch nicht. Statt einer Polizei, die hätte ermitteln können, verstand man unter „Policey“ im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit eine „obrigkeitliche Ordnungsgesetzgebung, die in der Tendenz in immer mehr gesellschaftliche Bereiche normierend, regulierend und steuernd eingriff“, also das gesellschaftliche Zusammenleben durch Erlasse regelte.[11]
Wie hätte unter diesen sozialen und mentalen Gegebenheiten die fiktionale Beschäftigung mit Ermittlungen, rationalen Schlussfolgerungen und ‚aufklärerischen‘ Zielen, kurzum der Kriminalroman auch nur denkbar sein können?
Zwei mögliche Ansätze lassen sich finden: Einen stellt Volker Ladenthin heraus, der von „Aufklärung vor der Aufklärung“ spricht und anhand zahlreicher Erzählungen (Märchen und Schwänke) nachweist, dass es ihn bereits im Mittelalter gab, den ermittelnden Detektiv, ohne dass dieser sich allerdings so nannte. In einem rationalen Verhältnis zur Welt, die auf kausalen Zusammenhängen gegründet ist, klärt dieser rätselhafte Verbrechen auf, geht dabei systematisch und geradezu experimentell vor.[12] Ladenthin findet in der Vormoderne die Hauptfigur des Detektivromans – der allerdings recht vereinzelt dasteht, denn er ist kaum in gesellschaftliche Gegebenheiten oder in ein zeitgenössisches Politik- und Rechtssystem eingebunden. Aber der Kriminalroman „wurzelt in einer bestimmten Welt- und Menschenanschauung“,[13] die er mit seiner Leserschaft teilt. Er analysiert, problematisiert und bejaht zumeist deren Ordnungsmodelle und Wertekosmos, worin nicht zu geringem Teil seine Wirkungsabsicht und die „Massenwirksamkeit des Genres“ begründet liegen.[14] Zudem muss Ladenthin eingestehen, dass die von ihm aufgeführten Erzählungen nicht in der Lage sind, eine metapoetische Position zu beziehen, also die Art ihrer Narration und ihre Wirkungsabsicht zu reflektieren.
Der zweite mögliche Ansatz, den Kriminalroman der Vormoderne zu finden, soll im Folgenden ins Auge gefasst werden. Genauer gesagt geht es darum, ein Genre zu untersuchen, das fest in das Denken und in den Wertekosmos der Frühen Neuzeit integriert war und Strukturmerkmale mit dem Kriminalroman teilt. Diese Schnittmengen sind aufzuzeigen, ohne aber Einzelbestandteile der heutigen Literaturgattung gewaltsam auf Zeitreise in die Vergangenheit zu schicken und dabei lediglich Anachronismen zu produzieren. Besagtes Genre war der in lateinischer Sprache verfasste ‚Politische Roman‘, der im engeren Sinne mit der Argenis John Barclays im Jahre 1621 begründet wurde. Bevor dieses Werk im nächsten Abschnitt genauer analysiert werden kann, sind zunächst noch einige wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzungen dieser Romangattung kursorisch zu betrachten.
Ausgehend von Niccolò Machiavelli (1469–1527) und dessen Rezeption entwickelten sich im Laufe des 16. Jahrhunderts neue Formen politischer Rationalität, die einerseits das Denken über Politik veränderten, sich andererseits aber auch auf die politische Praxis auswirkten. Politisches Handeln sollte auf einer detaillierten Analyse der gegenwärtigen Situation, der eigenen Person, der Partner und Kontrahenten beruhen, um durch rationales Handeln in der Gegenwart die Zukunft zu gestalten.[15] Demnach galt es, wie es in einem frühneuzeitlichen Traktat heißt, „sorgsam das Gegenwärtige mit dem Zukünftigen abzugleichen, für alles Vorsorge zu tragen und nichts zu übergehen, woraus die Hoffnung auf Ertrag für den Fürsten und seine Nachfolger hervorleuchten könnte.“[16] Politischem Handeln sollte die Ermittlung aller relevanten Informationen vorausgehen, auf dieser Basis seien politische Interessen und Wege zu deren Durchsetzung auszuformulieren. Dieser Denkansatz, der sich mit der Lehre von der Staatsräson verband, also den Mitteln, um den Staat zu stabilisieren und zu erhalten, manifestierte sich nicht nur in einer Flut politischer Publizistik, sondern auch institutionell als Fach an den frühneuzeitlichen Universitäten. So entstanden um 1600 an den Universitäten des Heiligen Römischen Reichs die ‚Politica‘, also die ‚politischen Wissenschaften‘, die als praktische Begleitwissenschaften der frühmodernen Staatsbildung zu betrachten sind und vor allem als Propädeutik zu den Rechtswissenschaften dienten.[17] Einschlägige Traktate und Abhandlungen reflektierten politische Fragen einerseits theoretisch-abstrakt, nutzten zugleich aber auch das historische Beispiel oder exemplum als induktiven Beweis und Überzeugungsmittel.[18] Ein solches Narrativ zur exemplarischen Ermittlung und Vermittlung der ‚Wahrheit‘ konnte auch fiktional sein und wies sodann erstaunliche Schnittmengen mit dem Kriminalroman auf. Der Roman Argenis ist ein solches „überdimensionales Exempel“[19] in fünf Büchern und auf mehreren hundert Seiten. Er wurde bereits als „detective novel“[20] identifiziert, aber bislang nicht weiter unter diesem Gesichtspunkt untersucht. Dies soll im Folgenden geschehen, wobei gerade die Spezifika dieses Buches als frühneuzeitlicher Kriminalroman herauszustellen sind.
John Barclays „Argenis“ als politischer Thriller der Frühen Neuzeit
John Barclay (1582–1621) stammte aus einer schottischen Familie katholischer Konfession, kam aber aufgrund des Berufs seines Vaters, der Juraprofessor an mehreren französischen Universitäten war, in Frankreich zur Welt. Sein Vater, William Barclay, machte sich einen Namen als Verfechter eines ‚absolutistischen‘ Königtums, das er publizistisch gegen konfessionell motivierte Gegner der Monarchie (Monarchomachen) und den Vormachtsanspruch des Papstes verteidigte. Sein Sohn John galt als hochbegabtes Kind, das bereits im Jugendalter Gedichte und Prosawerke in lateinischer Sprache verfasste. Bald knüpfte er Kontakte zu führenden Gelehrten seiner Zeit und lebte mehrere Jahre am Hof Jakobs I. von England. Dieser engagierte ihn auch für diplomatische Unternehmungen und schickte ihn an zahlreiche europäische Fürstenhöfe. Nach einem Aufenthalt an der Residenz des französischen Königs Ludwig XIII. übersiedelte Barclay zuletzt nach Rom, um in den Genuss eines päpstlichen Stipendiums zu kommen. Dort starb er kurz nach der Abfassung seines bei weitem berühmtesten Werks, der Argenis, im Jahre 1621.[21]
Wovon handelt dieser Roman? Der Text beginnt medias in res mit der Ankunft von Archombrotus, einem der beiden Protagonisten, auf Sizilien. Noch am Strand trifft er auf eine Frau namens Timoclea, die ihn und seine Diener um Hilfe für die zweite Hauptfigur des Romans, Poliarchus, bittet. Dieser, wie Archombrotus kein Einwohner der Insel, wurde in einen Hinterhalt gelockt und von mehreren Männern angegriffen, welche er aber in Notwehr ohne fremde Hilfe er-, beziehungsweise in die Flucht schlägt. Auf dem Landgut Timocleas wird der Neuankömmling über die Ursachen des Hinterhalts und die politische Situation auf der Insel unterrichtet: Unzufrieden mit der schwächlichen Herrschaft des Königs Meleander verschwor sich ein bedeutender Adliger namens Lycogenes gegen diesen und wollte einen bewaffneten Staatsstreich unternehmen. Er entführte deshalb auch dessen Tochter, Argenis, und war im Begriff diese zu vergewaltigen, als Poliarchus sie in einer gewagten Aktion befreien konnte. Beide lieben einander nun heimlich. Seitdem tobt ein Bürgerkrieg auf Sizilien und Lycogenes will sich an Poliarchus rächen. Mit dieser Rückschau kann die eigentliche Handlung des Romans beginnen.
Diese erfüllt nun einerseits mustergültig die Kriterien eines Thrillers, den Peter Nusser neben dem Detektivroman als wichtigste Subgattung des Kriminalromans deutet und untersucht: Das Verbrechen (Verschwörung, Staatsstreich, Entführung und versuchte Vergewaltigung) liegt zeitlich vor der eigentlichen Romanhandlung und dauert teilweise fort. „Es ist nicht das Rätsel, sondern Ereignis, gegen das man sich wehren kann und muss. Die Abwehr der Bedrohung fasziniert den Leser.“ Angeleitet durch einen – oder in diesem Fall zwei – überlegene Heldenfiguren bildet sich eine „ingroup“, die eine „outgroup“, hier die Gesellschaft Siziliens, gegen eine Gruppe von staatsgefährdenden Verschwörern zu schützen bemüht ist. Die Umstürzler werden von einem geradezu übermenschlichen Antihelden angeleitet, zu dessen Kennzeichen das „Außermenschliche, Tierische, Hinterlist und Brutalität“ zählen.[22] Lycogenes erfüllt all diese Kriterien mustergültig, zumal sein Name auf Altgriechisch der „Wolfsgeborene“ bedeutet. Diesem gelingt es im ersten Buch, Poliarchus als den eigentlichen Verbrecher darzustellen, so dass der König nach ihm fahnden lässt und seinen ganzen ‚polizeilichen‘ und juristischen Apparat gegen ihn in Bewegung setzt. Poliarchus greift zu rationalen Gegenstrategien: Mit Hilfe seiner Freunde versteckt er sich und holt Erkundigungen ein, um hinreichend Informationen zu gewinnen. Darauf aufbauend kann er falsche Gerüchte von seinem Tod ausstreuen und schließlich von der Insel fliehen. Archombrotus gelingt es durch geschicktes Taktieren in den ersten beiden Büchern am Hof des Königs zu reüssieren, wobei er sich nun ebenfalls in Argenis verliebt. König Meleander erhält unerwartet Unterstützung gegen Lycogenes durch Radirobanes, den König von Sardinien. Listen, Intrigen und Anschläge folgen aufeinander, die beiden Helden und der Antiheld ringen um den Bestand des sizilianischen Inselstaates. Im dritten Buch, nicht wie sonst im Thriller üblich in der Schlussszene, kommt es zum Showdown zwischen Poliarchus und Lycogenes, wobei der Held den Antihelden in dramatischem Kampf erschlägt. In den folgenden beiden Büchern verschiebt sich die Front von gut und böse: Zunächst erhebt Radirobanes Anspruch auf Sizilien und die Hand der Königstochter Argenis und unternimmt einen Feldzug gegen Mauretanien. Dort wird er in einem weiteren Showdown von Poliarchus getötet, der sich dort aufhält. Im letzten Buch geraten die beiden befreundeten Helden nun gegeneinander in Streit: Beide begehren Argenis und die Herrschaft über Sizilien. Zudem erfährt der Leser, dass sie die ganze Zeit über Decknamen verwendet haben: Poliarchus entstammt in Wahrheit dem französischen Königshaus, Archombrotus ist tatsächlich ein mauretanischer Prinz. Wie sich herausstellt, ist Letzterer der uneheliche Sohn Meleanders und damit der Halbbruder von Argenis, womit der Konflikt zwischen den beiden Protagonisten beigelegt ist und Hochzeit gehalten werden kann.
Zugleich hat Barclays Roman aber eben mehr zu bieten als genannte Schnittmengen zum modernen Thriller. Die Argenis weicht zum Teil erheblich von diesem ab und übertrifft ihn in vielen Punkten: Das Werk ist ein politisches Traktat in Romanform. Immer wieder werden längere Passagen und Exkurse zu grundlegenden politischen Themen des 16. und 17. Jahrhunderts eingeschoben, wie etwa zu den Charakteristika und Tücken eines Königshofs (I, 6; I, 13) zur besten Regierungsform (I, 18), zum Umgang mit religiösen Minderheiten (II, 5), zu staatlichen Notlagen und Notstandsregelungen (III, 4-6), zu Anwälten und dem Rechtssystem (III, 22), stehenden Heeren (IV, 4), Steuererhebungen (IV, 18) oder Diplomaten (V, 3). Diese Ausführungen wurden bis weit ins 18. Jahrhundert hinein intensiv von Politik- und Rechtsgelehrten rezipiert und fanden auch in der politischen Praxis einen gewissen Widerhall.[23] Der Romanhandlung kommt dabei eine tragende didaktische Rolle zu: Archombrotus und Poliarchus veranschaulichen durch ihre Reflexionen und Handlungen, wie rationales, auf Informationen basierendes politisches Handeln im oben skizzierten Sinne erfolgen kann und muss. Meleander, der schwächliche König von Sizilien, fungiert als Kontrastfigur, denn er lässt sich von seinen Neigungen und Impulsen treiben, statt rationale Methoden auf dem Felde der Politik anzuwenden (deshalb bedeutet sein Name auf Altgriechisch auch der „Honigmann“). Dies führt zu einem anhaltenden Machtvakuum und weckt Begehrlichkeiten auf den Thron, wobei die fragile und schutzlose Prinzessin Argenis allegorisch die Macht über Sizilien verkörpert. Nach ihr streben in einer Klimax erst der Schurke Lycogenes, dann der ambivalent geschilderte Radirobanes und schließlich sogar die befreundeten Helden. Die Protagonisten von Barclays Roman teilen nicht nur thrillertypisch die Weltsicht und den Wertekosmos der Gesellschaft, in der sie leben und den ihrer Leser, sondern ihre Handlungen und Reflexionen konstituieren diese erst. Dabei sind aber selbst die Helden strukturellen Defiziten des politischen und rechtlichen Status Quo unterworfen, so dass schließlich sogar sie als Positivfiguren gegeneinander beinahe zu den Waffen greifen. Der Roman reflektiert zugleich seine schriftstellerischen Absichten und die erhoffte Wirkung beim Leser innerhalb eines eigenen Kapitels. Demnach habe Dichtung dem Gemeinwohl zu dienen. Ihr komme eine staatstragende Aufgabe zu, indem sie an großen Ereignissen gelungenes und tugendhaftes politisches Handeln zeige (II, 14).
Der Text gewinnt durch eine weitere Deutungsebene zusätzlich an Tiefe: Argenis ist ein Schlüsselroman für die französischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts, die nach dem Herrschaftsantritt Ludwigs XIII. im Jahre 1617 wieder an Fahrt aufnahmen (Belagerung der hugenottischen Festung Montauban 1621). Die Figuren des Buches wurden als real existierende Personen der französischen Geschichte identifiziert, so dass sich bereits in frühen Drucken des Werks Personenschlüssel finden.[24] Der damalige Leser konnte mit Hilfe der Argenis die jüngere Vergangenheit und indirekt die eigene Gegenwart deuten und verstehen. Der Autor selbst widmete das Werk eben jenem Ludwig XIII. von Frankreich, der sich in der Handlung wiedererkennen könne und solle, so dass der König als vornehmster Adressat anzusehen ist.
Die eben skizzierte Konzeption des Romans kam offensichtlich gut bei der damaligen Leserschaft an, war die Argenis doch ein Bestseller der Frühen Neuzeit. Sie erfuhr mehr als 50 Auflagen, wurde rasch in 13 Sprachen übersetzt und fand zahlreiche unautorisierte Fortsetzungen. Ihre didaktische Wirkung war insbesondere im 17. Jahrhundert stark und nachhaltig, aber auch im 18. Jahrhundert wurde sie noch gelesen: Neben dem bedeutenden Völkerrechtler Hugo Grotius beschäftigten sich beispielsweise Gottfried Wilhelm Leibniz, Pierre Bayle und Kardinal Richelieu mit dem Werk, wobei Letzterem nachgesagt wurde, geradezu ein Schüler Barclays zu sein.[25] Die erste Übersetzung ins Deutsche erfolgte 1626, sie stammte von keinem Geringeren als dem Barockdichter Martin Opitz. Mögen heutige Kriminalromane sich unter Umständen gut verkaufen, keinesfalls erreichen sie den Grad an politischer und gesellschaftlicher Relevanz, den Barclays Argenis erzielte.
Schriftstellerisch begründete das Buch zudem die Gattung des lateinischsprachigen politischen Romans in Europa. Zahlreiche ähnliche Werke wurden in der Folgezeit verfasst, die analoge Ziele durch vergleichbare Handlungen verfolgten. Freilich fanden sie nicht die Resonanz der Argenis und innerhalb der heutigen Frühneuzeitforschung wurden sie bislang auch kaum untersucht.[26] Inwiefern dieses Genre den modernen Kriminalroman beeinflusste, steht ebenfalls noch zu erforschen aus. Für einen möglichen Einfluss spricht der Befund, dass die frühen Ansätze des Kriminalromans im 18. Jahrhundert, wie etwa die Causes célèbres des Juristen François Gayot de Pitaval und deren Übertragung durch Friedrich Schiller im Jahre 1792, bekanntlich dem Zweck dienen sollten, die Politik-, Rechts- und Menschenkenntnis des Lesers anhand juristischer Exempel zu vermehren.[27] Diesem Ziel sah sich auch die Argenis verpflichtet, unter dieser Perspektive wurde sie im 17. und 18. Jahrhundert gelesen und 1794 erneut ins Deutsche übersetzt.
Barclays Roman war ein Kriminalroman, aber ein spezifisch frühneuzeitlicher: Eine kleine Gruppe von Helden ringt mit einem verbrecherischen Antihelden und dessen Unterstützern um den Bestand des Staates. Sie ermitteln gegen diesen, spüren seine Schlichen auf, legen ihm das Handwerk und kontern seine Umsturzpläne durch rationale Gegenstrategien. Als politisch Handelnde sind Poliarchus und Archombrotus dem Staatsstreich auf der Spur, geraten zum Schluss aber selbst in die Gefahr, einen solchen zu begehen. Die Handlung des Romans beförderte neue Formen politischer Rationalität. Einerseits bereitete sie diese in spannender Weise auf, andererseits kam deren praktische Anwendung – wenn auch nur in der Fiktion – dem sehr nahe, was heute als Kriminalroman beziehungsweise Thriller definiert wird. Diese Rationalität und Belehrung des Lesers erwuchs nicht erst aus der Epoche der Aufklärung, ist sie doch deutlich älter als diese und anderen Denkmustern verpflichtet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu etwa bereits: Tzvetan Todorov: Typologie des Kriminalromans [1966]. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998. S. 208f.
[2] Einen kompakten, aber umfassenden Überblick mit weiterführender Literatur bietet Peter Nusser: Der Kriminalroman. 4. Aufl. Stuttgart / Weimar 2009. S. 69–160.
[3] Vgl. hierzu insbesondere den Sammelband: Ulrich Mölk (Hg.): Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis zur Gegenwart. Göttingen 1996.
[4] Peter Nusser: 2009. S. 70–73, direktes Zitat auf S. 72f.
[5] Der von Reinhart Koselleck geprägte Begriff der Sattelzeit geht davon aus, dass sich insbesondere in der Spätphase der Aufklärung ab 1750 für die Moderne entscheidende Wandlungen von Begriffen und damit verbundenen Denkweisen vollzogen hätten. Vgl. hierzu: Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1979.
[6] Jan Zopfs: Zur Entwicklung des Strafrechtsverfahrens in Deutschland. Online: www.jura.uni-mainz.de/zopfs/Dateien/strafe.pdf [zuletzt aufgerufen am 16.5.2016]. Zu den eben skizzierten Entwicklungen des Strafrechts vgl. insbesondere: Hinrich Rüping / Günter Jerouschek: Grundriss der Strafrechtsgeschichte. 6. Aufl. München 2006. S. 4–57.
[7] Vgl. hierzu den berühmten Artikel 6 der Constitutio criminalis Carolina. Siehe hierzu auch: Peter Oestmann: Rechtmäßige und rechtswidrige Folter im gemeinen Strafprozess. In: Thomas Weitin (Hg.): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA. Bielefeld 2010. S. 93–95.
[8] Vgl. hierzu: Michael Siefener: Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie. Das crimen magiae in der Literatur von 1574–1608. Frankfurt a.M. / Bern / New York / Paris 1992, insbesondere S. 181–211.
[9] Hinrich Rüping / Günter Jerouschek: 2011. S. 60.
[10] Ebd. S. 54.
[11] Karl Härter: Religion, Frieden und Sicherheit als Gegenstand guter Ordnung und Policey. In: Wolfgang Wüst / Georg Kreuzer / Nicola Schümann (Hg.): Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung. Augsburg 2005. S. 143.
[12] Volker Ladenthin: Aufklärung vor der Aufklärung: Literarische Detektive im deutschen Mittelalter. In: Armin Arnold (Hg.): Sherlock Holmes auf der Hintertreppe. Aufsätze zur Kriminalliteratur. Bonn 1981. Auf S. 99 fasst Ladenthin die Eigenschaften des Detektivs, auf die es ihm bei seiner Untersuchung ankommt, wie folgt zusammen: „Seine Haupteigenschaft ist die auf Vernunft gegründete List. Dazu kommen: Neugier, der Wunsch, Dinge zu erklären, zu durchschauen, Rätsel zu lösen, die Fähigkeit, misstrauisch gegenüber dem Glatten, dem Offensichtlichen, dem Vertrauten zu sein, das Talent, durch Verkleiden und Verstellen in andere Rollen zu schlüpfen und Gewalt zielgerecht einzusetzen. […] Als wichtiger noch erweisen sich gute Beobachtungsgabe, verbunden mit Vorsicht; der Detektiv muss Erkundigungen über den Täter einholen, muss die Erfahrungen seiner Vorgänger richtig deuten und nutzen können.“
[13] Ulrike Leonhardt: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München 1990. S. 161.
[14] Hierzu ausführlich: Peter Nusser: 2009. S. 167–190 sowie S. 51–60.
[15] Vgl. hierzu insbesondere: Cornell Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006.
[16] Friedrich August Pelzhoffer: Arcana status. Frankfurt a. M. 1710. Liber II. Caput X. §1.
[17] Grundlegend hierzu: Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992.
[18] Christine Reinle / Harald Winkel: Einführung. In: Dies. (Hg.): Historische Exempla in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren. Frankfurt a. M. 2011. Insbesondere S. 7. Zur normativen Funktion des Beispiels vgl. Stefan Willer / Jens Ruchatz / Nicolas Pethes: Zur Systematik des Beispiels. In: Dies. (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007. S. 40–55.
[19] Susanne Siegl-Mocavini: John Barclays „Argenis“ und ihr staatstheoretischer Kontext. Untersuchungen zum politischen Denken der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999. S. 18.
[20] Mark Riley / Dorothy Pritchard Huber (Hg.): John Barclay. Argenis. Bd. 1. Assen 2004. S. 16.
[21] Zu Leben und Werk von John Barclay und seinem Vater, vgl. ebd. S. 3–44.
[22] Zu den Strukturmerkmalen des Thrillers, vgl. Peter Nusser: 2009. S. 50–68, direkte Zitate auf S. 51 und S. 58.
[23] Zur Bedeutung der „Argenis“ für die theoretische Debatte zur Fürstenehe und zur Lehre von der Staatsräson insgesamt, vgl. Philip Haas: ‚Die Verheiratung der Argenis‘. Die dynastische Ehe der Frühen Neuzeit als ‚alternativer‘ Weg des Staatsräsondiskurses. In: Zeitschrift für historische Forschung. Zur Relevanz dieses Romans und der Traktatliteratur der Frühen Neuzeit für die politische Praxis am Beispiel frühneuzeitlicher Ehepolitik, vgl. ders.: Fürstenehe und Interessen. Die dynastische Ehe der Frühen Neuzeit in zeitgenössischer Traktatliteratur und politischer Praxis am Beispiel Hessen-Kassels. Als Dissertation an der Philipps-Universität Marburg eingereicht im Januar 2016.
[24] Ein kommentierter Personenschlüssel zweier Ausgaben von 1627 und 1630 findet sich bei: Mark Riley / Dorothy Pritchard Huber: 2004. S. 45–48.
[25] Vgl. Susanne Siegl-Mocavini: 1999. S. 1–11.
[26] Eine Aufzählung wichtiger Romane dieser Gattung bis zum Jahre 1741 finden sich bei: Mark Riley / Dorothy Pritchard Huber: 2004. S. 3f., Fn. 3.
[27] Vgl. hierzu beispielsweise: Jörg Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive [1983]. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998. S. 322f.