Kein Überblick

Rudolf Neuhäusers Essayband „Russische Literatur 1780–2011. Literarische Richtungen – Schriftsteller – kulturpolitisches Umfeld“ lässt einiges zu wünschen übrig

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buchtitel wie Russische Literatur 1780-2011 weckt einige Erwartungen. Freilich fehlt hier der bestimmte Artikel: nicht von der russischen Literatur ist die Rede. Der kleine Unterschied scheint bedeutsam, denn um eine Geschichte der russischen Literatur im besagten Zeitraum oder – ein wenig bescheidener ausgedrückt – um eine Überblicksdarstellung handelt es sich bei Rudolf Neuhäusers Buch nicht. Gleichwohl muss sich der Band an seinem Titel messen lassen. Die Monografie, die der Titel trotz allem suggerieren könnte, bietet das Buch nicht. Die Frage, wie es zustande gekommen ist und was denn seine eigentliche Absicht ist, bleibt denn auch bei der Lektüre stets präsent. Der vorliegende Band ist eben keine kompakte, in sich schlüssige Darstellung, sondern vielmehr eine Sammlung einzelner Essays, die hier notdürftig unter ein gemeinsames Dach gebracht wurden. Die Texte wurden allesamt schon zuvor veröffentlicht – der älteste 1977, die meisten in den 1980er-Jahren. Das ist nicht an und für sich schlecht. Und für den vorliegenden Band wurden die Texte wohl teilweise überarbeitet – das lässt sich zumindest an den veränderten Titeln ablesen. Wie stark aber sie jedoch tatsächlich aktualisiert wurden, bleibt offen. Da die Essays nun in ein größeres Ganzes eingebettet werden, drängt sich im Weiteren die Frage auf, ob zwischen den verschiedenen Texten Übergänge oder Verbindungen geschaffen wurden. Auf den ersten Blick, so viel lässt sich sagen, scheint dies allerdings nicht der Fall zu sein. Wie auch immer: Man hätte sich zumindest ein paar einleitende Bemerkungen zu diesen Punkten gewünscht.

Es erweckt den Anschein, als sollten die Kapiteltitel in gewissem Sinn die Aufgabe einer Gliederung übernehmen, die ansonsten nicht vorhanden ist. Rudolf Neuhäuser (geboren 1933), Professor emeritus der Universität Klagenfurt, hat die insgesamt zwölf Essays in vier Blöcke eingeteilt, die sehr allgemeine Überschriften tragen: „I. Russlands Literatur auf dem Weg nach Europa“; „II. Von der Romantik zum Realismus“; „III. Jahrhundertwende und Sowjetliteratur“; „IV. Russland – Quo vadis?“ – Der Vorteil bei einem solchen Vorgehen ist natürlich, dass sehr vieles, auch Disparates, mit aufgenommen werden kann. Anderseits geht dies jedoch auf Kosten der Aussagekraft: Ein Titel wie „Jahrhundertwende und Sowjetliteratur“ ist im besten Fall nichtssagend. Im schlechtesten Fall lässt er den Eindruck aufkommen, der Autor wolle hier tatsächlich in einem einzigen Kapitel nahezu 100 Jahre russischer und sowjetischer Literatur abhandeln. Erst der Blick auf die Titel der einzelnen Essays zeigt, dass hier ganz einfach vier sehr unterschiedliche Texte zusammengebracht wurden: 1. Avantgarde und Avantgardismus; 2. Alexander Ginzburg und die Manipulation von Texten; 3. Jurij Trifonows „Langer Abschied“ und die Prosa der 60er Jahre; 4. Alexander Wampilow: „Die Entenjagd“.

Man sollte deshalb bei diesem Thema nicht länger als nötig stehenbleiben, sondern sich auf die einzelnen Essays konzentrieren. Denn nicht auf der Makroebene – in einer vermeintlichen Überblicksdarstellung –, sondern in den Einzeluntersuchungen lassen sich die Stärken des Buches finden. So folgt man Rudolf Neuhäuser mit Interesse, wenn er – auf bereits bestehende Ansätze aufbauend –, versucht, einen zunächst doch recht „deutschen“ Epochenbegriff wie das „Biedermeier“ für die russische Prosa und Lyrik der 1850er-Jahre fruchtbar zu machen. Neuhäuser versteht dabei „Biedermeier“ im Rückgriff auf Heinz Kindermann (Romantik und Realismus, 1926) als einen „Realidealismus“, womit der Übergangscharakter dieser Richtung erfasst, zugleich aber auch deren Nähe zum Realismus betont werde. Neuhäuser führt zahlreiche Beispiele aus der russischen Prosa (etwa Erzählungen von Iwan Turgenjew und Lew Tolstoj) und Lyrik (unter anderem Fjodor Tjutschew, Afanassi Fet, Karolina Pawlowa) jener Jahre an. Seine Überlegungen sind meist dann am ansprechendsten, wenn er sich einem close reading der Texte (und zwar besonders der Gedichte) widmet. Hier fördert er so manche Erkenntnisse zutage und liefert mit ihnen gleichzeitig die nötigen Argumente, um seine These von der Existenz einer eigenen russischen Spielart des Biedermeier zu untermauern. Hingegen ist gerade auch bei Neuhäusers Überlegungen zur Lyrik anzumerken, dass der Autor nicht immer zwischen dem Dichter selbst und dem lyrischen Ich in dessen Texten unterscheidet.

Weniger zu überzeugen vermag dagegen der letzte Essay des Bandes, der mit dem Titel Der Beginn des 21. Jahrhunderts zugleich den einzigen Text in Kapitel IV bildet. Die Hälfte des Essays besteht aus Hintergrundinformationen zu Epoche, Gesellschaft und Politik – wobei sich Neuhäuser vorwiegend auf die Tagespresse der 1990er-Jahre stützt (meist ist es die Zeitschrift Profil). Das wirkt etwas allzu publizistisch und ist zudem oft nicht mehr aktuell. Erst anschließend folgt ein „kursorischer Überblick“, der allerdings meist nur wenig über Namedropping hinausgeht. Neuhäuser erwähnt unter anderem Oksana Robski, Wladimir Makanin, Wassili Aksjonow, Wiktor Jerofejew, Wladimir Sorokin, Viktor Pelevin und Michail Schischkin. Zweifellos sind damit einige wichtige Autoren genannt, aber mancher Name wirkt hier auch ziemlich zufällig: Oksana Robski erhält wohl objektiv (und im Rückblick) gesehen zu viel Aufmerksamkeit; an ihrer Stelle hätte man vielleicht besser Tatjana Tolstaja und Ljudmila Ulitzkaja anführen müssen. Der Text berührt einiges, streift es jedoch meist nur, weshalb am Schluss doch eher wenig hängen bleibt.

Selbstverständlich ist Neuhäuser zugute zu halten, dass diese Epoche immer noch andauert und daher noch nicht abschließend beurteilt werden kann. Aber man hätte doch schon ansatzweise eine Differenzierung zwischen den 1990er-Jahren und dem Beginn des 21. Jahrhunderts vornehmen können – denn es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass sich hier in der russischen Literatur bereits Unterschiede herausgebildet haben. Auch gegen Fehler sind Rudolf Neuhäusers Ausführungen nicht gefeit: So wiederholt er bei der Diskussion von Wladimir Makanins epochaler Erzählung Der kaukasische Gefangene die weitverbreitete, aber falsche Ansicht, beim im Titel erwähnten Gefangenen handele es sich um einen Tschetschenen. Makanin verwendet diesen Begriff in seiner Erzählung an keiner einzigen Stelle. Der Text wurde überdies vor dem Ausbruch des Ersten Tschetschenienkriegs fertiggestellt. Der sich hartnäckig haltende Fehler vom „tschetschenischen Gefangenen“ ist im Übrigen ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich politische Entwicklungen über einen literarischen Text gelegt haben und dessen Wahrnehmung in der Folge beeinflussen, ja gar verfälschen.

Ein wirklich großes Ärgernis sind die zahlreichen Fehler und Schludrigkeiten im inhaltlichen sowie formalen Bereich. Vom Böhlau Verlag war man so etwas bisher eigentlich nicht gewohnt. Ein Lektorat hat es hier wohl einfach nicht gegeben. – Ein paar Beispiele für die vielen Fehler: Zar Alexander I. wird einmal als Enkel Katharinas der Großen bezeichnet (S. 7), was korrekt ist – später jedoch als ihr Sohn (S. 10). Der Dekabristenaufstand wird auf das Jahr 1826 datiert (S. 61; statt richtig: 1825). Die Dichterin Karolina Pawlowa erhält an einer Stelle den falschen Nachnamen Pawlowna, und so weiter. An Ungenauigkeiten fallen etwa falsche Titel auf: So heißt Iwan Karamsins Werk auf Deutsch korrekt Briefe eines russischen Reisenden und nicht Briefe eines reisenden Russen. Und warum fungiert Zar Iwan IV. bei Neuhäuser als „Iwan der Grausame“ (S. 38)? Diese deutsche Bezeichnung mag in der Vergangenheit hie und da verwendet worden sein – heute ist aber doch eigentlich nur noch „Iwan der Schreckliche“ gebräuchlich. An einer Stelle ist vom „unlängst“ gewählten Patriarchen Kirill die Rede (S. 233). Kirill ist seit 2009 Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche. Auch 2013, als Neuhäusers Buch publiziert wurde, war eine solche Zeitangabe bereits ungenau. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Essays höchstens oberflächlich und eben nicht konsequent aktualisiert wurden. Zu all dem gesellen sich en masse fehlerhafte Zitate, fehlende Schlusszeichen und Nachweise sowie Inkonsequenzen bei der Umschrift der russischen Namen und Zitate. Selbst der Untertitel des Buchs wird nicht konsequent verwendet. Eigentlich lautet er: Literarische Richtungen – Schriftsteller – kulturpolitisches Umfeld, doch im Inhaltsverzeichnis auf Seite 1 ist plötzlich von „Epochen“ statt von „Literarischen Richtungen“ die Rede. Des Weiteren fallen auch stilistische Mängel (etwa Wiederholungen ganzer Ausdrücke und Metaphern innerhalb weniger Zeilen) und manch grammatischer Fehler auf. Unpassend erscheinen schließlich auch die zahlreichen Ausrufezeichen, die zuweilen marktschreierisch und deplatziert wirken. – Soll man das alles als vernachlässigbar abtun und darüber hinwegsehen? Vielleicht. Aber wer will dem Ganzen trauen, wenn so viele Kleinigkeiten nicht stimmen? Für eine wissenschaftliche Publikation ist die pure Anzahl der inhaltlichen und formalen Mängel jedenfalls grenzwertig.

Auch die Jahreszahl 2011 im Titel des Bandes wirkt reichlich unmotiviert. Dabei handelt es sich wohl einfach um den Redaktionsschluss – was jedoch schade ist, denn hier wurde eine Gelegenheit verpasst. Man hätte sich eine zeitliche Begrenzung vorstellen können, die entweder literarhistorisch oder dann zumindest mit Hilfe äußerer, politisch-gesellschaftlicher Gegebenheiten begründet würde. Vielleicht hätte sich hier eher das Jahr 2012 als Endpunkt angeboten – jenes Jahr, in dem Wladimir Putin wieder die Geschicke des Landes übernahm. Auch für diesen Punkt gilt: Zumindest eine kurze Erklärung für die Wahl der Jahreszahl hätte man erwarten dürfen. Rudolf Neuhäusers Essayband richtet sich an „das an Russland interessierte Leserpublikum, wie auch an die Studierenden der Slawistik und an Fachkollegen“. Gewiss: Alle hier Genannten mögen in der vorliegenden Essaysammlung etwas Nützliches, Interessantes oder Neues finden. Aber eine Einführung in oder auch ‚nur‘ ein Überblick über die russische Literatur von 1780 bis 2011 wird hier nicht geboten.

Titelbild

Rudolf Neuhäuser: Russische Literatur 1780-2011. Literarische Richtungen – Schriftsteller – Kulturpolitisches Umfeld. 12 Essays.
Böhlau Verlag, Wien 2013.
248 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783205789260

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