Geschlecht, Migration und (Post)Sozialismus

Madlen Kazmierczaks literaturwissenschaftliche Studie „Fremde Frauen“

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weiblichkeit, soziokulturelle Deutungsmuster und Intersektionalität stehen im Mittelpunkt dieser erhellenden und gründlich recherchierten Studie mit dem allerdings etwas unglücklich gewählten und letztendlich unpassenden Titel „Fremde Frauen: Zur Figur der Migrantin aus (post)sozialistischen Ländern in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Die Autorin kritisiert zu Recht Kategorisierungs- und Klassifizierungsversuche, die zu einer Marginalisierung der von ihr besprochenen Texte innerhalb der deutschsprachigen Literatur geführt haben – ein Ansatz, der durch die Betonung des Fremden in ihrem eigenen Titel unterlaufen wird.

Das erklärte Ziel der Studie ist es, die Sicht der im westlichen Diskurs zur Anderen Erklärten vorzustellen – Literatur ermöglicht es nicht über, sondern aus der Perspektive der migrierten Subjekte zu sprechen – und Verschränkungen zwischen Herkunftskategorien und der soziokulturellen Inszenierung des Geschlechts in der Prosa zeitgenössischer Autorinnen herauszuarbeiten. Dazu werden fünf Texte exemplarisch herangezogen und ausführlich analysiert: Herta Müllers „Reisende auf einem Bein“ (1989), Julya Rabinowichs „Spaltkopf“ (2008), Melinda Nadj Abonjis „Tauben fliegen auf“ (2010), Alina Bronskys „Die schärfsten Gerichte der tartarischen Küche“ (2010) und Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012). Im Zentrum dieser fünf Texte, die Kazmierczak zufolge einzig aufgrund ihrer Thematik ausgewählt wurden, nicht im Hinblick auf die Biografien der Autorinnen, steht die Figur der Migrantin aus (post)sozialistischen Staaten.

Migrationsprozesse können kulturelle Variationen von Geschlecht aufzeigen und dadurch auf die Konstruiertheit von Geschlechtsidentität verweisen, das ist die dem Werk zugrundeliegende Prämisse. Diese von den Genderwissenschaften schon ausführlich illuminierte Verbindung von Geschlecht und Herkunft ist ein ergiebiger Ansatzpunkt sowohl zur Analyse literarischer Werke als auch zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse – auch wenn die Aufarbeitung der der Studie zugrunde liegenden theoretischen Ansätze bei Kazmierczak ein wenig zu detailliert und langatmig gerät („Fremde Frauen“ hat insgesamt 714 Fußnoten!).

Der weitaus gewinnbringendere Hauptteil der Studie besteht aus fünf parallelen Kapiteln zu den fünf primären Texten, alle untergliedert in drei Sektionen plus einer Zusammenfassung: „Weiblichkeit, Herkunft und strukturelle Herrschaftsverhältnisse“, „Weiblichkeit, Herkunft und Identität“ und „Weiblichkeit und Herkunft auf der Ebene der symbolischen Repräsentation“. Trotz dieser etwas einengenden Struktur gelingt es der Autorin, die inhaltlichen und stilistischen Eigenheiten der literarischen Werke angemessen zu beleuchten und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen einzugehen. Anhand der fünf Texte versucht Kazmierczak zu analysieren, welche Bilder, Werte, Normen und Ideologien mit Weiblichkeit und der Herkunft aus dem Osten verbunden sind und welche Funktion sie für den patriarchalen und eurozentrischen Diskurs haben. Dabei steht im Mittelpunkt, ob und wie die literarischen Texte asymetrische Beziehungen und Machtverhältnisse behandeln, ob sich die Texte der Rhetorik der Marginalisierten und Exotisierten bedienen und ob sie Denkmuster und Dichotomien der eigenen Kultur vorführen, reproduzieren oder modifizieren. Auch die Frage, mit welchen narrativen Mitteln sich die Migrantinnen in der Literatur zu Wort melden oder ob und wie ihre Sprachlosigkeit inszeniert wird, wird Rechnung zu tragen versucht. Mit welchen Vorstellungen von Kultur die literarischen Texte operieren und wie sie diese ins Verhältnis zur Kategorie Geschlecht setzen, ist also der Hauptgegenstand der Analyse.

Die Interpretationen veranschaulichen, wie die Texte die komplexen Verschränkungen von Herkunfts- und Geschlechterideologien verhandeln. Dadurch relativieren sie das Idealbild des vermeintlich gerechten und freien Westens und verdeutlichen, dass kulturelle wie geschlechtliche Identitäten nicht homogen gedacht werden können, sondern stattdessen performativ erzeugt und kulturell konstruiert werden. Identitäten werden als fragmentiert und widersprüchlich präsentiert, wodurch sich die in den literarischen Texten porträtierte Migrantin potenziellen Instrumentalisierungen als Projektions- oder Kontrastfigur entzieht.

Da in der Literaturwissenschaft bis jetzt nur Herta Müllers Werk das ihr gebührende Interesse entgegengebracht wurde, gelingt es Kazmierczak, einen relevanten und zeitgemäßen Beitrag zur Forschung zu leisten. Die von ihr behandelten Themen Geschlecht, Migration und Intersektionalität machen das Buch darüber hinaus auch für solche Leser interessant, die (noch) nicht alle in der Studie besprochenen Autorinnen kennen.

Titelbild

Madlen Kazmierczak: Fremde Frauen. Zur Figur der Migrantin aus (post)sozialistischen Ländern in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2016.
311 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-13: 9783503166503

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