Halbierte soziologische Phantasie

Heinz Budes Gesellschaftsanalyse fokussiert auf Angst und die Macht der Stimmungen

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der bekannte Soziologe Heinz Bude warf seinen Zunftgenossen unlängst ‚diskursives Ungeschick‘ vor. Zweifellos trifft dieses Verdikt ihn selbst nicht. Bude formuliert brillant; er ist vielseitig bewandert; er versteht es meisterhaft, seine Lagebeschreibungen durch Verweise auf Popmusik, Romane und Filme zu veranschaulichen und seine Analysen durch Rekurs auf einschlägige philosophische Reflexionen zu vertiefen. Beide Bücher, das jüngst erschienene Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen (2016) wie auch Gesellschaft der Angst (2014), sind informativ, interessant, sehr gut lesbar. Gleichwohl lässt einen – lässt mich – die Lektüre dann doch letztlich unbefriedigt zurück.

In Gesellschaft der Angst zeigt Bude im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte der modernen Lebensführung, inwiefern sie Angst erwecken können: Intime Beziehungen sind kündbar. Im beruflichen Bereich dominiert die Angst, nicht genügen zu können oder im gnadenlosen Konkurrenzkampf übersehen zu werden. Die Mittelschichten sehen ihren Status durch Globalisierungsprozesse bedroht. Im ‚Dienstleistungsproletariat‘ wächst der Druck und damit die Angst um die eigene Selbstbehauptung. Das Ich sieht sich einem ständigen Optimierungszwang unterworfen. Die Kontrollmöglichkeiten steigen, das Geldwesen ist undurchschaubar, die Ungleichheit wächst – all dies weckt Angst vor der Unbeherrschbarkeit sich verselbstständigender Systeme. Im politischen Bereich sinkt das Vertrauen, im sozialen Bereich herrschen Überfremdungs- und Terrorängste. Zwar wandeln sich die Ängste im Zeitablauf: So etwa hat die Kriegsangst der Weltkriegssoldaten der Angst vor AKW-Unfällen und Naturzerstörung in den 1970ern Platz gemacht. Aber die alten Ängste werden über die Generationen hinweg weiter tradiert und verbinden sich mit neuen. Letztlich – so Budes abschließende Überlegung – gehört Angst als Folge der Entzweiung von Ich und Welt unaufhebbar zur Wirklichkeit des Menschen. Wer glaubt, ihr entgehen zu können, „hat den Sinn für das Leben verloren“.

Wieder hat die Soziologie ein neues Gesellschaftsbild in die Welt gesetzt. ‚In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?‘ – so hatte Armin Pongs schon Ende des vorigen Jahrhunderts gefragt und die unterschiedlichsten Antworten zusammengestellt: Welt-, Risiko-, Bürger-, Erlebnis-, Verantwortungs-, Multioptions-, Single-Gesellschaft; postindustrielle, desintegrierende, gespaltene, postmoderne, multikulturelle, flexible Gesellschaft. Nun also kommt die Gesellschaft der Angst hinzu. Griffige Titel verbürgen jedoch keineswegs die Triftigkeit der Analysen. Budes Globaldiagnose bleibt unbelegt. Schlimmer noch – sie ist unwiderleglich. In allen Lagebeschreibungen – im privaten, beruflichen und politischen Bereich, im Umgang mit sich selbst und anderen – fokussiert er auf problematische Aspekte. Dass diese faktisch bei den meisten Menschen Angst erzeugen, bleibt bloße Behauptung. Mögliche positive Momente werden erst gar nicht erwähnt. Beispielsweise mag zwar – wie Bude behauptet – die Kündbarkeit von Intimbeziehungen einigen Angst einflößen. Andere hingegen mögen den Zugewinn an Freiheit schätzen. So geht – wie Dornes in Macht der Kapitalismus depressiv? (2016) referiert – die Erhöhung der Scheidungsquote seit der Abschaffung des traditionellen Schuldprinzips mit einer Abnahme ehelicher Gewalt und weiblicher Suizide einher. Doch der Rekurs auf objektive Sachverhalte muss in Budes Argumentationslogik ohnehin folgenlos bleiben. Zum einen räumt er dem alten Thomas-Theorem – ‚When men define situations as real they are real‘ – Letztgültigkeit ein. So stellt er zwar fest: Man lebt vergleichsweise gut in Deutschland; aber gerade weil es den Menschen gut geht, fürchten sie zu verlieren, was sie erworben haben. Und niemanden kann man davon überzeugen, dass seine Ängste unbegründet sind. Zum anderen aber lässt Angst sich allenfalls betäuben, nicht aber auflösen.

Das aktuelle Buch, Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, teilt die Grundannahme des ersten: „Stimmungen stellen eine Realität eigener Art dar.“ Sie sind mehr als punktuelle Affekte oder ereignisbezogen erklärbare, rein private Gefühle. Es handelt sich um „langanhaltende generalisierte Wertungszustände“, denen „mit Gegenargumenten, Inkonsistenznachweisen oder Sachverhaltskorrekturen“ nicht beizukommen ist. Diese „Haltungen zur Welt“ werden durch unterschiedliche gesellschaftliche Kontextbedingungen hervorgerufen: Medien, Netzwerke, Blogs erzeugen Stimmungen, die auf Wahlentscheidungen oder Empörungsbereitschaften einwirken. Die Abfolge der Generationen führt zu Stimmungsumbrüchen. So wechseln die kollektiven Grundstimmungen zwischen Rückzug (etwa der Nachkriegsgeneration) und der Bereitschaft zu Partizipation und Engagement (etwa der 68er). Heute herrscht eine Stimmung pragmatischer Kompromisshaltung vor, in der sich die Nachkriegsgeneration mit der Grundhaltung der heutigen Generation und ihrem Streben nach work-life-balance trifft. Die Konkurrenz zwischen Migranten und Einheimischen – zwischen Etablierten und Außenseitern – prägt mit den Gefühlen von Scham, Neid, Rache und Angst die Stimmung des Augenblicks Ein weiterer Faktor ist ‚das Gefühl des Geschlechts‘. Die Machtbalance hat sich zugunsten der Frauen verschoben und eine „neue Moral der erotisch-sexuellen Verhandlung“ hervorgebracht. Bei den Männern führt dies zu sexueller Lustlosigkeit, die vielleicht die „außererotische Vergeudung von Männlichkeit in Extremsportarten“ zu erklären vermag. Der Text schließt mit einer allgemeinen Reflexion: Die heutige „Gesellschaft der Selbstkontrolle“ biete im Grunde nur zwei Wege: Akzeleration mit Selbstüberbietung oder Kontemplation mit Selbsttranszendenz und Weltabkehr. Dennoch gebe es dazwischen auch „die Zukünftigen“, die sich „weder in digitale Allmachtsphantasien versteigen noch in mystischen Egozentrismus entfliehen“. Ihre Stimmung sei die von „Weltoffenheit ohne Selbstverneinung“

Wie bei Budes Angst-Buch lautet die Gretchenfrage: ‚Wie hast du’s mit der Empirie?‘ Daten finden sich nur wenige. Werden Befunde vorgetragen, so ist deren Beweiskraft ambig. So beruft Bude sich etwa zum Beleg seiner These, Männer reagierten auf ihre Rollenverunsicherung mit der Coolness-Strategie sexueller Lustlosigkeit, auf eine Untersuchung von Paaren, in denen Männer weniger verdienten als ihre Frauen. Mit der Problematisierung weiblicher und männlicher Identitäten – so die Forscherinnen C. Koppetsch und S. Speck – gewinne die Sphäre von Erotik und Sexualität an Gewicht: Allein in diesem Bereich nämlich könne die „radikale Verschiedenheit von Mann und Frau“ noch zum Ausdruck gebracht werden. Soziale Gleichberechtigung – so (leicht verkürzt) Budes Schlussfolgerung – ist also mit „erotischer Enttäuschung“ verknüpft. Nun wurden in dieser Studie 28 Paare aus drei unterschiedlichen Milieus in offenen Interviews befragt. Nur im individualistischen, stark von Akademikern dominierten oberen Mittelschichtmilieu erwies sich der Sex als wunder Punkt der Beziehung. Im familistischen wie im traditionellen Milieu war der Rollentausch im beruflichen Sektor eher unproblematisch, und insgesamt fand sich eine hohe Vielfalt von Männer- und Frauenrollen. Budes Generalisierung auf ein gesamtgesellschaftliches ‚Gefühl des Geschlechts‘ ist unzulässig: Nur bei 10% aller Paare verdienen Frauen mehr. In qualitativen Studien werden möglichst kontrastierende Fälle ausgewählt, und die Befunde lassen keinerlei Rückschlüsse auf deren Repräsentativität zu. Und der essentialistische Glaube an die „radikale Verschiedenheit der Geschlechter“ ist eine soziale Konstruktion der bürgerlichen Mittelschichten. Im Arbeitermilieu, in dem Frauen immer schon mit zu verdienen hatten, herrschten und herrschen deutlich egalitärere Geschlechterbilder.

Beide Bücher folgen einer ähnlichen Argumentationslogik: Ausgangspunkt ist die Vorstellung, eine ganze Gesellschaft – auch die moderne, funktional ausdifferenzierte, pluralistische Gesellschaft – ließe sich auf einen Begriff bringen und durch ein dominantes Gefühl oder die Bestimmungskraft eines entscheidenden Faktors charakterisieren. Die Diagnose ist stärker auf dichte Eindrücke – aus Film, Musik, Literatur – als auf statistische Daten gestützt. Stimmung und Gefühl konstituieren eine eigenständige Realität, die gegen Gründe, rationale Erwägungen und Fakten immun ist. Diese Realität ist höchst wirkmächtig – sie beeinflusst Finanzmärkte, politische Machtwechsel, Konsumverhalten. Die Lektüre der Texte wirft die Frage nach der Funktion von Soziologie auf. Bude geht es um das Verstehen einer gesellschaftlichen Situation. Dies erfordere den Rekurs auf die Erfahrungen der Menschen, die sich „in Diskursen äußern und auf Konstruktionen beruhen.“ Soziologie ist eine Erfahrungswissenschaft. Somit gelte: „Eine Soziologie, die ihre Gesellschaft verstehen will, muss heute die Gesellschaft der Angst in den Blick nehmen.“

Ein anderer Argumentationsgang wäre vorstellbar. Beispielhaft hat dies M. Dornes in seinem Buch Macht der Kapitalismus depressiv? vorgeführt. Im ersten Schritt stellt Dornes detailliert die Datenlage dar. Die weit verbreitete Auffassung, Depressivität habe mit dem neoliberalen Kapitalismus seit den 1980ern zugenommen, wird weder durch epidemologische Studien noch durch andere Indikatoren (Suizid, Alkoholkonsum, Lebenszufriedenheit) bestätigt. Dies gilt trotz der Ausweitung der Kriterien (zunehmend gelten auch leichtere Symptome und auch eine kürzere Beschwerdedauer als Indikator für Depressivität) und einer gestiegenen Therapiebereitschaft. Damit ist die Inflation der Depressivitätsdiagnosen erklärungsbedürftig: Zum einen finden Zeitdiagnostiker rasch kritikwürdige Aspekte, mit denen sie die gefühlte Zunahme psychischer Krankheiten plausibilisieren – sie sprechen von rapidem sozialen Wandel, von Wertepluralismus, Beschleunigung und Steigerung der Optionsvielfalt. Zum anderen lassen sie dabei zwei zentrale Momente unberücksichtigt: Gesellschaftliche Veränderungen erzeugen nicht nur Kosten, sondern auch Gewinne (siehe etwa das oben zitierte Scheidungsbeispiel). Und zugleich wachsen die Bewältigungskompetenzen der nachwachsenden Generationen, die in zunehmend demokratischer strukturierten Familien grundgelegt werden.

C. Wright Mills erklärte ‚soziologische Phantasie‘ zur erforderlichen Grundkompetenz von Gesellschaftsdiagnostikern. Sie bezeichnet die Fähigkeit, Erfahrungen im Kontext der sozialen Umwelt wahrzunehmen und Muster zu erkennen, die sich der individuellen Erfahrung allein nicht erschließen, In diesem Sinne belegen Budes Bücher soziologische Phantasie. Oskar Negt erweitert das Konzept: Es gehe um die Fähigkeit, wissenschaftliche Sachverhalte so in anschauliche Denkformen zu übersetzen, dass sie Bewusstseinsänderung und die Motivation zum praktischen sozialen Handeln bewirken. Diese Stoßrichtung fehlt bei Bude. Seine Texte fügen sich bruchlos ein in eine Schleife wechselseitiger Bestätigungen von Deutungen, die in Feuilletons und Alltagskommunikationen verbreitet werden: Die Menschen haben Angst. Sie sehnen sich nach einfacheren Verhältnissen und früheren Sicherheiten. So erklärt sich die Begeisterung für Trump, die Entscheidung für den Brexit, die zunehmende Unterstützung der AfD oder von Marine Le Pen. Und Angst ist argumentativ nicht zu widerlegen. Diese Annahme aber ist bestreitbar: Die Angst vor Krebs schwindet, wenn die Biopsie den Knoten als harmlos ausweist. Die Angst vor Verbrechenszunahme durch Migration sinkt, wenn Statistiken keine erhöhten Kriminalitätsraten bei Einwanderern finden. Soziologie ist mit der Aufklärung entstanden. Aufklärung setzt auf die Kraft des guten Arguments, nicht auf die Diskursresistenz von Gefühlen und Stimmungen. Ein Appell an die Vernunft – und sei er auch kontrafaktisch – wird der Aufgabe von Soziologie eher gerecht als die bloße Affirmation herrschender Stimmungen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst.
Hamburger Edition, Hamburg 2014.
167 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783868542844

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Heinz Bude: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
142 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783446250659

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch