Babette und Tourette

Arnold Stadlers grandioser Roman „Rauschzeit“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arnold Stadler ist ein Meister abgründiger Sprachbilder, aphoristischer Pointen und tragikomischer Geschichten und Helden. Als „Satzdenker“ (Jürgen Gunia) ist er auch ein Meister der Selbstzitation, einer Ästhetik des Um- und Weiterschreibens, wie Literaturwissenschaft und Literaturkritik mehrfach festgestellt haben: Stadler schafft in seinen Romanen, Erzählungen, Essays, Porträts, Gedichten und Psalmen-Übertragungen einen Text(t)raum, indem seine Sätze eine ganze „Existenzdimension“ (Martin Walser) eröffnen.

Als „Satzdenker“, der keinen Wert auf den plot seiner Erzählung legt – wie das wiederholt in Stadlers Werken zitierte Mark Twain-Motto „Persons attempting to find a plot in will be shot“ aus Huckleberry Finn unterstreicht – webt der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller in seinem Œuvre ein intertextuelles „Sprachgitter“, wie es in seinem neuen Roman Rauschzeit heißt, als wäre es von Jean Paul.

Und, um es gleich vorweg zu sagen: Mit Rauschzeit bestätigt Stadler, ein neuer Meister von Meßkirch, sein Talent eindrucksvoll. Und das auf über 550 Seiten. Der Roman ist für den, der sich darauf einlässt, ein grandioses Sprach- und Leseerlebnis. Stadlers Opus Magnum ist schlicht ein Meisterwerk, das es zu Recht auf die soeben veröffentlichte, 20 Titel umfassende Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat.

Die Geschichte von Alain, Babette, Irène (genannt Mausi), Justus, Inge, Toby, Elfi und Norbert lässt sich als Summe der bisherigen Stadler-Werke lesen, angefangen von der autobiografisch grundierten Trilogie Ich war einmal, Feuerland, Mein Hund, meine Sau, mein Leben, über Der Tod und ich, wir zwei, über Ein hinreißender Schrotthändler, Eines Tages, vielleicht auch nachts, Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, über Salvatore und Komm, gehen wir bis zu New York machen wir das nächste Mal. Und natürlich sind auch die Stadler’schen Essays über Johann Peter Hebel, Adalbert Stifter oder über die Maler Jakob Bräckle, Fritz Lang oder die Künstlerin Margaret Marquardt mitzulesen, weil diese direkt oder indirekt zitiert werden, wie auch einige Reden, Nach- und Vorworte.

Doch das Schöne an Rauschzeit ist: Man muss die angeführten Texte gar nicht kennen, um im Satzkosmos von Rauschzeit mit Vergnügen selbstvergessen einzutauchen. Oder gleich, wenn so viel Subjektivität an dieser Stelle gestattet sein mag (oder auch nicht, möchte ich mit Stadler sagen), um den Roman im Kopf, als dem „Glücks- und Unglücksspeicher“ der Stadler’schen Figuren, gleich selber beim Lesen weiterzuschreiben. Zumal Stadler Mausi- und Alain-Kapitel in auktorialer Erzählweise (Mausi) und Ich-Perspektive (Alain) so gekonnt miteinander abwechselt und durch Leser- und Selbstkommentare sowie durch eine Fülle von Zitaten und Kryptozitaten, die Entstehung des Romans mitreflektiert, mitschreibt, sodass am Ende Autor und Erzähler verschwimmen.

Doch worum geht es? 25. und 26. Juni 2004. Mittsommer in Berlin und Köln. In der Berliner Haberlandstraße denkt Irène, genannt Mausi, auf ihren ererbten Bruno-Paul-Korbmöbeln liegend über das Leben, die Liebe und das Glück nach. „Was ist Glück? Nachher weiß man es“, lautet der erste Satz des Romans, der im weiteren Verlauf wiederholt zitiert und variiert wird.

Mausis Mann, der Übersetzer Alain, der an einem leichten Tourette-Syndrom mit Reimzwang leidet, weilt seit dem Johannisabend in Köln bei einem internationalen Übersetzersymposium. Er will vor allem den Eröffnungsvortrag „Ich war immer zu spät glücklich, nie zur rechten Zeit. Nachgetragenes zu Jean Paul. Ein Leben mit Jean Pauls Abschweifungen des Lebens“ von Professor Pfotenhauer hören. Dass Pfotenhauer aufgrund eines Pilotenstreiks selbst zu spät kommt und erst am nächsten Tag eintrifft (gleichsam wie in der Stadler-Gegend, die seit Einmal auf der Welt. Und dann so immer auch „Schwäbisch Mesopotamien“ genannt wird, das „Frühjahr immer so spät ist, dass es erst im nächsten Jahr blühte“) und der Ersatz-Vortrag über den „Unübersetzbaren Schmerz bei Heimito von Doderer“ nicht recht zufrieden stellt, ist nur eine von vielen Pointen in diesem digressiven Roman, der auch Alains Satz vorführt, dass das Leben wie auch das Glück „nicht systematisierbar“ sind. Auch Alain, der mit dem im weiteren Verlauf der Geschichte variierend wiederholten Satz im Kopf „die Welt war der Ort, wo uns die Zeit davonlief“ im Kölner ibis-Hotel frühmorgens aufwacht, treibt die Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Glück und der Liebe um.

Nach 15 Jahren Ehe scheinen sich Mausi, die sich in Berlin hauptsächlich auf einen „blonden Dänen“ als Alain-Ersatz für den Opernbesuch freut, und Alain, der in Köln seine ehemalige Jugendliebe Babette zufällig wiedertrifft, wohl recht harmonisch auseinandergelebt zu haben. Die ‚Suche nach der verlorenen Zeit‘, der Erinnerungsfluss, nimmt Fahrt auf, als in Berlin – am Ende des ersten Teils des insgesamt sechsteiligen Romans – die Todesanzeige „ELIDA ELFRIDA RAUSCHZEIT (1964-2004). Unsere Elfi ist tot“ bei Mausi eintrifft.

Für Alain und Mausi ist klar: „Wir müssen ihr ein Denkmal setzen“. Schließlich ist die Fotografin eine gemeinsame Freundin, ja wohl die beste Freundin, aus Freiburger Studententagen 1982/83. Elfi, die das „Unfotografierbare“ festhalten möchte wie ein Schriftsteller das „Unbeschreibliche“, scheint zudem eine jener Stadler-Figuren zu sein, die „wie viele, auch zeitlebens an einem Buch im Kopf“ schrieb, ohne dass das Buch je tatsächlich geschrieben worden wäre, sozusagen „con variazione“.

Zentral in der Erinnerung: Der Sommer 1983. Die Freiburger Studenten-WG um Alain mit Babette, seiner Jugendliebe aus Doktorspiel-Zeiten, Mausi mit Toby, Inge und Justus verbringt den Urlaub in Arcachon an der französischen Atlantikküste, der Heimat von Alain und Babette. Doch die vermeintliche Sommer-Idylle endet abrupt, als Babette mit Toby an Mariä Himmelfahrt heimlich Alain verlässt. Und ab da hatte Alains „Schmerz nun einen Vornamen: Babette“.

Obwohl alle Stadler’schen Protagonisten (mit ihrem „Hang zur Inversion“) der Wunsch zu bleiben eint, sind sie als Glücks- und Sinnsucher mit ihrem „Hoffnungsschmerz“ auf der verzweifelt komischen und komisch verzweifelten „Suche nach dem verlorenen Schmerz“, die es oft vor Schmerz zerreißt, weil es sie „nicht vor Schmerz zerriss“ „unterwegs“ – und das in der Regel lesend, erinnernd und schreibend.

Insgesamt ist Stadlers sechsteilige Rauschzeit, in dessen viertem Teil Alain sein Leben aufschreibt, mit verschiedenen Vor- und Rückblenden, mit den bekannten zeitkritischen Zwischentönen des Autors, vor allem ein Memorial an die tote Elfi Rauschzeit. Zugleich ist der Roman aber auch ein eindrucksvolles Denkmal für die Liebe, ein Denkmal der Liebe, ein Denkmal für die Sehnsucht nach Liebe, für das Erinnern wie auch das Schreiben mit vielen wunderbaren Stadler-Sätzen und Aphorismen wie: „Denn einer, der schreibt, wird nicht verschmerzen, was nicht zu verschmerzen ist“, „Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter“, oder „Die Erinnerung ist ein Rückspiegelschmerz, ihr Ort heißt: Ich war einmal“ und einigen mehr.

Entstanden ist ein dichter Text, eine literarische Rauschzeit, für die es sich lohnt, sich Zeit zu nehmen und sie zu genießen. Rauschzeit ist ein großes Werk, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.

Titelbild

Arnold Stadler: Rauschzeit. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
548 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783100751393

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