Der Blick, der Mund, der Schlund
In ihrer Dissertation „Die Essbarkeit der Welt: Einverleibung als Figur der Weltbegegnung bei Italo Calvino, Marianne Wiggins und Juan José Saer“ entwirft Claudia Hein eine Welt, die vom Munde her kommt
Von Halina Hackert
Besprochene Bücher / Literaturhinweise‚Ich könnte dich mit Blicken verschlingen‘ – ‚Ich habe dich zum Fressen gern‘ – diese kulinarischen Sprachbilder entwickeln sich für den liebeskranken Ich-Erzähler in Marcel Beyers Roman Menschenfleisch zu einer Fantasie der absoluten Verschmelzung. Als die Blicke nicht mehr genügen und auch die Sprache das Begehren nicht mehr auszudrücken vermag, nehmen seine Gedanken mehr und mehr kannibalische Züge an. Er muss eins werden mit der Geliebten, will sie fressen, beißen, verschlingen, bis er nicht mehr weiß, wo der „eigene[…] Körper aufhört und der des anderen beginnt“.
Die Obsession des Liebenden steht hier nicht nur im Zeichen eines Liebes-Kannibalismus, bei dem sich die Metaphorik der Nahrungsaufnahme und des Erotisch-Sexuellen überlagern, sondern es soll – hier ganz im Sinne von Elias Canettis Einverleibungstheorie – etwas Fremdes ergriffen, zerkleinert, verschlungen und einem selbst von innen her angeglichen werden.
Im Akt der Einverleibung werde ein Äußeres in ein Inneres hineingenommen, dort zerkaut, verschluckt, verdaut oder einfach nur aufbewahrt, schreibt die Komparatistin Claudia Hein in ihrer 2016 erschienenen Dissertation Die Essbarkeit der Welt. Der Mund als Topos, als „privilegierter Reflexionsort“ bildet für Hein den Ort einer elementaren Weltaneignung, an der sich Mensch und Welt begegnen und in den sich mannigfaltiges Wissen kondensiert. Der Mund beziehungsweise das mit ihm verbundene Einverleibungsgeschehen steht nicht nur für eine orale Selbstwahrnehmung, für den Liebes- und Essensakt, vielmehr markiert er immer auch eine Grenze zwischen Innen und Außen, ist also ein Schwellenraum par excellence. In diesem Sinne ist die Einverleibung – die immer auch die Thematik der Anthropophagie mit einschließt – weitaus mehr als nur ein körperlicher Vorgang. Sie weise, so Hein, über sich selbst hinaus und tendiere immer in Richtung einer Metaphorisierung.
Dieser sinnstiftenden Figur der Einverleibung geht Hein in ihrer umfangreichen Studie nach, wobei sie den Figurbegriff im Sinne Roland Barthes‘ nicht im rhetorischen, sondern im choreographischen Sinne verstanden wissen will. Dabei begreift sie die Figur als einen aus der Bewegung heraus erfassten Körper, der in einer bestimmten Gebärde stillgestellt werden muss, um sowohl die sprachlich-rhetorische als auch die körperlich-diskursive Dynamik zu verbinden.
Dass sich die Figur der Einverleibung als höchst „janusköpfiges Wesen“ erweist, verdeutlicht Hein gleich zu Beginn in ihrem theoretischen Kapitel Einverleibung denken, in dem sie exemplarisch auf unterschiedliche philosophische und kulturtheoretische Einverleibungskonzepte eingeht. Neben Ludwig Feuerbach und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sind es insbesondere Elias Canetti und Michail Bachtin die allein schon durch die sich diametral gegenüberstehenden Positionen die Komplexität der Figur sichtbar machen. Während Canetti in seinem Buch Masse und Macht die Einverleibung als einen Prozess der Schließung und des Machtbegehrens darstellt, die als äußerst archaischer Akt immer auch den Anderen beherrscht und kontrolliert, entwirft Bachtin in seinem Werk Rabelais und seine Welt ein Einverleibungskonzept, das gänzlich auf Öffnung und Zurschaustellung angelegt ist und subversives Potential für sich beansprucht. Für Sigmund Freud wiederum steht die Ambivalenz der Einverleibung im Vordergrund, indem er die prägende Kontaktaufnahme des Säuglings, das In-den-Mund-Nehmen, sowohl als erste Form der Liebe als auch der Zerstörung reflektiert. Damit werde nicht zuletzt, so Hein, der Ambivalenzkonflikt selbst als grundlegende Struktur der menschlichen Entwicklung erkannt.
Die Einverleibung als Denkmodell und körperlich-konkreter Vorgang ist demnach immer von der Dichotomie des Eigenen und Fremden, des Ein- und Ausschlusses, des Zeichenhaften und Konkreten gekennzeichnet, aber ebenso von dessen Doppelung oder plötzlicher Umkehrung, wie es Hein in den von ihr gewählten literarischen Beispielen – Italo Calvinos Unter der Jaguar-Sonne, Marianne Wiggins John Dollar und Juan José Saers Der Vorfahre – eindrucksvoll ausführt. Die drei Autoren, die ihre Werke in den 1980er-Jahren veröffentlichten, entstammen unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Zusammenhängen, doch verbindend ist, dass die Einverleibung jeweils als „zentrales Moment der Handlung, zugleich aber auch als Reflexionsfigur, Metapher und ästhetisches Verfahren in Erscheinung tritt“.
In Calvinos kurzer Erzählung Unter der Jaguar-Sonne – die als Teil eines unvollendet gebliebenes Projektes zu den fünf Sinnen entstanden ist – steht die Erfahrung des Schmeckens, des Sinnes- und Liebeswissens im Mittelpunkt. Ein sich auf einer Mexikoreise befindendes Paar, will sich über die ihm fremden Speisen und Gewürze die Geschichte und Kultur des Landes aneignen, sich die Fremde schmeckend einverleiben. Das Essen vermittelt jedoch weit mehr als nur einen kurzzeitigen Genuss, sondern führt das Paar in die eigene terra incognita. Das wachsende Interesse der Frau an den vermeintlich praktizierten aztekischen Kannibalismusritualen markiert den Umbruch von der ursprünglichen Geschmacksreise in Richtung eines umfassenden Einverleibungsgeschehens, in dessen Folge sich schließlich auch der Blick des Ich-Erzählers auf seine Partnerin verändert. Insbesondere ihre Zähne als Instrumente des Beißens, Zerteilens und Zerfleischens werden nunmehr Auslöser eines neuen erotischen Begehrens und führen das Paar „von der Sublimierung in die ausgelebte Sexualität“.
Hein stellt Calvinos Erzählung Michel Serres’ Buch Die fünf Sinne an die Seite und arbeitet deren Gemeinsamkeiten heraus, die vor allem darin bestehen, dass die Erkennbarkeit der Welt nicht allein auf die Sprache zu reduzieren sei. Dem ‚Reich der Zeichen‘ stellen zwar beide Autoren das ‚Reich der Sinne‘ entgegen, doch im Gegensatz zu Serres, der eher ein umfassendes sinnliches Verkosten akzentuiert, geht Calvino einen Schritt weiter, indem er die Frage des Geschmacks, so Hein, mit derjenigen des Kannibalismus verzahne. Das ursprünglich feinsinnige Schmecken wird nunmehr in ein Einverleibungsgeschehen überführt, bei dem das In-den-Mund-Genommene nicht mehr gekostet, sondern verschlungen werde.
Wiggins Roman John Dollar führt den Leser in das koloniale Burma des Jahres 1918 und erzählt von einer Gruppe Schulmädchen, die nach einem Schiffbruch auf einer Insel stranden und zusehen müssen, wie ihre Väter von Kannibalen verspeist werden. Später kehrt sich das kannibalische Geschehen um und die Mädchen verleiben sich in Form der Exkremente die Überreste ihrer Väter sowie den überlebenden Seemann John Dollar ein. Wiggins äußerst verzweigter Roman erzählt nicht nur vom „Zerfall einer Gemeinschaft in Folge eines potenzierten kannibalischen Aktes“ und setzt sich mit kolonialen Formen der Weltaneignung auseinander, sondern liefert darüber hinaus eine Umschrift von Freuds Totem und Tabu, wenn die Urszene des kannibalischen Vatermords, an dem Freud den Ursprung von Kultur und Gesellschaft festmachte, nunmehr aus weiblicher Perspektive verkehrt wird.
Und schließlich wird die kannibalische Einverleibung in Juan José Saers Der Vorfahre zu einer – schwer fassbaren – melancholischen Ursprungsfigur. Das im 15. Jahrhundert angesiedelte Geschehen wird aus der Sicht eines Schiffsjungen erzählt, der nach einem Schiffbruch den kannibalischen Exzess der dort ansässigen Colastiné-Indianer überlebt und in den folgenden Jahren mit ihnen leben, ihre Bräuche und Riten studieren wird. Erst später – zurückgekehrt in die Heimat – wird er sich rückblickend und auf sich selbst zurückgeworfen an jene Zeit schreibend erinnern. Obwohl Saers Roman auch als poetische Reflexion auf den Terror der Militärdiktatur Argentiniens gelesen werden kann und somit auch politische Einverleibungsstrategien verhandelt, werde die Einverleibung vor allem, so deutet es Hein, als eine Ursprungsfigur und als Figur der Melancholie entwickelt, die von den existentiellen Bedingungen des Seins und von der Bodenlosigkeit eines verschlingenden Außen erzähle.
Diese sehr grob skizzierten Inhaltsangaben werden den äußerst sorgfältigen und detaillierten Studien nicht gerecht, denn Hein hat die Texte quasi auf den Seziertisch gelegt, dort in kleinste Bestandteile zerlegt und sie einer präzisen mikroskopischen Analyse unterzogen. Die Methode des close reading wird durch Hein jedoch immens erweitert, indem sie die Texte nicht nur in ihre jeweiligen Entstehungskontexte einbettet und Paratexte sichtbar macht, sondern ihnen umfassende theoretische Reflexionen zur Seite stellt. Vor allem mit letzteren will Hein einen gleitenden Übergang von Literatur- und Theorieanalyse schaffen, indem die theoretischen Texte ebenso wie die literarischen als Erzählungen gelesen werden können. Zwar besteht somit die Gefahr, durch die Fülle der Informationen und Querverweise als Leser überflutet zu werden, doch ein genaues und sehr konzentriertes Lesen zeigt, dass sich beide Ebenen, also die „Metaphorik der theoretischen Texte und die Wörtlichkeit der literarischen Texte“, kongenial vermischen und ergänzen.
Durch ihre vielschichtige Annäherung wird nicht nur die Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen deutlich – Psychoanalyse, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Philosophie, Literaturwissenschaft und postkoloniale Studien durchdringen einander –, sondern Hein leistet zudem einen wichtigen Beitrag, um die Figur der Einverleibung in einem größeren kulturhistorischen Kontext zu verorten. Obwohl der Kannibalismus als extremste Form der Einverleibung in allen literarischen Texten eine zentrale Position einnimmt, ist er nicht prioritäres Ziel ihrer Analyse, vielmehr wird sie in erster Linie vor allem als „Ermöglichungsfigur“ eines „Erzählens von und Nachdenkens über die Grenze zwischen Kultur und Barbarei, Eigenem und Fremden, Innen und Außen“ begriffen. Damit macht sie deutlich, dass die Einverleibung immer auch für etwas anderes steht und sich zumeist erst in der nachträglichen Deutung begreifen lässt. Gerade die Universalität des Begriffs und dessen metaphorische Übertragbarkeit macht die Einverleibung zu einem fundamentalen Bestandteil der Weltaneignung und ist damit eine „zentrale Figur sowohl eines Erzählens wie auch theoretischen Reflektierens über Grundlegendes und Ursprüngliches.“
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