Eine Geschichte von zwei Monotheismen

Jan Assmanns „Exodus. Die Revolution der Alten Welt“

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jan Assmanns neues Buch – Exodus. Die Revolution der Alten Welt – beginnt, selten genug für eine geisteswissenschaftliche Publikation, mit einer Selbstkritik. Assmann kritisiert hier seine eigene, vor allem in dem Buch Moses der Ägypter (1998) entwickelte These, der Monotheismus beruhe essentiell auf einer „Unterscheidung zwischen wahr und unwahr“. Diese Differenzierung, schreibt Assmann im Jahr 1998, konstituiere „nicht nur eine Welt, die voller Bedeutung, Identität und Orientierung, sondern auch voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt ist“. Monotheismus habe, mit anderen Worten, die religiöse Zugehörigkeit als eine Frage von „wahr“ oder „unwahr“ behandelt – und demgemäß eine Geschichte von religiöser Intoleranz und Gewalt eröffnet. Dies sei im Kern „Moses’ Unterscheidung“, schreibt Assmann, insofern sie auf die Gründungsfigur des Monotheismus zurückgehe.

Diese These revidiert Assmann in seiner neuen Untersuchung grundsätzlich. Assmann bezeichnet die „Reduktion der Religion auf die Wahrheitsfrage“ nun als einen Anachronismus: Die Gründungslegende des Monotheismus konstituiert nicht eine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „unwahr“. Assmann unterscheidet nunmehr zwischen einem „Monotheismus der Wahrheit“ und einem „Monotheismus der Treue“: Während der Monotheismus der Wahrheit darauf insistiere, dass es nur einen einzigen Gott gebe, setzt der Monotheismus der Treue umgekehrt die Existenz anderer Götter geradezu notwendig voraus, denn nur das ergebe die Möglichkeit der Untreue gegenüber dem eigenen Gott. Diese Form des Monotheismus entwickle die „Exodus“-Erzählung des Alten Testaments – mit dem Bericht über den Auszug der Juden aus Ägypten, die Wanderung durch die Wüste bis zum Einzug in dem „gelobten Land“. Durch das Paradigma der Treue sei in der Exodus-Erzählung „eine vollkommen neue Form von Religion, von Bindung und Zugehörigkeit gefunden worden“, schreibt Assmann. Indem er das Exodus-Kapitel auf diese Form der Religion hin untersucht, unternimmt Assmann eine religions- und geistesgeschichtliche Neuinterpretation des Textes.

Damit begibt sich Assmanns Buch in eine Konkurrenz mit berühmten Vorbildern. Kaum ein einzelnes Buch aus dem Alten Testament hat so viele Kommentatoren angezogen wie die Geschichte von Moses’ Berufung, seiner Auseinandersetzung mit dem Pharao und vom Auszug der Juden aus Ägypten. Prominent geworden sind vor allem Sigmund Freuds Spätwerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) und Michael Walzers Exodus and Revolution (1985). Freud seziert den Text aus psychohistorischer Perspektive, indem er der manifesten Textoberfläche unterstellt, das Produkt einer „Entstellung“ zu sein: einer mehr oder weniger bewussten Verschiebung und Verdrehung des tatsächlichen Geschehens. Mit dieser heuristischen Annahme gelingt es Freud, eine verdrängte Geschichte unterhalb des Texts sichtbar zu machen, in der Moses kein Jude war, sondern ein Ägypter, und in der sich die jüdische Religion mit der altägyptischen Atonreligion identisch erweist. Michael Walzer führt in einer ebenso originellen Lektüre der Exodusgeschichte aus, dass die Moses-Erzählung zum Grundlagentext aller Revolutionen überhaupt wurde. Die für den Text zentrale Verheißung des gelobten Lands, schreibt Walzer, „bildete eine der wichtigsten Quellen für eine ganze Reihe revolutionärer Programme: für das puritanische heilige Commonwealth, die jakobinische Republik der Tugend, sogar für Lenins kommunistische Gesellschaft.“ An diesen und anderen gewichtigen und inspirierenden geistesgeschichtlichen Studien muss sich Assmans Exodus-Interpretation messen lassen.

Entsprechend sieht sich Assmanns Buch dem Zwang ausgesetzt, sich von den berühmten Vorarbeiten abzusetzen. Mit Freuds Studie setzt sich Assmanns Text durchgehend auseinander – nicht ohne Respekt gegenüber dem Gründervater der Psychoanalyse, aber immer wieder auch sehr kritisch. Assmann verwirft insbesondere Freuds These, dass die Religion Moses’ mit der kurzzeitigen Konversion Altägyptens zum Monotheismus unter Echnaton in Verbindung stehe, als eine „vollkommen haltlose“ Theorie. Desweiteren wirft Assmann Freud vor, entscheidende Ideen seiner Arbeit aus Ernst Sellins Theorie über die Ermordung Moses’ durch die Israeliten übernommen zu haben, ohne dies ausreichend deutlich zu machen; außerdem sei Freud die „große Linie“ in Sellins Argumentation „entgangen“. Die Mosesstudie des Psychoanalytikers kann so den philologischen Anforderungen des emeritierten Ägyptologen offenbar nicht genügen. Gegenüber Walzers Arbeit – deren Herangehensweise seiner eigenen freilich auch näher ist, insofern auch Walzer wesentlich an der Rezeptionsgeschichte der Moseserzählung interessiert ist – ist Assmann deutlich weniger kritisch, allerdings grenzt er sich auch von dieser deutlich ab, indem er eine konträre Zielsetzung behauptet: „Wenn Michael Walzer die Exodus-Überlieferung in ihrer politischen Dimension als die Matrix aller Revolutionen gelesen hat, so möchte ich sie in diesem Buch in ihrer religiösen Dimension als die Matrix aller Offenbarungen deuten“. Damit wird – in der Einleitung des Buchs – ein sehr großes Versprechen abgegeben: nicht weniger als eine neue Interpretation der Exodusgeschichte, die gleichwertig wäre mit Walzers Arbeit und die deren politische durch eine religionshistorische Perspektive ergänzen würde.

Methodisch liefert Assmans Exodusbuch wenig Überraschungen. Assmann referiert lediglich kursorisch auf seine Methodik der „Sinngeschichte“; ausführliche methodologische Vorüberlegungen oder Erklärungen erübrigen sich wohl in diesem Fall tatsächlich. Assmanns theoretische Arbeiten – vor allem die Monografie über Das kulturelle Gedächtnis – gehören längst zum Kanon der Kulturwissenschaften. Auch die Referenzen auf die gedächtnistheoretischen Analysen Aleida Assmanns ziehen sich – wenig überraschend – durch den gesamten Text. Dem Anspruch der Sinngeschichte entsprechend, interessiert sich Assmanns Buch über den Exodus nicht für den „realen“ Moses hinter der biblischen Darstellung und auch nicht für eine systematisch angelegte Studie zur Rezeption dieses Textes in der Geistes- und Religionsgeschichte. Wie Assmann zu recht anmerkt, wäre letzteres angesichts der enormen Wirkungsgeschichte wohl schlicht „ein Ding der Unmöglichkeit“. Stattdessen interessiert sich Assmann aus dezidiert fachfremder – und also in gewisser Weise genuin kulturwissenschaftlicher – Perspektive für die Idee der Offenbarung, die in dem Exoduskapitel entfaltet wird, ebenso wie für die Art und Weise, wie diese Erzählung in einigen Kunstwerken der Neuzeit aufgegriffen, nacherzählt und re-interpretiert wurde.

Diesem Unternehmen geht Exodus: Die Revolution der Alten Welt in zehn Kapiteln nach. Die ersten Kapitel behandeln den „Aufbau des Buches Exodus“ (Kap. 1) und den historischen Hintergrund (Kap. 2) sowie die „Textgeschichte“ (Kap. 3) und bereiten so, mit anderen Worten, die historische und philologische Analyse des Textes vor. Die weiteren Kapitel folgen im weitesten Sinn der Erzählung und thematisieren nacheinander die Leiden der Israeliten in Ägypten (Kap. 4), die Offenbarung Gottes gegenüber Moses (Kap. 5), die Plagen (Kap. 6), die Beziehungen zwischen Gott, Moses und den Israeliten (Kap. 7, 8 und 9) sowie die im Exodus-Text imagnierte „Einwohnung“ Gottes inmitten seines Volkes (Kap. 10).

Die zentrale Thematik, die Assmann immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln aufgreift, entwickelt die Idee des „Monotheismus der Treue“. „Der Monotheismus der Treue ist das Spezifikum des Mose-Bundes, der mit dem Befolgen der Gebote steht und fällt“, schreibt Assmann. Die Passagen, die sich mit der Differenzierung zwischen dem „Monotheismus der Treue“ und dem der „Wahrheit“ beschäftigen, sind die inspirierendsten des gesamten Buchs. Der Gedanke, dass beide Monotheismen in dem „komplexen, vielstimmigen Kanon der biblischen Schriften nebeneinander“ existierten, erscheint vielversprechend. Dass die Bibel gewissermaßen parallel und in interner Konkurrenz zu sich selbst zwei grundsätzlich verschiedene Monotheismen und demzufolge zwei verschiedene Vorstellungen der Natur Gottes – bzw. auch der Existenz einer Vielzahl von Göttern – hervorbringt, würde eine weitere Ausarbeitung verdienen.

Dass dies in dem Buch nicht wirklich geschehen kann, folgt bereits aus der methodischen Anlage der Arbeit. Indem Assmann gleichermaßen Rekonstruktionen der historischen Realität zur Handlungszeit der Moseserzählung, texthistorische Überlegungen, theologische Konzeptionen und ihre politischen Implikationen sowie künstlerische Ausgestaltungen des Exodus in der Literatur und Oper der Moderne einbezieht, ergibt sich ein zwar buntes und jederzeit anregendes, aber eben notwendigerweise auch sehr heterogenes und stellenweise bloß skizzenhaft anmutendes Bild. Assmann deutet die Möglichkeit an, dass die Israeliten mit den in den ägyptischen Chroniken überlieferten „Hyksos“ identisch sein könnten, aber er skizziert diese historische Perspektive lediglich. Einige „Exkurse“ zu Georg Friedrich Händels Oratorium Israel in Egypt, Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron oder Zeruya Shalevs Roman Thera liefern zudem interessante Lektüren von Kunstwerken der Moderne als Interpretationen der Exodus-Geschichte. Ein geschlossenes Bild mit einer konsequent entwickelten These ergibt sich auf diese Art und Weise jedoch nicht. Aus diesem Grund kann Assmanns Exodus-Buch dem Vergleich mit den Arbeiten von Freud oder Walzer letztlich nicht standhalten.

So finden sich zahlreiche Ideen, die nur flüchtig gestreift erscheinen und offene Fragen hinterlassen. Mehrfach referiert Assmann – im Gegensatz zu seiner Ankündigung zu Beginn des Buchs, in Abgrenzung zu Walzer mehr über Religion als über Politik schreiben zu wollen – auf eine „demokratische“ Tendenz, die dem über Moses vermittelten Bund zwischen Gott und den Israeliten innewohne. Die „Gottesunmittelbarkeit“, und damit der Verzicht auf die mediale Instanz des Königtums, „gibt dem biblischen Volksbegriff seine demokratische Stoßkraft“, schreibt Assmann. Und später bemerkt er: „Mit der Verkündung des Dekalogs aber tritt JHWH nicht Mose, sondern dem Volk insgesamt gegenüber und teilt ihm ohne jede königliche oder prophetische Vermittlung in aller Öffentlichkeit und geradezu basisdemokratischer Direktheit seinen Willen mit.“ Es leuchtet ein, dass Gottes Ansprache direkt an das Volk – und insbesondere die dezidiert antimonarchistische Geste anderer Texte des Alten Testaments – eine gewisse anti-autoritäre Dimension in der Tradition der jüdischen Religion begründet. Inwiefern jedoch gerade die Verkündung seines Willens gegenüber dem Volk „geradezu basisdemokratisch“ sein sollte, würde einer weiteren Erklärung bedürfen: Von einer offenen Abstimmung über den Inhalt der zehn Gebote erzählt das Buch Exodus eindeutig nicht.

Politische Aktualisierungen dieser Art finden sich nicht wenige in diesem Buch, und nicht alle sind gleichermaßen nachvollziehbar. Im Zusammenhang mit dem „biblischen Antikanaanismus“ spricht Assmann von einer „Semantik des heiligen Krieges“ in der Exodus-Erzählung, welcher als „Vernichtungskrieg“ verstanden werden müsse. Das „heilige Volk“ müsse die anderen Völker in Kanaan „ausrotten, um sich nicht zum Kult anderer Völker verführen zu lassen“. Hier trägt Assmann ohne Not eine sehr moderne Semantik in die Interpretation der Texte des Alten Testaments herein und erweckt damit unweigerlich den Eindruck, dass diese unmittelbar über gegenwärtige politische Konflikte und Krisen sprächen. Angesichts des Umstands, dass Assmann hier immerhin über das Gründungsdokument der jüdischen Religion schreibt, handelt es sich um eine notwendigerweise besonders sensible Thematik, die eine behutsamere Herangehensweise verdient hätte. Dass Assmann später ausdrücklich betont, dass „kolonialistische Bewegungen wie die der puritanischen Einwanderer der USA, der Buren in Südafrika und der israelischen Siedlerpartei gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen (sich …) immer wieder auf die entsprechenden alttestamentarischen Texte berufen (haben), um ihre Gewalttaten zu legitimieren“, bezieht die politische Interpretation sogar ausdrücklich auf den gegenwärtigen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Damit jedoch wird unnötig die Möglichkeit von simplifizierenden Missverständnissen eröffnet. Assmanns Arbeit benötigte eigentlich keine kurzschlussartigen Referenzen auf aktuelle politische Krisen, um interessant zu erscheinen.

Titelbild

Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
493 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406674303

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