Die USA als Sheriff wider Willen

Über die Kriegsmotivation der Nato

Von Günter GiesenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Giesenfeld

Ich bin nicht auf der Seite von Milosevic, also bin ich auf der anderen Seite, auf der unsrigen.

Daraus, und nicht aus einer Parteinahme für den "Feind", leite ich als Intellektueller und Wissenschaftler das Recht und die Pflicht ab, "unsere" Seite und deren kriegsführende Instanzen zu kritisieren, d.h. ihre Aktionen an dem zu messen, in dessen Namen sie sie unternehmen.

Deswegen rede ich erst einmal vom Krieg selbst, ehe ich mich mit der (eigentlich marginalen) Frage beschäftige, wie sich die Intellektuellen hierzulande dazu verhalten (sollten). Untersucht habe ich, angesichts frappanter Diskrepanzen zwischen manchen Aktionen der NATO und dem gesunden Menschenverstand, die Motivation, die es für sie und vor allem für die USA geben könnte, diesen Krieg zu führen - und zwar jenseits der ziemlich fundamentalistisch geführten Rechtfertigungspropaganda mit dem Stichwort Menschenrechte.

In der öffentlichen politischen Diskussion in den USA wird derzeit intensiv über die Rolle diskutiert, welche die USA nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems zu spielen hätten. Einhellig sind alle Beteiligten (mit der Regierung und beiden großen Parteien) der Meinung, daß die durch das Ende des kalten Krieges den USA zugefallene Dominanz in der Weltpolitik auf alle Fälle erhalten und ausgebaut werden sollte. Niemand plädiert in diesem Zusammenhang für irgendeine Alternative, etwa für eine demokratische, pluralistische Weltordnung, wie sie in der Konstruktion der UNO als Idee enthalten ist. Im Gegenteil: Die Neue Eine Welt soll von den USA angeführt, das 21. Jahrhundert das "amerikanische" Jahrhundert werden, mit einer bislang noch kaum vorstellbaren Absolutheit der US-amerikanischen Führung. "Wie damals das englische Empire über die Meere herrschte, so herrschen wir im 21. Jahrhundert über die Wellen der internationalen Kommunikation", schreiben Joseph S. Nye Jr. und William A. Owens in der Zeitschrift "Foreign Affairs" (März/April 1996). Man spricht in diesem Zusammenhang offen von einer "imperialen" Politik, die sich wesentlich von der "imperialistischen" der ehemaligen europäischen Kolonialmächte unterscheide. Es gehe darum (so Irving Kristol im "Wallstreet Journal" vom 18. August 1997), der Welt einseitig und zum amerikanischen Vorteil die Regeln für die Kommunikation in der elektronische Ära durch die Herrschaft über die globalen Netze vorzugeben. Diese imperiale Politik, die in politischen Kreisen in Washington unbestritten ist (man diskutiert nur über die Strategien) bestehe darin, "mit Partnern, die dieselben grundlegenden Ideen teilen, das Funktionieren des Markts zu verbessern und den Respekt vor seinen Regeln zu stärken". Man will ein "Ensemble von Ideen" fördern, "denen wir anhängen". Auf diese Weise soll sich die übrige Welt in eine freiwillige Abhängigkeit von den USA begeben (und man sieht diesen Prozeß in bezug auf Europa schon als weit fortgeschritten an, abgeschlossen sei er in Südamerika). Als Zeichen dafür wird auch die Tatsache interpretiert, daß in diesen Ländern "eine gewisse Amerikanisierung seiner populären Kultur" akzeptiert wird. "Unsere Missionare leben in Hollywood."

Dieser Diskurs über die Erhaltung der Vorherrschaft durch ökonomische Maßnahmen und eine sehr zielstrebige Politik der Kontrolle über die neuen Medien und Kommunikationsmittel (in erster Linie Fernsehen und Internet) wird begleitet von einer Neuorientierung auch im Bereich der Außenpolitik, vor allem über veränderte Strategien im militärischen Bereich. Dabei wird der Golfkrieg 1991 als eine Art Wendepunkt angesehen, seitdem sich eine (auch "Revolution" genannte) neue Militärstrategie in der erfolgreichen Erprobung befindet. Sie geht aus von einer engen Verbindung zwischen ökonomischen Maßnahmen (Ausspielen der ökonomischen Macht), Propaganda (systematische Verbreitung amerikanischer Ideale über alle Kommunikationsmittel und die Erreichung der Kontrolle über diese Kommunikationsmittel) sowie genau kalkulierten militärischen Aktionen (nach dem Muster des Golfkrieges).

Die Propaganda hat die Aufgabe, "erwünschte Ziele in der internationalen Politik durch Attraktivität der eigenen Ideale und nicht durch Zwang durchzusetzen" (Nye/Owens). Natürlich bleibt die militärische Intervention trotzdem als ultimatives Mittel bestehen, aber diese könne durch die sogenannte "soft power" der Propaganda verhindert oder in ihren Kosten gemindert werden. Das Ziel der neuen Militärdoktrin ist, "to use deadly violence with greater speed, range and precision" (Nye/Owens).

Daraus leitet sich eine neue Art von Kriegführung ab. Sie wird in einem grundlegenden Buch zur neuen Rolle der USA (Richard N. Haass: "The Reluctant Sheriff", 1997 - Council on Foreign Relations) als "foreign policy by posse" bezeichnet. Der Begriff "posse" bedeutet eine Art Eingreiftruppe, die nur von Fall zu Fall zusammengestellt wird, so wie im alten Westen der Sheriff nur zeitweise, wenn es nötig war, seine Funktion als Polizist ausübte: Er nahm sich dann eine Gruppe wohlwollender Männer und machte sie vorübergehend zu Hilfspolizisten. Die internationale Eingreiftruppe besteht nach diesen Vorstellungen aus jeweils ad hoc sich bildenden Verbänden von Staaten, die unter der Führung der USA gegen Regierungen oder Regierungschefs vorgeht, die "die von den USA eingesetzte Ordnung" nicht akzeptieren wollen. Diese "aufsässigen Mächte" oder "Paria-Staaten" werden dann bekämpft, indem man ihre militärischen, aber auch ihre technischen Einrichtungen, ihre Infrastruktur, Rohstoffproduktion, Verkehrs- und Transportwege zerstört, bis sie "zur Vernunft gebracht sind". In jedem Fall beanspruchen die USA die Führungsposition in diesen Koalitionen.

Diese Außenpolitik durch die Mobilisierung von Milizen wurde zum ersten Mal im Golfkrieg praktiziert. In früheren Fällen hatten die USA aber bereits teilweise die Form dieses militärischen Eingreifens praktiziert: Im Vietnamkrieg in den letzten Phasen, in Grenada und bei den Bombenschlägen auf Ziele im Sudan und in Afghanistan: Bombardierungen aus großer Höhe mit minimierten eigenen Verlusten an Menschenleben (in Somalia war die Eingreifaktion fehlgeschlagen, weil sie mit Bodentruppen unternommen wurde).

Die hier referierten Gedanken, die in der US-Öffentlichkeit intensiv diskutiert werden (und zwar keineswegs kontrovers), sind vielleicht noch Projektionen für eine längerfristige Zukunft nach dem Verschwinden der Sowjetunion. Unzweifelhaft ist, daß sie die strategische Grundlage des gegenwärtigen Krieges in Jugoslawien sind und daß die "Neue Strategie" der NATO, die hier noch vor ihrer offiziellen Verkündung ausprobiert wurde, auf eine Rolle dieses Militärpakts als Dauer-"Eingreiftruppe" im Sinne der referierten Vorstellungen hinausläuft, zu denen eine entscheidende Mitwirkung anderer übernationaler und nicht auf die USA zentrierter Organisationen wie der UNO nicht paßt. Daß dies mit Sicherheit Gedanken sind, die auch praktisch die US-amerikanische (bzw. NATO-) Politik leiten, beweist - als singulärer Hinweis - eine Rezension, die zu dem Buch von Haass erschienen ist und in der es heißt: "[Der Titel "The Reluctant Sheriff", GG] is a perfect metaphor for our nation's search for the right balance between engagement and isolation [...] a compelling case for a leadership that we would be wise to follow". Der Rezensent ist kein anderer als Richard Holbrooke, der NATO-Unterhändler in Sachen Kosovo, der sich auch in seinem Buch "To End a War" (1998) als ein überzeugter Anhänger der neuen imperialen Politik der USA im beschriebenen Sinn erweist.

In ihrem Kern ist diese neue US-Außenpolitik ein Programm der Missionierung der ganzen Welt im Namen nicht hinterfragter Ideen ("Menschenrechte", "freier Markt"), die keine religiösen sind, aber wie religiöse im Sinne von Dogmen wirken sollen, wobei ihre Herkunft aus demokratischen Traditionen keine Rolle spielt, wenn sie zur Legitimation undemokratischer Aktionen dienen müssen. Es darf nicht übersehen werden, daß sie zudem im Zusammenhang mit einer entsprechenden Wirtschaftspolitik stehen, die inzwischen auch dogmatische Züge angenommen hat. Als notwendig zur Verteidigung dieses absolut gesetzten Ziels bezeichnen die USA inzwischen immer offener sowohl Aktionen, die zur weltweiten Durchsetzung des "freien Markts" und zur Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen unternommen werden, als auch Kriege, die im Rahmen von Konkurrenzauseinandersetzungen um Absatzvorteile geführt werden. Die kombinierte Strategie heißt: aggressive Wirtschaftspolitik mit unterstützenden isolierten militärischen Feldzügen (wobei die Rüstungsplanung und der vorgesehene Ausbau der Militärmacht davon ausgeht, daß auch mehrere solche Feldzüge gleichzeitig - wie gegenwärtig, denn die Angriffe im Irak laufen ja weiter - möglich sein müssen). Es ist ein Konzept, in dem die wichtigsten und einflußreichsten politisch-ökonomischen Institutionen in den USA ihre Bedürfnisse befriedigt finden können: kommerzielle Interessen, national-imperiale Ambitionen, Blüte der Rüstungsindustrie, Machtzuwachs im globalen Ausmaß, Verschärfung der ungerechten Verteilung des Reichtums weltweit als Voraussetzung für die Kontrolle über den "freien Markt".

Ich möchte betonen, daß für das Verständnis des Kosovo-Konflikts diese Hintergründe US-amerikanischer Politik nur ein Element sind. Es ist notwendig, die anderen ebenfalls zu erschließen:

* geschichtliche Abläufe langfristiger Natur, die hier nur ihre vielleicht letzte Zuspitzung erfahren. Zum Beispiel die systematische Auflösung der Integrität Jugoslawiens mit aktiver (und wahrscheinlich nur aus Inkompetenz zur geschichtlichen Analyse erfolgter, aber in ihren Konsequenzen verheerender) Mitwirkung der westeuropäischen Regierungen;

* die Verhandlungen von Rambouillet und die inzwischen allgemein bekannte Tatsache, daß in "Rambo-Manier" der "Feind" praktisch gezwungen wurde, nicht zu unterschreiben (es gibt inzwischen Äußerungen von Beteiligten, die bestätigen, daß dort ohne die ultimativen und überzogenen Forderungen der Militärs eine politische Lösung möglich gewesen wäre);

* schließlich Milosevic' Politik der Vertreibung und Unterdrückung sowie die tatsächliche Minderheitenpolitik Jugoslawiens nach Tito

* und die historische Funktion und Einschätzung der Figur Titos, der die Einheit Jugoslawiens ja über Jahrzehnte wahren konnte.

Das Be-denken aller dieser Faktoren ist also in erster Linie Recherche- und Denkarbeit, eine Tätigkeit, die, wie es scheint, den Intellektuellen vor allem am Herzen (oder besser: am Kopf) liegen sollte. Gerade dies scheint bei vielen (erschütternd vielen) deutschen Intellektuellen nicht der Fall zu sein. In bezug auf die hier erläuterten Prinzipien der US-amerikanischen Außenpolitik (die viele Widersprüche im aktuellen Vorgehen der NATO in Jugoslawien erklärt) scheinen sie sich eher ein Denkverbot auferlegt zu haben. Peter Schneider schreibt: "Niemand hat bisher ein halbwegs überzeugendes Argument für die These vorbringen können, die NATO-Intervention ziele auf Bodenschätze, strategische Stellungen, territoriale Erweiterung und so weiter." Und Hans Magnus Enzensberger: "Ein Krieg aus humanitären Gründen erscheint den Skeptikern unvorstellbar, doch die Suche nach bösen amerikanischen Hintergedanken hat bisher keine Früchte getragen. Womöglich handelt es sich tatsächlich um ein historisches Novum." Es sind eben leider keine Hintergedanken, es ist offizielle Politik.

Ich kann mir sehr wohl einen Krieg aus humanitären Gründen vorstellen (die Allierten im Zweiten Weltkrieg führten - unter anderem - einen solchen), auch legitime Verteidigungskriege sind vorstellbar und haben stattgefunden (Vietnam), dieser hier aber, von der NATO in Jugoslawien geführt, ist keiner von beiden.