Gelungen und misslungen
Rodrigo Rey Rosa erzählt in seinem Roman „Die Gehörlosen“ die spannende Geschichte um eine Entführung in Guatemala und produziert am Ende ein großes Wirrwarr
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Guatemala-Stadt verschwindet plötzlich Clara, Tochter eines reichen Bankers. Ihr Leibwächter, Cayetano, ist davon überzeugt, dass sie von Javier, ihrem Liebhaber und Anwalt ihres Vaters, entführt wurde. Als von Claras Familie Lösegeld gefordert wird, scheint es keine Zweifel mehr daran zu geben. Cayetano macht sich auf die Suche nach ihr und findet sie schließlich am von Vulkanen umgebenen Atitlán-See, westlich von Guatemala-Stadt, wo sie mit Javier ein neues Zuhause gefunden hat. Doch Clara scheint – diesen Eindruck hat Cayetano – unter Drogen zu stehen und auch Cayetanos Getränk hat man mit irgendwelchen Substanzen kontaminiert. Auf dem Rückweg verliert er die Kontrolle über sein Motorrad und landet in einem Krankenhaus, in dem er behinderte Kinder sowie Affen sieht und in dem ein unheimlicher Doktor merkwürdige Tests durchführt. Cayetano flüchtet mit dem Laptop des Doktors als Beweismaterial, will alles vor Gericht bringen und stößt auf zwei Rechtsformen in dieser Gegend, nämlich die westliche und kaxlán, die der Maya. Und plötzlich wird alles wesentlich komplexer als erwartet. Der im Prolog erwähnte gehörlose Junge taucht wieder auf, zwei kleine Narben an den Ohren, und scheint geheilt, dank des Doktors. Hat sich Cayetano also nur getäuscht? Ist er der eigentlich ‚Gehörlose‘, der in diesem Land nichts versteht?
Bis zu den letzten sechzig Seiten ist es kaum möglich, Rodrigo Rey Rosas Buch aus der Hand zu legen: Der Roman ist bemerkenswert spannend geschrieben, schafft intensive Eindrücke von der guatemaltekischen Landschaft und den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in einem zerklüfteten Land, das – so heißt es im Roman – „sowohl materiell als auch geistig […] vor die Hunde ging“. Vor allem ländliche Regionen sind immer noch von den Aktionen der Ex-Paramilitärs betroffen, die immer wieder die Menschenrechte verletzten – so informiert der Autor in einem Vorwort. Gemessen an der Mordrate gehört Guatemala zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Vor diesem Hintergrund mögen die völlig unaufgeregten Mordszenen im Roman weniger irritieren. Sowohl Cayetano als auch sein Onkel Chepe werden nämlich zu kaltblütigen Tätern: Getötet wird schnell, die Leichen werden anschließend zerstückelt, da spielt auch Verwandtschaft keine Rolle. Als Cayetano seinen Onkel kurzerhand erschießt, passiert dies so abrupt, dass der Leser den Eindruck erhält, er habe sich verlesen. Ist diese kühle, emotionslose Darstellung des Mordens also schriftstellerisches Kalkül oder Ungeschick? Auch vom Tod Don Claudios, Claras Vater, wird der Leser wortwörtlich überrumpelt. Dieser wird schlichtweg festgehalten, kühl und unbewegt: „Ohne zu übertreiben, kann man sagen, dass diese Worte schließlich Don Claudios Leben ein Ende setzten, der in derselben Nacht einen Gehirnschlag erlitt und einen stillen Tod starb, während er schlief.“
Weniger überzeugend ist das letzte Fünftel des Romans. Klaus Küpper hat Rodrigo Rey Rosa vorgeworfen, er habe einen Wust von Themen unterbringen wollen, sich aber in bloßen unausgegorenen Andeutungen verloren und dabei ein großes unverständliches Durcheinander hinterlassen, das offensichtlich auch die Übersetzerin überfordert habe (http://www.lateinamerikaarchiv.de/b%C3%BCcher-zu-lateinamerika/mittelamerika/guatemala/1272-rey-rosa,-rodrigo-die-geh%C3%B6rlosen.html).
Tatsächlich trifft dies für den letzten Teil des Romans zu. Anstatt zu einer ersehnten Aufklärung, kommt es zu weiteren Verwirrungen. Was passiert in dem Krankenhaus wirklich? Sind es tatsächlich nur Drogen, die Clara dazu bringen, bei Javier zu bleiben? Und welche Rolle spielt die indigene Bevölkerung? Tatsächlich scheint der Autor mit der Handlung wie auch mit der Gestaltung der Charaktere irgendwie überfordert zu sein. Die Puzzleteile wollen sich nicht richtig zusammenfügen, so lässt er das Chaos einfach am Atitlán-See und begibt sich mit Cayetano in dessen Heimatdorf, wo ihn seine besorgte Mutter darum bittet, seine Schwester und ihre Tochter in einem Bordell ausfindig zu machen. Vergebens sucht man hier nach irgendwelchen Zusammenhängen.
Man kommt nicht herum, am Ende zu überlegen, was der Autor hätte besser machen können. War es schlichtweg Zeitdruck, der für dieses Ende verantwortlich ist? Einerseits beeindruckt, andererseits enttäuscht und vor allem irritiert, bleibt also nur das Warten auf einen neuen Roman von Rodrigo Rey Rosa und die Hoffnung auf ein gelungenes Ende.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
|
||