Literaturgeschichte auf den Punkt gebracht
Gerhard Schulz' Band über die deutsche Literatur von 1789 - 1806 ist neu aufgelegt worden
Von Stefan Neuhaus
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseManche Dinge dauern lange, sehr lange. Die "Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart" im Verlag C. H. Beck (in Fachkreisen nach den Reihenherausgebern "der de Boor / Newald" genannt) ist noch nicht vollständig, da werden Einzelbände bereits wieder neu aufgelegt. In diesem Fall der hervorragende Band des in Australien lehrenden Germanisten Gerhard Schulz über die Zeit von der Französischen Revolution bis 1806. Eigentlich geht Schulz' Arbeit bis 1815, doch der zweite Teil ist sechs Jahre jünger (er stammt von 1989) und wohl deshalb unverändert geblieben.
Viel Neues gibt es bei dieser Neuauflage eigentlich auch nicht. Das Vorwort nennt in erster Linie die Aktualisierung der Bibliographie. Hier ist denn auch ein Anlass zur - einzigen - Kritik. Die durchaus originelle Gliederung und ihre deutliche Anlehnung an die vor allem in den 70er und 80er Jahren populären sozialgeschichtlichen Fragestellungen lassen den Band heute zwar nicht antiquiert, aber doch ein klein wenig unzeitgemäß erscheinen. Insofern ist der Verlagsvermerk "neubearbeitete Auflage" bestenfalls missverständlich, wenn nicht irreführend.
Ansonsten bleibt nur, Schulz' Kennerschaft, seinen exzellenten Stil, seine Sicherheit, auch Treffsicherheit in der Gruppierung und Darstellung des schwierigen Stoffes zu bewundern. Schulz schreitet ohne Balanceprobleme auf dem schmalen Grat zwischen enzyklopädischer Überfrachtung und belletristischer Simplifizierung. So werden beispielsweise Schillers kunsttheoretische Schriften und seine Dramen mit unbestechlicher Nüchternheit und in glasklarer Sprache kenntnisreich und ohne das beliebte, billige Ausspielen Goethes gegen den wichtigsten Dramatiker deutscher Sprache erläutert.
Mutig und immer noch eigenwillig ist Schulz' Wertschätzung Ludwig Tiecks, der in der Darstellung zumindest quantitativ neben Goethe und Schiller als dritter wichtiger Autor des Betrachtungszeitraums tritt. Nicht nur an dem Einstreuen zahlreicher interessanter Fakten, auch an dieser Bevorzugung Tiecks offenbart sich die sozialgeschichtliche Grundierung des Bandes. Wäre Schulz von dem Verständnis einer Höhenkamm-Literatur ausgegangen, zu dem die Literaturwissenschaft seit den 80er Jahren verstärkt zurückgekehrt ist, dann hätte der nur am Rande gestreifte Novalis eine viel bedeutendere Rolle spielen müssen.
Nun enthält der sozialgeschichtliche Ansatz Schulzscher Prägung aber auch viel Wahrheit oder das, was man als gesunden Menschenverstand bezeichnet und nicht immer in deutschsprachigen Literaturgeschichten findet. Schulz erläutert im Vorwort, dass es in erster Linie um die Werke gehe (andere Sozialgeschichten haben das wenig beachtet, zum Schaden der ganzen Richtung). Andererseits könne man die historische und soziale Bedingtheit von Literatur, "Philosophie und Biographik" nicht ausklammern (in der Überbewertung solcher Bedingtheiten haben wieder andere zuviel des Guten getan). Ähnlich bestechend ist Schulz' Feststellung, dass Kategorien wie Epochenbezeichnungen nur Hilfsmittel sind und man ständig an ihnen arbeiten muss. "Je perfekter ein Begriffssystem für sich selbst ist, desto gewaltsamer wird gewöhnlich mit dem Kunstwerk verfahren." Hier hat Schulz nicht nur eine Tendenz der Literaturgeschichte, sondern der ganzen Literaturwissenschaft auf den Punkt gebracht. Man sollte es ihm durch (Wieder-) Lektüre seiner Epochendarstellung danken.
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