Die Stadt der Phäaken und Athen an der Spree

Thorsten Sadowsky über Wien und Berlin in der bürgerlichen Reiseliteratur um 1800

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zersplitterung Deutschlands in hunderte von kleinen Territorien führte im 18. Jahrhundert dazu, dass sich weder eine bedeutende Metropole herausbilden noch ein Bewusstsein vom Phänomen der Großstadt in der deutschen Öffentlichkeit entwickeln konnte. Ein Indiz für diesen Provinzialismus zeigt sich - neben den fehlenden Städtedarstellungen in der Literatur - schon in der breiten deutschen Rezeption von Rousseaus Polemik gegen die Städte und in seiner Apologie der Provinz als Ort wahrer Kultur und Moral. Jede Aussage in diesen beiden Sätzen ist seit der Arbeit von Thorsten Sadowsky falsch geworden.

Auf der breiten Materialbasis von 67 Reise- und Stadtbeschreibungen über Berlin und Wien aus den Jahren 1770 - 1810 vermag der Autor jene lange Zeit gängige Forschungsmeinung überzeugend zu korrigieren. In dem rasanten Anwachsen von Reiseliteratur auf dem Buchmarkt der Spätaufklärung stellten Reisen in den deutschsprachigen Binnenraum den größten Anteil dar. Gesucht wurden darin das nahe Fremde sowie die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus im universal verstandenen Fortschrittsprozess; gefunden wurde unter anderem das neuartige soziale Phänomen der Großstadt. Nirgends sonst veränderten sich die sozialstrukturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse so augenfällig, löste sich die Ständeordnung stärker auf und bestand Zugang zu einer so vielfältigen Warenwelt, zu organisierter Freizeitgestaltung und bereit gestelltem Vergnügungsbetrieb. Ein ganzer Druckbogen mit kommentierten Abbildungen veranschaulicht dies bei Sadowsky zusätzlich zu den präsentierten Textzeugnissen. Die Perspektive derjenigen, die dieses Faszinosum für ihre Zeitgenossen beschreiben, ist dabei die der Fremden, die den ungekannten Zeitrhythmen, Größenverhältnissen und Menschenmassen staunend gegenüberstehen. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen dem eigenen Erfahrungshorizont und dem erlebten Fremdartigen gewinnen die Texte ihre mitteilenswerten Gegenstände.

Sadowsky hält durch den Aufbau der Studie und die gewählte Fragestellung noch zwei weitere Spannungsbögen bereit. So interessiert er sich sowohl für den in seinem Material aufgespeicherten Erfahrungsgehalt als auch für die zu dessen Präsentation verwendeten Darstellungsmittel. Liest er die Texte also einmal als historische Quellen für die Verhaltensweisen der Schreibenden auf ihren Reisen, werden sie ihm an anderer Stelle zum literaturwissenschaftlichen Gegenstand, um so seines topischen Charakters habhaft zu werden. Immer wieder gleiche Beschreibungsmuster und Metaphern in den Texten belegen ebenso wie die beliebte Ästhetik der Unmittelbarkeit oder des Planlos-Zufälligen, dass es sich nicht nur um Beschreibungen von Wirklichkeit, sondern immer auch um deren Interpretation handelt. Vollends deutlich wird dies bei dem zweiten Spannungsbogen der Arbeit: dem Vergleich zwischen Berlin- und Wien-Darstellungen. Werden ähnliche urbane Entwicklungsprozesse und Erscheinungsformen auch für beide Städte mit dem nahezu identischen Beschreibungsinstrumentarium durch die Schreibenden erfasst, so könnten die Bewertungen und Zuschreibungen - Sadowsky nennt dies den jeweiligen "Stadtmythos" - nicht gegensätzlicher ausfallen. Der Protestantismus und die Rationalität der Norddeutschen wird zum plakativen Gegenpol des Katholizismus und der Sinnenfreude im Süden.

Sadowskys Zusammenführung sowohl historischer als auch literaturwissenschaftlicher Zugänge gelingt ihm glaubhaft, auf noch dazu knappem Raum, weil er seinem textanalytischen Kernstück einen Rahmen aus methodischer und historischer Reflexion beigesellt, der zeigt, dass er alle Fallstricke der Reiseliteraturforschung kennt. So werden Fragen zur Mentalitätsgeschichte erörtert und Aspekte der Toposforschung kurz skizziert. Eine (leider unhistorische) Gattungsabgrenzung fehlt ebenso wenig wie ein kurzer Abriss zur gattungsgeschichtlichen Entwicklung der Reisebeschreibung innerhalb des Untersuchungszeitraums. Und schließlich wird im Rückgriff auf die Bürgertumsforschung das homogene soziale Fundament des Textkorpus deutlich gemacht. So wirkt es legitim, wenn die Texte von Fall zu Fall als wahrhaftige Dokumente für historische Wirklichkeiten und Prozesse gelten können, aber auch als Beispiele für etablierte und konventionalisierte Beschreibungsmuster herangezogen werden, die das Beschriebene entsprechend überformt und verzerrt repräsentieren.

Die so austarierte Wahrheitsproblematik liefert schließlich ein Ergebnis, das über die Widerlegung der oben genannten Forschungsthese vom deutschen Provinzialismus ohne Großstadtbewusstsein hinausreicht. Nicht nur wurden schon damals neben London und Paris auch die deutschen Städte Berlin und Wien als "Modernisierungsinseln" begriffen; sie werden auch in einer Art und Weise dargestellt, die Zeugnis einer besonderen Form der Aneignung und Selbstverständigung ist. Der eigene soziale Kontext wird kaum einmal verlassen, die besuchten wissenschaftlichen Einrichtungen, die Theater und Salons, sind Orte eines gesellschaftlich eng begrenzten Umgangs, über deren Bedeutung man sich indes einig ist. Entstammen die Schreibenden allesamt der bürgerlichen Funktionselite, so verbindet sie ferner ein weitgehend einheitlicher normativer Maßstab, der das kulturell und vor allem sozial Fremde, das die Großstadt bei allen Differenzen zwischen Nord und Süd auch hätte bieten können, konsequent ausblendet. Dies werden Entdeckungen sein, die das Bürgertum erst im folgenden Jahrhundert machen wird, wenn ihm der öffentliche Raum als eine Bühne der Selbstdarstellung zunehmend von denen streitig gemacht werden wird, von denen es sich hier noch abzuheben bemüht. So läßt Sadowsky das von ihm betrachtete Material als bereitgestelltes Orientierungswissen einer kleinen sozialen Gruppe erkennbar werden, das sowohl Wirklichkeit interpretiert als auch selbst interpretierbar, gleichwohl aber erfahrungsgesättigt ist.

Titelbild

Thorsten Sadowsky: Reisen durch den Mikrokosmos. Berlin und Wien in der burgerlichen Reiseliteratur um 1800.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1998.
236 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3933374162

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