Warum Kolumbus fand, was er suchte

Über Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit

Von Volker SciorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Scior

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon fast gebetsmühlenartig wird es wiederholt, auch in der mediävistischen Reiseliteraturforschung: Es sei wenig sinnvoll, Texte lediglich auf ihre Faktizität hin zu überprüfen und eine objektive Wirklichkeit aus ihnen rekonstruieren zu wollen. Und dennoch: An der theoretischen und methodischen Stringenz, diese Erkenntnis umzusetzen, mangelt es häufig, auch in jüngeren Arbeiten und auch in solchen, die sich mit dem Thema Raum beschäftigen. In dieser Hinsicht mag die Erinnerung an eine bereits vor einiger Zeit publizierte Dissertation lohnend erscheinen, in der Bernhard Jahn Raumkonzeptionen der Frühen Neuzeit untersucht, und zwar auf der Basis spätmittelalterlicher Berichte über Pilgerreisen ins Heilige Land, deutschsprachiger Amerikaberichte der Frühen Neuzeit und frühneuhochdeutscher Prosaerzählungen. Denn gerade in der Theorieanwendung und in der Methodik liegen wesentliche Vorzüge dieser Arbeit.

Jahn wendet sich ausdrücklich gegen Ansätze der Reiseliteraturforschung, welche die in Texten beschriebenen Räume an den Übereinstimmungen mit einem vorgeblich objektiven und wirklichen Raum messen, mittelalterliche Raumdarstellungen mit modernen Karten abgleichen und den Texten - folgerichtig - entweder ein realistisches Raumkonzept bescheinigen oder sie als fabulös abqualifizieren. Dem Autor geht es nicht um diese vorgebliche Wirklichkeit, er nimmt Bezug auf Ergebnisse der kognitiven Kartographie und geht von einem erweiterten Raum-Begriff aus. Ihn interessiert nicht der (leere) Raum der euklidischen Geometrie, der in seiner Untersuchung lediglich als Illustrationsgröße fungiert, sondern der kognitive Raum, der grundsätzlich immer strukturiert ist - durch die Phänomene, die sich in ihm befinden und durch die Bewertungen, die er erfährt. Kognitive Karten (mental maps), über die jeder Mensch verfügt, setzen sich wesentlich aus geographischen, politischen, religiösen, ethnographischen und sozialen Faktoren zusammen. Raumkonzepte spiegeln so letztlich überindividuelle Gestaltungsformen der Wirklichkeit wider. Die Wirklichkeit des Raumes im Text konstituiert sich etwa bei den Pilgerberichten aus einer Wechselwirkung zwischen der Gebrauchsfunktion der Texte, Gattungskonventionen und kulturellen Traditionen sowie dem sozialen Umfeld der Autoren. Erst wenn man diese Bedingtheit von Raumkonzepten erkennt, wird auch die Vorstellung des Kolumbus, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben, plausibel, denn sein Konzept war trotz der Zweifel, die bereits Zeitgenossen hegten, dem damaligen Kenntnisstand durchaus angemessen.

Jahn zeigt mehrere Tendenzen auf, wie sich Raumkonzeptionen in Texten der Frühen Neuzeit gegenüber solchen des Mittelalters verändert haben, wobei er seine Ergebnisse vorsichtig und ohne Verallgemeinerungen formuliert. Zum einen wird der gesamte beschriebene Raum ("Makroraum") in den jüngeren Texten homogener strukturiert. Sind Räume in den Pilgerberichten häufig durch einen unterschiedlichen qualitativen Status von anderen abgegrenzt, so zeigt sich für das 15./16. Jahrhundert eine Tendenz zur Verknüpfung einzelner Räume. Diese sind nun, auch aufgrund des möglich gewordenen Rückgriffs auf das ptolemäische Kartennetz, prinzipiell gleich-wertig, gleich-bestimmbar und gleich-erreichbar. Auch der soziale Raum wird homogener strukturiert: Die in den Pilgerberichten anzutreffenden Gegensatzpaare, z. B. Christen und Heiden, werden etwa im Fortunatus oder bei Tucher egalisiert. Daneben gewinnt die Darstellung von Gebäuden und ihren Räumen ("Mikroraum") zunehmend an Bedeutung -möglicherweise aufgrund einer Veränderung von Privatheitskonzepten; denn Privatheit wird, so Jahns These, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts architektonisch fassbar. In allen untersuchten Texten dominiert grundsätzlich der soziale Raum, während Landschaftsbeschreibungen nur eine höchst untergeordnete Rolle spielen.

Die Tatsache, dass die Themen Raum und Raumkonzeptionen mittlerweile zu Forschungsschwerpunkten in verschiedenen Disziplinen avanciert sind, lässt die Lektüre dieser Dissertation trotz ihres schon etwas zurückliegenden Erscheinungsdatums sinnvoll erscheinen. Denn die Arbeit weist gerade in theoretischer und methodischer Hinsicht einen möglichen Weg aus einer Sackgasse der Forschung auf.

Titelbild

Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1993.
377 Seiten,
ISBN-10: 3631454015

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