Die Bodenlosigkeit der Himmelsforschung
Jürgen Dahls Essays über die Absurditäten der Astronomie
Von Frank Müller
Dort die unermesslichen Weiten des Kosmos, hier der Mensch auf seinem kläglichen Erdenfleck, hilflos, erbärmlich und befangen in kleinmütigen Streithändeln. Diese Einschätzung menschlicher Bedeutsamkeit entstammt dem Repertoire der philosophischen Aufklärung und ist nachzulesen bei Pascal, Fontenelle, Voltaire, d'Holbach, Pope oder Kant. Das Eingedenken der eigenen Unmaßgeblichkeit zählt im 18. Jahrhundert zu den wesentlichen Konstituenten des moralischen Subjekts. In ihr findet die rastlose Naturbeherrschung im Lichte aufklärerischer Vernunft ein wirksames Korrektiv. Wissenschaftshistorisch beruht sie auf der Entwicklung neuer, leistungsfähiger Fernrohre und der Läuterung der Newtonschen Gravitationstheorie zur Weltanschauung.
Lange Zeit als Propädeutik kosmologischer Spekulationen in Gebrauch, hat die heutige Astronomie ihre sozial integrierende, auf den Menschen bezogene Funktion verloren. Davon darf man sich anhand der vorliegenden Essays des Autors Jürgen Dahl einmal mehr überzeugen. Schon der Titel deutet es an: Was die Astronomie so fragwürdig macht, ist ihre Abkoppelung von den Funktionen des Lebens, ihre durch die Beschäftigung mit fernen Welten erzeugte Weltferne. An die Stelle der anschaulichen und im Wortsinn 'begreiflichen' Phänomene sind die Schimären einer apparativen Wahrnehmung getreten, welche, in grandiosem Missverhältnis zu den in ihre Entwicklung investierten Kosten und Mühen, jeden Bezug zu den Kategorien menschlichen Denkens und Erlebens vermissen läßt.
In der Tat stehen wir Erdenbewohner den beständig revidierten Nachrichten über das Zustandekommen schwarzer Löcher, die Existenz von Radiogalaxien und die Zukunft unseres Lebenssterns einigermaßen gleichgültig gegenüber. Überhaupt läßt es sich in den leeren Raum ungestraft und ganz nach Belieben hineinphantasieren. Für Dahl liegt die Sache auf der Hand: Die Astronomie erzielt überhaupt gar keine Fortschritte in der Erforschung des Weltraumes, sondern offeriert lediglich ein "freibleibendes Angebot von Entwürfen", das als solches folgenlos und ohne jede Konsequenzen bleibt. Diese Wissenschaft exemplifiziert mit anderen Worten ihre eigene Vergeblichkeit fortlaufend an sich selbst.
Gravitationspunkt solchen Argumentierens ist eine trotzige Bodenständigkeit, die dank der schlichten Wahrhaftigkeit des Augenscheins tiefer blickt, als es den Astrophysikern mit ihrem angeblich 'harten' Faktenwissen und ihren konkurrierenden Weltmodellen je gelingen kann. Wie die kopernikanische Lehre von der Beiläufigkeit der Erde paradoxerweise dazu führte, dass die Menschen ihre Mitgeschöpfe nur um so schonungloser ihrer Botmäßigkeit unterwarfen, so könnte die von Dahl antizipierte kopernikanische Rückwendung, d. h. die Restituierung des Subjekts als Mittelpunkt des Erkennens, den Weg zu einer nicht länger naturfeindlichen und überdies wirklichen, da "wirksamen" Wissenschaft weisen.
Dass der Gerätepark der Astronomen, das ständig wachsende Arsenal von Radioteleskopen, Spektographen, Photometern und Strahlungsdetektoren der Erforschung des Himmels dienlich ist - Dahl ist sich da, hinter seinem Mond, nicht so sicher. Gilt das Interesse der Astronomen doch keineswegs mehr dem unsere Köpfe überspannenden Himmelszelt, sondern einem gefilterten, verrechneten und unter gröblicher Mißachtung der raum-zeitlichen Spezifika der einzelnen Sterne, ihrer Entwicklungsstadien und Bewegungen auf eine Fotoplatte gebanntem Etwas. Dabei müßte schon der Umstand, dass man sich das Abbild des solcherart geschrumpften Universums nonchalant in die Tasche stecken kann, nachdenklich stimmen. Nicht anders verhält es sich freilich mit den mit Mitteln illusorischer Statistik genährten Hoffnung auf nachbarliche Begegnungen im Weltraum, nicht anders mit den Versuchen, dem Ursprung des Weltalls auf die Spur zu kommen.
Der Preis, den die Astronomen für ihre Entwürfe zu zahlen haben, ist ein amalgamhaftes Ineinander von undurchschauten Annahmen und ungeprüften Hypothesen. Dahl versteht es, dieses Knäuel Faden um Faden mit analytischem Scharfsinn zu entwirren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen - oder auch nicht, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt. Denn während die Suche nach Brüdern und Halbbrüdern im All auf Analogieschlüssen und unzulässigen Verallgemeinerungen beruht, verwechseln die Urknall-Theoretiker einfach Grund und Ursache. Überhaupt sprechen die wahren Größenordnungen des Komsos jedem Versuch Hohn, sie wissenschaftspraktisch handhabbar zu machen.
Selten indes hat Wissenschaftskritik dem Leser so große Freude bereitet, kam sie sprachlich so gediegen daher, durchsetzt von spitzfindigen Vergleichen und provokativen Überzeichnungen. Die Spottlust, mit dem Dahl den Weltraumguckern den grauen Star sticht, erhebt ihn zu einem legitimen Nachfolger des humorigen Wissenschaftskritikers Paul K. Feyerabend. Von "elektronischer Schwatzhaftigkeit", so heißt es, seien jene Zivilisationen, die auf die von der Erde ausgesendeten Funksignale antworten würden (was wiederum Zweifel daran aufkommen läßt, ob es sich dabei wirklich um 'intelligentes' Leben handelt). Und was mag man in dem der Sonde "Pioneer F" angehefteten Bildnis zweier gänzlich ungewandeter Menschen erblicken, wenn nicht "eine Art Saunareklame"?
Abgesehen von den Heiterkeitsanflügen, die diese Texte auslösen, tragen sie ihrem Leser gleich in mehrfacher Hinsicht einen Zugewinn ein. Zum einen wird für eine Einzeldisziplin zutreffend beschrieben, was kritische Stimmen der induktiven Wissenschaft als solcher vorwerfen: dass das von ihr fraglos beanspruchte 'empirische' Datenmaterial keineswegs selbstverständlich ist, sondern in Wahrheit auf hochkomplexen, Vorwissen aktivierenden Vermittlungsprozessen basiert. Erfahrung und Beobachtung, sagt der Wissenschaftsforscher Olaf Breidbach, sind keine bloß 'wahrgenommenen' Primärnotationen, sondern nach außen projizierte Grammatiken wissenschaftsimmanenter Strukturierung.
Reflektiert Wissenschaft diese Bedingungen nicht mit, so entartet sie zur leeren Selbstbespiegelung. Insbesondere der Dahlsche Blick auf die Himmlesforschung nährt den Verdacht, dass das Universum lediglich die in hingebungsvoller Kleinarbeit erdachten Formeln, Meßtabellen und Schwingungskurven auf seine Betrachter zurückwirft. Unter dem Strich betrachtet schmelzen sämtliche Ergebnisse, die diese Disziplin zusammengetragen hat, zu der immergleichen Auskunft zusammen, dass uns das Weltall schlechterdings unbegreiflich ist, weil es selbst so unermeßlich und unendlich ist. Auch künftige Versuche, dem Kosmos sein Geheimnis abzuringen, müssen in solchen Tautologien enden, weshalb wir weiteren Fortschritten durch das Dahlsche Sehglas unendlich gelassen entgegenblicken können.
Darüber hinaus führt das Buch vor Augen, wie wenig angemessen eine falsch verstandene Ehrfurcht vor der vielbeschworenen wissenschaftlichen 'Objektivität' ist - gerade in jenen Disziplinen, die im Unterschied zu den sogenannten Geisteswissenschaften eine Art Erbpacht für das Eindeutige und Unzweifelhafte zu besitzen scheinen. So kann die penible Akuratesse, mit der die Astrophysiker ihre Berechnungen anstellen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier gleich mit mehreren Unbekannten gerechnet wird und die Ergebnisse letztlich belanglos, da austauschbar sind. Damit ist nicht nur etwas über die der Astronomie unterlaufenden Irrtümer gesagt, sondern auch auf die Existenz von uneingestandenen Befindlichkeiten und Motiven ihrer Betreiber hingewiesen, den sumpfigen Urgrund 'reiner' Wissenschaft.
Dahl läßt keinen Zweifel daran, dass der Grund für die Gutgläubigkeit und den unverhohlenen Optimismus, mit der sich die Astronomie das Weltall gefügig macht, zuletzt in der menschlichen Psyche zu suchen ist. Was dokumentiert sich in der Suche nach anderen Wesen denn anderes als die dunkle Hoffnung auf Ratschläge, Rettungsformeln und Zauberworte, die unserer globalen Selbstbedrohung Einhalt gebieten könnten, die Sehnsucht nach Erlösung? Dass wir diese in Wirklichkeit nicht wollen, offenbart das gegenläufige Gedankenexperiment: Wären die Rufe ins All auch von Erfolg gekrönt, so deutet doch nichts darauf hin, dass wir den an uns von anderer Seite herangetragenen Zurechtweisungen nur im geringsten Folge leisten würden.
Psychologischen Spürsinn verrät auch Dahls Abrechnung mit den Weltraumfahrern, die sich wie keine andere Gruppe von Wissenschaftlern rückhaltlos den Militärstrategen andienlich machen. In den Kolonisations- und Auswanderungsprogrammen wie den NASA-Studien über die Bewohnbarkeit des Mars offenbart sich ein Fluchtmotiv: durch Veränderung des Menschheitswohnsitzes der hienieden angerichteten Zerstörung zu entkommen. Freilich nicht, um sich durch einen Neuanfang künftig eines sorgsameren Umgangs mit der Natur zu befleißigen, sondern um den Kampf gegen sie auf kosmische Dimensionen auszudehnen. Dahl dazu: "Es ist, als ob ein Betrüger sich ehrlich zu machen sucht, indem er sich bereit erklärt, eine Hypothek auf seine Schulden aufzunehmen."