Vom Nutzen und Nachteil des Erinnerns und des Vergessens

Meike Remscheids "Versuch über das Gedächtnis in Leben und Dichtung"

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Studie "Zwischen Erinnern und Vergessen" von Meike Remscheid handelt es sich um die Druckfassung einer Kölner Dissertation von 1998, die sich in die anschwellende literatur- und kulturwissenschaftliche Literatur zum Gedächtnis einreiht, wie sie vornehmlich durch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann angeregt worden ist. Angesichts des ursprünglichen Titels der Dissertation relativiert sich der essayistisch anmutende Titel in seiner thematischen Wucht: "Parzivals Weg aus der Gedächtnislosigkeit. Ein Versuch über das Gedächtnis in Leben und Dichtung".

Der Begriff des Gedächtnisses, wie ihn die Verfasserin operationalisiert, schließt nicht an die Modelle der mittelalterlichen Memoria an, wie sie beispielsweise Otto Gerhard Oexle für die Formen des Totengedenkens und dessen sozial integrative Kraft entfaltet hat, sondern wird aus soziologischen und philosophischen Diskursen entwickelt: Remscheid entnimmt Elemente für ihren Arbeitsbegriff des Gedächtnisses von Friedrich Nietzsche, Henri Bergson und Maurice Halbwachs. Diese interdisziplinäre Schau setzt sich zum Ziel, den "Zusammenhang von Gedächtnis und Leben" aufzuzeigen. Gedächtnis wird dabei als anthropologisches, ästhetisches und soziales Phänomen begriffen: In der anthropologischen Dimension besteht ein Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Vergessen (Nietzsche), ästhetisch zwischen Gedächtnis und Wahrnehmung, da gegenwärtige immer mit vergangener Erfahrung zusammenhänge (Bergson), sozial zwischen Individualgedächtnis und dessen Eingebundenheit in soziale Systeme mit spezifischen gemeinschaftlich erinnerten Werten und Traditionen (Halbwachs). Die im ersten Teil gewonnenen theoretischen Einsichten, die immerhin zwei Drittel des Buches umfassen, werden dann in einer Interpretation des "Parzival" des Wolfram von Eschenbach exemplifiziert.

Einer der Kernpunkte der Arbeit ist es, das Vergessen in eine Gedächtnistheorie zu integrieren; die Autorin sieht die Schwäche des wissenschaftlichen Diskurses darin, dass häufig das Gedächtnis mit dem Erinnerungsvermögen im Sinne eines Speichermodells ineinsgesetzt wird, was ja seit Aristoteles, der rhetorischen Tradition der Ars memorativa und Augustinus zu den festen Topoi gehört. In diesem System könne das Vergessen nicht als lebensnotwendige Kraft mitgedacht werden. Der Gewinn dieses interessanten Ansatzes wird aber dadurch geschmälert, daß Remscheid das Vergessen in einer Metaphorik zu fassen versucht, die eher vernebelt als aufklärt. Ausgehend von Nietzsches Aufsatz "Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" aus den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" (1874), in dem eine lebensgeschichtliche Relevanz des Vergessens für das Individuum postuliert wird, spricht die Autorin z. B. vom "Heilschlaf des Vergessens", der ein Wiedererinnern nicht ausschließt, also im strengen Sinne kein Vergessen ist, sondern sich philosophisch als Potenz im Gegensatz zum Akt verstehen ließe, oder bedient sich eines mechanistischen Bildes, dem zufolge "eine verstärkte Anstrengung des Erinnerns ein um so stärkeres Regulativ des Vergessens erfordert. Allein auf der Grundlage dieser Erkenntnis wäre der Erhalt eines Gleichgewichts sichergestellt, das sich durch den Mechanismus der 'strukturellen Amnesie' weiterhin selbst reguliert". Auch den Begriff der strukturellen Amnesie zu verwenden, ist hier nicht unproblematisch, meint er doch kein anthropologisch zu deutendes Regulativ, sondern - vereinfacht gesagt - die Umformung tradierter Formen und Inhalte durch einen veränderten sozialen Kontext bzw. die Anpassung an Hörer-/ Lesererwartungen. Abgesehen vom Gewährsmann Nietzsche wird nicht ersichtlich, warum das Vergessen unverzichtbarer Bestandteil von Remscheids anthropologischem Konzept des Gedächtnisses ist. Einleuchtender wäre hier der Anschluß an Maurice Halbwachs, der eine soziologische Deutung für inaktive Traditionen liefert; den Begriff Vergessen für diese Vorgänge zu verwenden, ohne ihn dahingehend begründet zu definieren, verwirrt und läßt wohl die strukturellen Eigenarten dieser Prozesse von ruhender und gegenwärtiger Vergangenheit nicht deutlich genug hervortreten.

Die Interpretation von Nietzsche, Bergson und Halbwachs erfolgt eng an den Texten und vermittelt ein gutes Bild der jeweiligen Positionen. Leider ist ihre Aneignung sehr affirmativ; ähnliche Probleme, welchen Stellenwert man den Autoritäten einzuräumen hat, wie oben am Beispiel Nietzsches skizziert, ergeben sich auch bei Bergson und Halbwachs. Insbesondere bei ersterem wären Begriffe (wie "Intuition") oder Modi wie die Aktualität vergangener Erfahrungswerte in der gegenwärtigen Wahrnehmung zu problematisieren. Um sie schlicht zu referieren und zu übernehmen, fehlt wohl die allgemein akzeptierte Plausibilität der Modelle und Konzepte.

Im letzten Teil der Studie, die Wolfram von Eschenbachs "Parzival" gewidmet ist, setzt sich die Autorin zum Ziel, "deutlich zu machen, wie das Bewußtsein für die Notwendigkeit der gleichgewichtigen Ausbildung der Gedächtniskräfte in die Dichtung Eingang finden kann und als literarisches Motiv ausgestaltet wird". Anhand dreier zentraler Aspekte (Motiv des "tumben toren", Verwandtschaftsmotiv und Sündenproblematik) arbeitet Remscheid folgendes heraus: "Parzivals Gedächtnis, das ihm als soziales Phänomen ein Leben in der Gemeinschaft ermöglichen sollte, ist als Folge einer defizitären Gedächtnisgenese nicht in der Lage, seinen Aufgaben gerecht zu werden". Sein Lebensweg bis zur Gralsburg führt aber zur "lebendigen Teilhabe an und positiven Durchdringung der kollektiven Gedächtnisse".

Warum ausgerechnet der Gedächtnis-Begriff für die Interpretation des "Parzival" sinnvoll ist, wird nicht ersichtlich. Problemlos könnte Parzivals Kindheit und Jugend in der Einsamkeit von Soltane und seine anschließende Entwicklung zum Ritter und schließlich zum Gralskönig als ein Prozeß bezeichnet werden, der von der sozialen Isolation zur defizitären standesgemäßen Erziehung (oder, moderner gesprochen, Sozialisation) hin zur religiös erwählten Vollendung führt. Neben der Ritterbürtigkeit kann auch die Fortführung der Genealogie und das rechte Verständnis des christlichen Glaubens, die für Remscheid die drei Ebenen des kollektiven Gedächtnisses im Parzival ausmachen, hinreichend mit dem Konzept der standesgemäßen Sozialisation erklärt werden; ein nicht unbedingt neuer Ansatz, so daß die Studie letztlich alten Wein in neuen Schläuchen präsentiert.

Gesellschaftliche Integration und Positionierung am rechten Platz der Ordo qua Erziehung zum Ausgangspunkt zu nehmen, hat zudem den Vorteil, sich näher an den Kategorien des mittelalterlichen Verständnisses und damit an dem Interesse der Rezipienten zu orientieren. So ist an der Studie grundsätzlich zu kritisieren, daß sie vollkommen ahistorisch argumentiert: ließe sich ihr Konstrukt des Gedächtnisses noch legitimieren, wenn es heuristischen und interpretatorischen Wert besäße, so entbehrt die Fallstudie doch der Berücksichtigung des historischen Kontextes, in dem und für den die Literatur entstand. Daß die Entfremdung des Parzival von seiner standesgemäßen Erziehung und Position und damit die Gefährdung herrschaftlichen Anspruchs, dynastischer Kontinuität und vorbildlicher Lebensführung mit dem abstrakten Zugriff über die "Gedächtnislosigkeit" erklärt werden muß, zeigt dies zum einen, zum anderen wird dies ersichtlich, wenn Remscheid auf den Zusammenhang von Gedächtnis und Dichter verweist: "kann die Aufgabe des Dichters nicht in einer permanenten Rückbesinnung bestehen; er muß zeitweilig vergessen, um sich überhaupt erinnern zu können". Das - mittlerweile deutlicher hervortretende - mittelalterliche Verständnis von Historia, Kontinuität, Rückverbundenheit mit legitimierender "Geschichte" kommt hier überhaupt nicht ins Blickfeld. Vielleicht muß die unhistorische Perspektive der Studie gar kein Manko sein; in der Meinung des Rezensenten fällt sie aber hinter die interessanteren Versuche einer Archäologie oder Re-konstruktion literarischer Kommunikation zurück.

Aus der Sichtung der Arbeit von Meike Remscheid ergeben sich einige grundsätzlichere Überlegungen: Beim derzeitigen Stand der Debatte stellt sich generell die Frage, ob es sinnvoll ist, neue Modelle des Gedächtnisses aus Konzepten der unterschiedlichen Disziplinen zu konstruieren und sie für den interdisziplinären Transfer und einzelne Deutungen fruchtbar zu machen oder ob es nicht dienlicher wäre, einige der zentralen Positionen kritisch zu durchleuchten. Daß beispielsweise die Thesen Maurice Halbwachs' in der Soziologie kaum rezipiert werden, sollte zumindest Anlaß zur methodologischen wie inhaltlichen Skepsis geben. Auch wenn Halbwachs nicht dezidiert historisch argumentiert, lohnt es doch, ähnlich wie im Fall von Norbert Elias, sein Werk in historischer Perspektive zu prüfen. Entscheidend dürfte dann sein, wie man sich die Implementation und vor allem die Transformation des "kollektiven Gedächtnisses" vorzustellen hat. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß laut Halbwachs das Individuum Teilhabe an mehreren gesellschaftlichen Formationen und damit deren spezifischen kollektiven Gedächtnissen hat, könnte sich der Verdacht bestätigen, daß der Begriff des Kollektiven durch die Zersplitterung in die jeweiligen sozialen Schichtungen und deren Normensysteme gleichsam ad absurdum geführt wird, zumindest auf kleine Formationen zu reduzieren ist; womit der kulturtheoretische Ansatz der Gedächtnisforschung wieder in der Zone zwischen Sozialgeschichte und Historischer Anthropologie angekommen wäre, aus der er wohl erwachsen ist und die nicht minder problematisch ist. Zur Zeit jedenfalls unterliegt die Forschung der Gefahr, um einige Kernbegriffe, methodische Handgriffe und Inhalte zu kreisen, ohne diese tatsächlich für die jeweiligen Gegenstände methodisch begründen zu können. Schließlich würde eine stärkere Beachtung von individualpsychologischen Ansätzen zum autobiographischen Gedächtnis, also wie sich das Gedächtnis "sein Leben schreibt", korrigierend auf die zur Zeit vorherrschende soziologisch und philosophisch inspirierte Forschung wirken, wenn auch nur mit einem begrenzten Wirkungsradius.

Prinzipiell ist es wohl vielversprechender, die Tragweite von historischen Gedächtnismodellen weiter zu untersuchen: wie stark insbesondere die von Meike Remscheid so gescholtene Speichermetapher (inklusive der inhärenten Ort- und Bildlehre) der Ars memorativa und der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hirnphysiologie auf Formen der Strukturierung und Vermittlung von Wissensinhalten gewirkt hat, wird zunehmend deutlich und erstreckt sich auf Phänomene wie die graphologische Organisation von Texten, Bildern und Textseiten, Schematisierungen von Wissen bis hin zum Projekt des enzyklopädischen (Universal-) Gedächtnisses. Wenn Meike Remscheid dann feststellt, daß die Gedächtnis-Theorie Halbwachs' "im 18. Jahrhundert noch nicht in gleichem Maße zu Bewußtsein gekommen zu sein scheint" und dabei auf Herder verweist, ist dies zum einen unerträgliche Besserwisserei und zum anderen verkennt es den Wert eines alternativen, historisch fundierten Zugangs zum "Gedächtnis".

Insgesamt ist es zu bedauern, daß die Verfasserin ihre profunden Kenntnisse über die theoretischen Modelle nicht nutzte, um diese in kritischer Durchsicht für den Diskurs neu zu gewichten, sondern letztlich doch die Theorie wieder einmal das Ergebnis einer Textuntersuchung vorwegnahm, auch wenn diese - wie in diesem Fall - scheinbar originell synthetisiert ist. An einem bloßen Ausschreiben von Halbwachs & Co. in Literatur- und Kulturwissenschaft kann niemandem gelegen sein.

Titelbild

Meike Remscheid: Zwischen Erinnern und Vergessen.
Projekt-Verlag, Bochum 1999.
220 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3897330261

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