Aus den Träumen eines Taugenichts

Martin Mosebachs Roman "Eine lange Nacht"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Weiss nicht, was ich ihm gesagt haben mag, / sagte das orakel, / aber er schien überhaupt nicht glücklich." Eines der letzten Gedichte von Robert Lax, ein Höhepunkt des soeben erschienenen Gedichtbandes "moments - höhe/punkte" (Pendo Verlag), erinnert daran, dass alle große Literatur etwas von einem Orakel hat. Sie spricht, kann sich aber selbst nicht deuten, ist ewig befragbar und gibt Antworten, die den Befrager niemals zufriedenstellen. Was zunächst wie ein Mangel erscheint, die Absenz des Glücks, erweist sich auf lange Sicht als ihr ewiges Faszinosum, als die endlose Interpretierbarkeit der Literatur.

Am Ende des Romans von Martin Mosebach ist ein Bruder dem anderen ein Orakel. Beim Legen von Patiencen kommen sich Hermann, der Ältere, und Ludwig, der Jüngere, nach Jahren der Entfremdung erstmals wieder nahe. Hermann ist krank und der Fieberschweiß steht ihm im Gesicht, als habe er gerade seinen Kopf aus dem Wasser gezogen. Mit diesem Fieber schwitzt er Wahrheiten aus für den Bruder, die ihm helfen sollen, sein weiteres Schicksal zu bestehen. Und Ludwig, der jedes Wort seines Bruders begierig aufsaugt, und sei es auch unter dem Primat der Unverständlichkeit, schöpft Hoffnung für ein Leben mit Bella bis ans Ende seiner Tage.

Damit ist hoffentlich noch nicht zuviel gesagt über die Fabel dieses einzigartigen Buches, dessen Personen und ihre Konstellationen man ganz rasch erzählen könnte und damit doch das Entscheidende verfehlen würde. Aber was ist schon das Entscheidende an einer Geschichte, die von einem gescheiterten Jurastudenten erzählt, der sich - nicht zuletzt dank seiner tüchtigen Sekretärin Bella und ihres Mannes Fidi Lopez - zum erfolgreichen Geschäftsmann mausert und am Ende mit der Frau glücklich wird, die er liebt?

Diese Frage stellt sich auch Mosebachs Buch: Von welcher Art sind eigentlich die "schicksalhaften Ereignisse", die in den alten Trauerspielen zur Katharsis geführt haben, was sind die Zutaten, "die wie göttliche Donnerkeile in das Leben geworfen wurden und dort tödliche Verletzungen und einen das ganze Leben füllenden Schmerz verursachten"? Das Frappierende scheint doch zu sein, dass sich alle große Literatur auf eine ganz banale Fabel reduzieren und mit einem Satz oder auch nur einem Wort ("Ödipus") umreißen lässt, dass sie einfach ist und gleichwohl hinreichend Stoffliches bietet für eine "ergreifende Erzählung".

Was nun dieses - pardon - Stoffliche angeht, so soll man sich vom Banalen nicht täuschen lassen: Wenn ein Autohändler (wie in Christoph Heins Roman "Willenbrock"), ein Bettenverkäufer (wie in Michael Kumpfmüllers Roman "Hampels Fluchten") und ein Vertreter für pakistanische Billighemden (wie in Martin Mosebachs Roman "Eine lange Nacht") ins Zentrum der dargestellten Welt vorrücken und von dort die Aschenbach-Figuren vertreiben, die in sich den Konflikt von Bürger und Künstler auszutragen hatten, so muss das nicht bedeuten, dass sich die Literatur von ihrem Anspruch verabschieden würde, Totalkunst zu sein, ganz im Gegenteil.

Und so hat es durchaus Thomas-Mannsche Qualitäten, wenn Mosebach anhand seiner Figur Fidi Lopez die Wonnen der Gewöhnlichkeit beschreibt, wenn er, der Autor, der im literarischen Patience-Spiel auch die niedrigste Karte zu respektieren weiß, jenen Fidi Lopez aus seiner südlichen Bellezza und seiner treuherzigen Biderbheit herausführt und zu einem Vetter Tonio Krögers erhebt, der den kalten Dreh dieser Geschichte herbeiführt wie der gute Novellist den Wendepunkt seiner Geschichte. Wenn Mosebach die milde Überheblichkeit, mit der Ludwig Drais auf Lopez herabschaut wie auf einen nützlichen Idioten, mit Hilfe einer raffiniert gelegten Karte (eines Manschettenrings) bestraft und in ein beißendes Schuldgefühl verwandelt, dann wird bedeutende Erzählkunst sichtbar. Ganz ähnlich ergeht es dem Leser mit Hermann, der als gescheiterte Existenz aufgebaut wird, den sein Bruder Ludwig schon gedanklich abgeschrieben und entmündigt hat, und der dann doch noch zu seinem Recht kommt, ganz am Ende des Buches, eine Nebenfigur mit katalysatorischer Funktion. Respekt verdient Martin Mosebachs Vermögen, zu seinen Figuren ein Verhältnis zu gewinnen, das von Nähe und Distanz gleichermaßen geprägt ist. Mag Ludwig Drais, seine Hauptfigur, auch überheblich sein, der Erzähler ist es nie, sondern sieht durchaus, dass auch die billige Hausiererware mit ihren schreienden Farben und Mustern die Welt verschönern kann.

Und so wie der Teppich auch das Textgewebe: Das Stoffliche darf durchaus banal sein, doch an die Seite dieses banal Stofflichen (mit seinen wohlgesetzten Leitmotiven) muss das Gestalterische treten. Wie jeder gute Erzähler nimmt sich Mosebach Zeit, seine Figuren zu modellieren: die fast ätherisch wirkende Bella, die in ihrem ersten Job eine erfreuliche Geschäftstüchtigkeit an den Tag legt, "lernend und gleichzeitig mit ihrem Mut und ihrer Kühnheit schon in Gebiete vorgreifend, die ihr eigentlich noch verschlossen" sind. Oder jenen etwas schmuddeligen Pakistani, Mister Khan, der einem Imperium von Neffen vorsteht und der etwas von der Kunst des Handlesens zu verstehen scheint. Seine Prophezeihung, dass das Böse in das Leben von Bella treten werde (und damit in das Leben von Ludwig und Fidi), erfüllt sich nur allzu bald. Viele andere Figuren könnten hier genannt werden, von den zahllosen, scheinbar ganz unwichtigen Dingen ganz zu schweigen. Da ist zum Beispiel die Stubenfliege, die offensichtlich die Funktion hat, Ludwigs Aufmerksamkeit vom Gespräch mit seinem Gönner, dem alten "Onkel" Twillebeeckx, ab- und auf eine schöne Remininiszenz umzulenken. Das Wirtschaftsleben scheint von Onkeln und Neffen geradezu dominiert zu sein, "dynastischer Wille" oder Unglück? Geschickt jedenfalls folgt die Perspektive den einzelnen Figuren, kann aber auch sacht über ihnen schweben und die Perspektive der Geschichte forcieren, die vermutlich Ende der 70er Jahre und natürlich in Frankfurt situiert ist, wie alle Romane Martin Mosebachs. Doch keines dieser Bücher erhebt den Abspruch, autobiographisch gesättigt oder durch Erfahrung beglaubigt zu sein. Gerade "Eine lange Nacht" führt eindrucksvoll vor und sagt es auch explizit, dass Erfahrung und Erfindung eine "Pseudoalternative" darstellen, insofern auch die Erfindungsfähigkeit in der Erfahrung wurzelt, bei Träumern ebenso wie bei Taugenichtsen.

Titelbild

Martin Mosebach: Eine lange Nacht. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2000.
600 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3351028954

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