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Der 5. Band des Periodikums "Literatur in Westfalen" ist erschienen

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man ist ganz erstaunt zu sehen, daß diese Leute, die so viele Dinge beschrieben haben, nur gesagt haben, was jeder schon wußte; daß sie am anderen Ende der Welt nur wahrzunehmen gewußt haben, was sie hätten bemerken können, ohne ihre Straße zu verlassen." - Mit diesen Worten kommentiert Jean-Jacques Rousseau den weitgereisten, kosmopolitischen Provinzialismus der zeitgenössischen Reiseberichterstattung, die auch in fremden Gefilden die eigene Kirchturmspitze nie aus den Augen verliert. Nicht weniger stimmig freilich ist der Umkehrschluss, dass es auch in der oft als bodenständig und bewegungsstarr verunglimpften Provinz erstaunlich weltläufig zugehen kann.

Dass der Satz von der Entgrenzung des territorialen Bewusstseins - nicht als Verzicht auf regionale Identität verstanden, sondern als deren unverstellte Reflexion - auch und in erster Linie für die regionale Literaturmittlung zutrifft, davon kann man sich anhand des 5. Bandes des vom Droste-Forscher Walter Gödden herausgegebenen Periodikums "Literatur in Westfalen" einmal mehr überzeugen. Hier erfährt der Leser nicht nur etwas über wichtige Autoren, sondern kann sich vor allem auch über die Institutionen informieren, die sich, zusammengschlossen in Seilschaften und Kooperationen, der Pflege, Erforschung und Verbreitung der westfälischen Literatur verschrieben haben.

Einen guten Überblick über diese Bestrebungen bietet Christian Metzlers Auswahlbibliografie zur Regionalliteraturforschung der 90er Jahre. Studien, die sich mit Industriedichtung und Mundartlyrik beschäftigen, sind hier ebenso vertreten wie Arbeiten, die den regionalen Eigensinn und seine schmerzvolle Destabilisierung durch Vertreibung, Flucht und Heimatverlust untersuchen. Andere Arbeiten nähern sich auf analytischem Wege der widerspruchsvollen, aber gerade deshalb so ungemein lebendigen Beziehung zwischen "Peripherie" und "Zentrum".

Die so gewonnenen Einblicke lassen sich anhand des Artikels zum Aufgabengebiet der Literaturkommission für Westfalen (LiKo) mit Sitz in Münster vertiefen. Die LiKo realisiert zahlreiche literaturwissenschaftliche Projekte (vor allem Droste-Forschung), vergibt Druckkostenzuschüsse, betreut den Zusammenschluss der literarischen Gesellschaften Westfalens (ALG) und lobt alle zwei Jahre den mit 25.000 Mark dotierten Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis aus. In Vorbereitung befinden sich neben diversen Internet-Projekten u. a. ein Forschungsvorhaben "Jüdische Schriftsteller in Westfalen", ein Dokumentarfilm zur westfälischen Literatur und eine Literatur-CD. Darüber hinaus versucht die LiKo, das mäandernde Etwas "westfälische Literatur" in dem auf vier Bände angelegten und den Zeitraum von 1750 bis 1950 (Geburtsjahrgänge der behandelten Schriftsteller) umfassenden "Westfälischen Autorenlexikon" in den Griff zu bekommen.

Zusammenführungsarbeit leistet auch der "Westfalenspiegel", auf dessen Seiten sich bereits seit 1951 brennpunktartig verdichtet, was kulturell und kulturpolitisch zwischen Rhein und Weser vor sich geht. Zahlreiche Autoren verdienten sich mit der Mitarbeit an der Zeitschrift ihr erstes Zubrot, wie sich überhaupt viele Schriftstellerkarrieren anhand des "Westfalenspiegels" von ihren Anfängen an verfolgen lassen. Zu ihnen gehören u. a. Erwin Sylvanus und Ernst Meister. Empörte Reaktionen der Leserschaft lösten im Dezember 1970 Josef Redings "Krippenrede für die 70er Jahre" aus, die als weihnachtliche Verhöhnung Jesu ausgelegt wurde. Dazu passt unter leicht verschobenem Blickwinkel, dass der "Westfalenspiegel" seit seinen Anfängen auf "weltoffenen" Journalismus statt auf Folklore setzt. "Der Heimatgedanke wird zwar herausgestrichen", sagt Gödden, "aber aufgeschlossen interpretiert".

Entschieden modern und zeitgemäß präsentiert sich die Regionalliteraturforschung auch im Beitrag Wolfgang Delseits, der den Internetauftritt westfälischer Literatur untersucht. Zu den aus der Sicht der westfälischen Forscher wichtigsten Websites gehören die Seiten des Westfälischen Literaturbüros in Unna, der LiKo und der ihr symbiotisch verbundenen Nyland-Stiftung Köln. Unter der letztgenannten URL findet sich in der Rubrik "Forschungen" eine Übersicht über abgeschlossene, laufende oder projektierte Arbeitsvorhaben, die in der Art einer Kontaktbörse den Informationsfluss zwischen interessierter Öffentlichkeit und Forschung bzw. forschungsintern befördern sollen. Die bisherigen Einträge beweisen, dass dieses Angebot auf zahlreiche Forscher verlockend wirkt.

Zu den Autoren, die in diesem Band vorgestellt werden, gehören der militante Anwalt des politischen Katholizismus Johann Hermann Thommes, der schreibende Nationalökonom Georg Weerth, der Dichter Wilhelm Stolzenburg, die ihrerzeit nicht unumstrittene Josefa Berens-Totenohl und ein "Seiltänzer des Wortes", der Gegenwartsautor Norbert Johannimloh. Frank Müller informiert über den "westfälischen Untergangshofer" Ulrich Horstmann. Die Berichte beschäftigen sich mit den literarischen Hinterlassenschaften Julius Harts und Hans Dieter Schwarzes, mit einem Jubiläum zu August Heinrich Hoffmann von Fallersleben sowie dem gegenwärtigen Stand der Ernst Meister-Forschung. Iris Nölle-Hornkamp beantwortet die Frage nach der Nutzung und Auswertung von Nachlässen. Vorträge zu Max von der Grün, Sarah Kirsch und der Droste beschließen den Band.

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Walter Gödden: Literatur in Westfalen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
329 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 389528288X

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