Zärtliche Invektiven
Erlesene Naturlyrik von D. H. Lawrence
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Birds, Beasts and Flowers", schon der Originaltitel der 1923 erschienenen Erstausgabe war irreführend. Denn die Naturlyrik macht nur einen Teil dieses herrlichen Gedichtbandes von D. H. Lawrence aus. Alle Texte sind wild wuchernde Langgedichte, denen man ihre Entstehungszeit mehr oder weniger deutlich anmerkt ("Wie gern wär ich ein Bolschewist"). Sie gruppieren sich zu Zyklen, die wiederum Titel tragen ("Früchte", "Bäume", "Blumen", "Die Tiere der Evangelisten", "Geschöpfe", "Vögel", "Tiere" und "Geister"), die gegenüber dem, was sie inhaltlich transportieren, zu wenig bezeichnen.
Der Autor wird seine Gründe gehabt haben, seinem Buch den Gestus des Harmlosen zu verleihen, denn für die Gattung Mensch und ihre Ideen ist diese Dichtung geradezu beleidigend. Und so kann es nicht Wunder nehmen, dass das lyrische Ich, die Dichterfigur, sich gefährdet sieht: als jemand, der gesteinigt werden soll ("Pfirsich"), als einer, dessen Wort bezweifelt wird ("Granatapfel"). Immer neue Rollen, Farben und Funktionen kann dieser lyrische Sprecher übernehmen: er ist ein "blinder Simson" und Bilderstürmer ("Der Revolutionär"), ein misanthroper Pyromane, bereit, die "wurmichte Menschenmassigkeit" in Brand zu stecken, ein Orpheus auf den Pfaden der Unterwelt. Er imaginiert sich als Zarathustra, auf einem Felsen sitzend, der "trüben Ewigkeit" spottend und mit dem "Rätsel der Gleichheit" hadernd ("Kahle Feigenbäume"). Zugleich ist er ein Matthäus, ein "erhöheter" Menschensohn und Evangelist, sowie ein lüsterner Linné, an allen Früchten dieselbe "Wölbung" und dieselbe verheißungsvolle "Spalte" oder "Ritze" wahrnehmend. Sein Voyeursblick gilt der "zweiklappige[n] Rundheit" des Pfirsichs ebenso wie dem "violetten Schlitz" und den "feuchte[n] Scharlachlippen" der Feige.
Die Arbeit des Dichters liegt hier irgendwo zwischen Cunnilingus und Wortmagie, und man kann diese Dichtung als ein Hohelied auf den Rosenkohl und das "schlichte Gras" verstehen, doch ist sie weit mehr. Denn jedes naturlyrisch anmutende Kapitel dieses Bandes enthält auch vehement politische Dichtung, wie zum Beispiel das Gedicht "Der Revolutionär" im Zyklus "Früchte", wo Denkmäler als "menschliche Säulen" besungen oder als bleiche, Stein gewordene, erstarrte Autoritäten verdammt werden. Manche Pflanzen erscheinen dem Sprecher als kriegsstarrende Waffen ("die rostigen Schwerter der Mandelbäume") oder als Rotschmuck der Sozialisten ("Hibiskus- und Salbeiblüten"), ihre Gattungsgeschichte spiegelt grausame Stationen der Menschheitsgeschichte wider ("Bäume leiden, wie Völker, lange Epochen hindurch").
Griechische und christliche Mythologie steuern aus ihrem Bildervorrat Versatzstücke bei, und so wirkt die dargestellte Welt ebenso erlebt wie erlesen. Auch das dargestellte Bestiarium ist nicht einfach beschauliche Tierwelt, sondern repräsentiert Prinzipien wie die "Nemesis" und das "Kreuz des Geschlechts". Der Elefant, der den "Prince of Wales" auf seinen Schultern trägt, hat "sein kleines böses Auge" auf den Erzähler gerichtet, und Augen sind bekanntlich Spiegel der Seele, sind Sitz von Kälte, Hohn und Rebellion, von Angst oder Sehnsucht und Erwartung. Wolfgang Schlüters eindrucksvolle Übertragung weiß sehr gut den häufig abrupten Registerwechsel jener "zärtlichen Invektiven" nachzuvollziehen, die den "Dialog" des Menschen mit der Tier- und Pflanzenwelt bestimmen: "Demokratisches Terrierchen, dreckfressende kleine Sau". Der rege Austausch der Signifikanten, den Mensch und Natur hier zu pflegen scheinen - die Tierwelt "gleich[t] einem Tintenklecks", die Worte ähneln den leeren Samenkapseln der Zypressen, "die ihren Laut ausgestreut" haben - wird von dieser deutschen Premiere erstaunlich mühelos bewältigt.