Möglichkeitssinn

Die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein Sammelband zur Literatur des 20. Jahrhunderts

Von Alexander FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch einen Möglichkeitssinn geben. [...] Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen. [...] So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist." (Robert Musil)

Und das, was nicht ist und trotzdem gedacht werden kann, was ist das, Illusion? Ausgeburten der Einbildungskraft? Schimärisches Bild ohne Rahmen? Oder Wunschtraum im Kleide wahnhafter Utopie, die ihren Erzeuger wie eine Seifenblase umhüllt, um ihn fort in ein fernes Wolkenkuckucksheim zu tragen?

Womöglich sind es vielleicht doch keine Gebäude aus Dunst und Nebel für Träumer und sich betrügerisch verbreitende Vögel, sondern Aussichtspunkte, von denen aus die Welt viel übersichtlicher erscheint oder einfach nur ganz anders aussieht und Dinge gesehen werden können, die sich sonst immer nur hinter dem Horizont zutragen. Und was man dort zu sehen bekommt, trägt verschiedene Namen: Vorahnungen, Utopien, Visionen, oder Befürchtungen, Wünsche und Zweifel? Was ist dann aber deren Unterschied zur bloßen Phantasie? Was ist das überhaupt: Phantasie?

Diese Frage beschäftigt die Geister schon recht lang und all die Pfade, die man auf der Suche nach einer Antwort eingeschlagen hat, werden auch in diesem Buch nicht zusammengeführt. Dies ist auch nicht der Anspruch der Autoren gewesen. "Möglichkeitssinn", der Titel dieses Buches, ist ein Begriff aus dem traktatartigen 4. Kapitel Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", der in diesem literaturwissenschaftlichen Band geradezu als paradigmatisch gilt und als theoretisches Sprungbrett in die verschiedenen Erscheinungsformen der Phantasie und Phantasik der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts dient. Jedoch nicht, weil sie souverän an den Normen und Konventionen des Wirklichkeitsverständnisses rüttelt, sondern vor allem, weil sie so irritiert, soll die Phantastik Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung werden. "Sie erzeugt ein Schwanken, ein Schwindelgefühl", heißt es im Klappentext. "Das aber vergrößert den Lektüregenuss und schafft die faszinierenden Rätsel, Labyrinthe, Warnungen und Provokationen vom jungen Kafka bis zum neuesten Pynchon."

Die literarische Phantastik: "Mal soll sie eine Stileigentümlichkeit charakterisieren", schreibt Brittnacher - einer der elf Autoren dieses Bandes - in seinem Essay "Vom Risiko der Phantasie", und gelegentlich tauche sie auch als texttheoretische Kategorie auf, dann gelte sie wieder als eine Weise, mit hoher prognostischer Kraft die Welt zu deuten, zweifellos aber auch als die ästhetische Verarbeitung einer psychotischen Welterfahrung, ebenso wie die einer neurotischen Selbsterfahrung, wie es andere Aufsätze hervorheben. Dabei wird die Phantastik nebenbei auch noch als Gattung behandelt und umfasst nicht selten benachbarte Genres wie Fantasy, Utopie, Science Fiction, aber auch Kriminalromane und Detektivgeschichten, vor allem da, wo diese Bereiche miteinander zu verschmelzen beginnen. "Dann wieder handelt es sich um eine eher wirkungsästhetische Kategorie, die sich an Texten zu bewähren habe, denen vornehmlich an der Verängstigung ihrer Leser liegt. Und schließlich, auch dies sollte erwähnt werden, durchläuft die Verwendung des Begriffs sämtliche Tonlagen des philologischen Urteils von anerkennend bis verwerfend."

Wie soll dann der Begriff phantastisch verstanden werden, der doch jedem Menschen geläufig ist, aber bei genauerem Nachdenken eine unerwartete semantische Explosion verursacht? Ist Phantastik ein Korrelationsbegriff wie 'gut' und 'böse' es sind? Was ist dann ihr Korrelat: wahrscheinlich, wirklich oder realistisch? Ist sie nur die Lust am Sonderbaren, die sich in der Enge des Geistes und des Gefühls einnistet, ein Gedankenmode vorwegnehmendes Gut, das in der Romantik zur universellen Potenz erklärt wurde und dessen Sinnbild der Flügel ist? Ein " ideales Fortbewegungsmittel, wenn man auf der Erde nicht mehr weiter kommt", wie Gerhard Bauer, einer der beiden Herausgeber, feinsinnig bemerkt.

Nicht selten versteht man die Phantastik als die Ausweitung des Wirklichen und Vorbereitung des Noch-Nicht-Wirklichen, wie Bauer am Beispiel von Evgenij Zamjatins utopischem Roman "Wir" zeigt, in dem nicht nur die Natur "mit ihren unordentlich keimenden und schwärenden Prozessen hinter eine undurchdringliche Gläserne Wand verbannt", sondern auch von den Beschützern des fiktiven Einheitsstaates ein landesweites Programm auferlegt wurde, mit dem Ziel, sich der störenden Phantasie operativ zu entledigen, um noch gar nicht vergangene Vergehen zu verhindern. In einem Staat, in dem es nur einen akzeptierten funktionierenden Weg gibt, den der Ideologie, ist das Ersinnen von Möglichkeiten, sogar schon die Reflexion auf Vergangenes ein Vergehen, das potentiell immer in jeder Person angelegt ist, solange in ihr noch individuelle Wünsche und Sehnsüchte schlummern.

Zum Thema der nie ganz gelingenden (Selbst-)Auslöschung der Phantasie schreibt Bauer: "Wenn das Neue, Denkbare, technisch fast oder schon Mögliche die Menschheit bedroht, statt beglückt, ist das Ausmalen selber, die Vorwegnahme des womöglich Kommenden kein unschuldiges Geschäft mehr. Es steht selbst in einer bestimmten Relation zu dem vorhergesehenen Unheil. Womöglich trägt es zu der Denkart bei, die die beklagten Zustände herbeigeführt hat."

Andererseits kann man die Phantastik auch verstehen als Unerklärliches, aber Vorstellbares, was sie in traditioneller Weise mit der Magie verschwistert, sogar wenn man beide als technisch funktionierende Verfahren versteht, in denen festgelegte Regeln unfehlbar bestimmte Ereignisse bewirken. Die Wissenschaften und die Vernunft erst machen die Magie irrational. Die Magie verzaubert und die Wissenschaft entzaubert, vor allem alles Mystische. Robert Stockhammer, ebenfalls Herausgeber des Bandes, der sich unter anderem mit Parapsychologie und Magie in der Literatur befasst hat, führt einen Herren an, der meint, die Wissenschaft sei eine echte Teilmenge der Magie. Verhält sich dann die Wirklichkeit zur Phantasie vielleicht auch so, wie die Wissenschaft zur Magie: Als eine Teilmenge? Aber diese Teilmenge dehnt sich immer mehr aus und drängt das, was noch immer unerklärlich bleibt, zusehends an den Rand. "Wo können in dieser entzauberten Welt sich Zauberer und Zauberinnen noch verstecken, um zu überleben", fragt Stockhammer und mit etwas Phantasie könnte man behaupten: in dieser Frage, denn es erscheint ihm naheliegend, dass die Magie in der Dichtung ihr Asyl gefunden hat, wo sie sich mit der Phantasie auf Nachbarschaft begibt, um gemeinsam der Behauptung zu misstrauen, dass alle Dinge im Prinzip durch wissenschaftliche Berechnung beherrscht werden können.

Ob man nun in der Phantasie und der Phantastik das Denkbare, aber Unwahrscheinliche finden will, eine Halluzination oder Projektion einer Spiegelwelt, die gelegentlich zum Faktum mutieren kann und dabei die Wirklichkeit verschlingt - vielleicht erzeugt sie dabei eine neue Wirklichkeit, die vormals noch als unrealistisch gelten musste. Vielleicht erzeugt sie dabei eine neue Wirklichkeit, die vormals noch als unrealistisch gelten musste. Oder ob man in ihr nur das Unvorstellbare und Widersprüchliche sieht, das sich zwischen dem Vollkommenen und dessen Gegenbild ansiedelt, um ihren Raum zur Ausgestaltung von Alternativen in allem zu finden, was dem Intellekt und dem Gefühl anstößig ist, so ist es dessenungeachtet auch dem Vorhaben nicht hinderlich, zu zeigen, wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist. "Die Realität selbst ist heute hyperreal. Unter diesen Bedingungen ist folglich die Irrealität nicht mehr die des Traumes oder des Phantasmas, sondern die halluzinierende Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst", schreibt Rincón in einem Aufsatz über Jorge Luis Borges, und hebt schließlich drei Aspekte der neuen Bestimmung des Phantastischen hervor: erstens "das Phantastische weder auf eine Gattung noch auf die Arbeit mit Bildern oder Repräsentationen zu beschränken"; zweitens "die Akzentuierung der Art von Faszination, die das Phantastische beim Leser oder Zuschauer weckt" und drittens verwandele die Frage nach der Wahrheit der Wirklichkeit in der heutigen absolut medialisierten Welt das Phantastische in eine Schlüsseldimension dieser Zeit, in der uns die Philosophie wie auch die Wissenschaft (vor allem die moderne Hirnforschung) klarmacht, dass die Wirklichkeit nie das ist, wofür man sie für gewöhnlich hält, wenn alles, was man in der Gegenwart wahrnimmt, schon längst einige Sekunden in der Vergangenheit liegt. Und dass selbst die Wahrnehmung nur wie ein Puzzlespiel funktioniert, "ist eine generelle Einsicht, die Joyce uns immer erneut nahezubringen versucht: Ereignisse und deren Wahrnehmung decken sich weder zeitlich noch substanziell, können daher getrennt voneinander dargestellt werden, müssen dies sogar, insoweit der Text einen Nachvollzug realer Wirklichkeitserfahrung anstrebt. Dies heißt aber zugleich: das postulierte Ereignis an sich - sofern unter diesen Prämissen davon überhaupt noch die Rede sein kann - entsteht erst durch einen Konstruktionsakt seitens des Lesers, der dann freilich auch alle damit verbundenen Risiken des Missverstehens in Kauf nehmen muss", wie Füger in seinem Aufsatz über Modalitäten des Wirklichen in James Joyces "Ulysses" schreibt. Dies bedeutet, dass die Dialektik zwischen Phantasie und Wirklichkeit kein Dualismus mehr ist, sondern nur noch eine verschwimmende Grenze, die nur durch eine Annahme gezogen wird. Der Begriff 'Wirklichkeit' bezeichnet nicht das was wir sehen, sondern die Perspektive, mit der wir es [zu] betrachten [haben]. Das einzig phantastische wäre dann nur noch darin zu finden, dass man glaubt, die Wirklichkeit sei etwas Festes, etwas Bestimmtes. Die Moderne hat das Verhältnis zwischen phantastisch und wirklich in ihr Gegenteil verkehrt - oder waren es die Dichter und Schriftsteller der Weltliteratur, die natürlich nicht alle in diesem Band berücksichtigt werden konnten?

Phantastisch. Das sind nicht nur die ausgewählten Werke der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, die in "Möglichkeitssinn" Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurden, sondern das sind auch die Interpretationen und Aufsätze von den Autoren dieses bemerkenswerten Bandes. Denn es handelt sich dabei nicht nur um triste philologische Wortkauerei, sondern um einen Exkurs in Philosophie, Poetik, Ästhetik und Geschichte, in dem der wissenschaftliche Anspruch, die Leidenschaft und natürlich die Phantasie gleichermaßen Berücksichtigung finden - immer der Frage geschuldet, wo dabei der Mensch steht. Gerhard Bauer, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und Robert Stockhammer, habilitiert im Studium der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaften, derzeit Gastdozent an der FU Berlin, haben mit "Möglichkeitssinn" einen Band herausgegeben, der nicht nur für all jene sehr fruchtbar ist, die ein näheres oder bestimmtes Interesse an der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit phantastischer Literatur der Moderne pflegen, es ist auch jedem zu empfehlen, der einen tiefgründigeren Zugang zur Phantastik sucht, als nur über den Schauer oder die Faszination, die sie zu erwecken vermag.

Nun wird nicht jeder der 15 Aufsätze allen Geschmäckern genügen. Nicht jedes Problem, das dort näher betrachtet worden ist, wird jedermann interessieren können, aber so unbestimmt, wie diese komplexe Wissenschaft sich zwischen Philosophie, Ästhetik, Psychologie und Sprachwissenschaft einordnet, so vielfältig und faszinierend sind ihre Theorien und so bunt sind auch hier die Untersuchungen über - der Untertitel verrät es - die "Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts", ohne dabei an Prägnanz zu verlieren. Die Aufsätze sind gut sortiert. Sie verweisen an sinnvollen Stellen aufeinander, was die Orientierung für den nach der Lektüre erst einmal entgrenzten Leser sehr erleichtert, denn wer den Möglichkeitssinn entdeckt, findet neben Faszination auch zugleich immer mit den Schrecken, der aber nicht verschreckt, sondern herausfordert, aufregt und verzaubert.

Um das Schlusswort von Gerhard Bauer selbst sprechen zu lassen: "Eine Summe wäre vielleicht zuviel verlangt."

Aber sie trägt in jeder Hinsicht ein positives Vorzeichen.

Titelbild

Gerhard Bauer / Robert Stockhammer: Phantasie und Phantastik in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Möglichkeitssinn.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1999.
270 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3531133500

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch