Konspirative Lektüre
Drei kurzweilige Bücher über den Umgang mit Kindern - und eine Anleitung zur Erziehung von Eltern
Von Frank Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Es gibt Dinge, die nur Menschen wissen, die kleine Kinder haben." Wem dieser Satz aus Axel Hackes "Kleinem Erziehungsberater" auch nur einen Augenblick lang zu denken gibt, der zappelt schon an der Leimrute der Identifikation. Denn die Botschaft des schön illustrierten Bändchens weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Slogan eines der zur Zeit erfolgreichsten Sendeformate auf: Du bist nicht allein. Wer Vater oder Mutter ist, der weiß automatisch auch um die unvermeidlichen Weckrufe am Sonntagmorgen, das nervtötende Gequengel an der Supermarktkasse, die über Kindergejammer durchwachten Nächte oder die Fron von Urlaubsreisen ("Wann sind wir endlich da?").
Die Erfahrungsprotokolle des gelernten Journalisten Hacke sollen dem Leser keine pädagogische Entscheidungshilfe vermitteln, sondern vor allem therapeutische Erleichterung verschaffen. Hacke gelingt dies in höchst unterhaltsamer Form. Marie, das jüngste der drei Kinder, verursacht binnen kurzem ein Schlafdefizit von 421 Stunden, der töchterliche Schnullerschwund veranlasst den übermüdeten Vater gar zu verschwörungstheoretischen Spekulationen. Und Anne legt eine schonungslose Offenheit an den Tag, wenn sie auf dem Rasen ein Rechteck mit Zweigen absteckt: "Das ist ein Grab für dich." Die durch solche Überspitzungen erzielten Wiedererkennungseffekte sind beabsichtigt und offenbar so beträchtlich, dass viele Leserinnen und Leser das Buch als realitätsgetreues Abbild ihres Kinderhaushalts empfinden müssen. Kein Wunder also, dass der 1992 erstmals aufgelegte Band innerhalb von acht Wochen 40.000 Mal über die Ladentheke ging. Trotzdem müssen derartige Verkaufszahlen nachdenklich stimmen, besteht Hackes Nachwuchs doch aus drei ausgemachten Satansbraten. Die Kinder sind laut, egoistisch, fordernd. Der Vater zweifelt daran, wer die Autorität im Haus besitzt, reagiert mit Hilflosigkeit, ist überfordert. Ist der Weg in die Elternschaft also eine Sackgasse? Keineswegs, berücksichtigt man die paradoxe Eigenlogik des Umgangs mit den kleinen Plagegeistern. Eltern erleben den Alltag mit ihren Kindern als chaotisch, anstrengend und verwirrend, möchten aber gerade diese Erfahrung um nichts in der Welt missen.
Mit zwei Zeilen umriss Wilhelm Busch das Verhältnis der Witwe Bolte zum Sauerkohl: "[...] wofür sie besonders schwärmt, wenn er wieder aufgewärmt". Eine ähnliche Vorliebe für Aufgewärmtes hegt offenbar die Fernsehfrau und Autorin Amelie Fried, die mit "Neues von den Störenfrieds" an den Erfolg des Vorläufers "Die Störenfrieds" anknüpfen will. Trostreich wie ein Erfahrungsaustausch unter Gleichgesinnten soll auch dieses Buch wirken. Das meiste aus den Geschichten um Leo und Paulina haben Hackes Kinder vorgelebt, weshalb wir neben den oben genannten noch einige weitere typische Kinderthemen überspringen können. Etwa den vereitelten Restaurantbesuch, die kindliche Umgestaltung des elterlichen Wohnraums oder die mit Sorge beobachteten Fortschritte der Sprösslinge zu größerer Selbständigkeit. Wenig originell sind die zahlreichen Dokumente kindlichen Eigensinns, ihrer sprichwörtlichen Naivität und ihres sprachlichen Erfindungsreichtums. Auch Frieds Kinder, wir wollen es glauben, haben eine blühende Fantasie, sind frech und mitunter herrlich überdreht. Was hier tatsächlich ,stört', ist der Nachdruck auf dem ach so 'goldigen' Verhalten der Kinder. Es ist Weihnachtszeit, auf dem Tisch steht ein Teller mit Weihnachtsplätzchen. Die 2 1/2jährige reckt sich, versucht über die Tischkante zu sehen und fragt: "Hammer noch einen Liebkuchen?" Kindheit ist bei Fried nur als romantisiertes Idealbild existent, angesiedelt innerhalb einer gesellschaftlich neutralen Schutzzone, abgeschottet von Sorgen und Alltagsnöten.
Die Autorin ist eine priviligierte Mutter, und das nicht nur, weil ihr Mann Peter sie in der Erziehungsarbeit weitgehend entlastet. Sie gönnt sich dann und wann ein "tolles Teil", lümmelt sich auf dem Designersofa der Freundin herum, und irgendwo in dem geräumigen Einfamilienhaus steht der vierundzwanzigbändige Brockhaus. Selbstverständlich könnten sich die Frieds eine schicke Designerküche leisten, trotzdem hat man sich für etwas Preiswertes aus Fertigteilen entschieden. Der Kinder wegen. Das ist gut zu wissen, denn so kann man von Hackes sympathischem Vorschlag, man solle sein Buch am besten gleich drei oder vier Mal kaufen, damit er seine Kinder versorgen und sich selbst ein warmes Essen leisten könne, im Fall Fried getrost Abstand nehmen. Gleichwohl dürfte Frieds Rechnung aufgehen, denn ihre Themen decken mit einer verdächtigen Vollständigkeit sämtliche Belange junger Familien ab. Neben Geschwister-Streit, Sauberkeitserziehung, "Fernsehen - nein, danke!" und der unvermeidlichen Geschlechterrollenproblematik werden Fragen wie die nach der Weiblichkeit der Mutter oder nach der Neubestimmung der Partnerschaft aufgeworfen. Eigene Erfahrungen verschmelzen unter der Hand mit Erziehungstipps aus der einschlägigen Ratgeberliteratur.
Gehört Hacke, Jahrgang 1956, einer Generation an, die nicht davor zurückschreckt, den Abgesang auf die pädagogischen Konzepte der 68er ironisch zu affirmieren ("Wir wurschteln uns so durch"), so gestattet sich Fried, die Jüngere, gerne wieder ein wenig flache Sozialkritik. Nein, nicht alle Kinder atmen "saubere Luft" und haben "genügend Platz zum Spielen". Im Nachwort ist unheilsschwanger von der Kinderfeindlichkeit unserer Welt die Rede. Nichts ist so unerträglich wie die Suche nach einem höheren Sinn der insgeheim als öde und inhaltsleer empfundenen Mutterschaft. Durch ihre Kinder, so Fried, sei sie sich der "Endlichkeit [ihres] Daseins" bewusst geworden.
Welche Herausforderungen gibt es heute noch für echte Männer? Flugzeuge werden vom Autopiloten gesteuert, der Marlboro-Mann reitet nicht mehr durch die Prärie, sondern erholt sich von seiner Lungenkrebs-Operation. Autorennsport und Extremklettern sind inzwischen Allerwelts-Hobbys. Torsten Harmsen, Redakteur der Berliner Zeitung, gehört zu den Wagemutigen, die sich einer Herausforderung gestellt haben, an die sich nur 1,5% aller Väter herantrauen: er unterbrach seine Berufstätigkeit und nahm nach der Geburt seines zweiten Kindes Erziehungsurlaub, um sich in Gänze der Kindererziehung zu verschreiben. Was er mit Elisa und ihrer sechsjährigen Schwester erlebt hat, erzählt mit viel Humor das Bändchen "Papa allein zu Haus". Harmsens Buch wartet mit einer Reihe neuer Themen auf. Da gibt es das Mäkeln am hingebungsvoll zubereiteten Essen, das Konzert auf dem Essgeschirr, die mit elterlichen Argusaugen beobachteten Kinderfreundschaften, die Anmeldung in der Kindertagesstätte oder die Geschichten um das Zubettgehen, die immer Geschichten um das Wachbleiben sind: kaum liegt der Säugling im Bett und soll einschlafen, "betätigt offenbar jemand einen Schalter, der irgendwo im Baby installiert ist. Seine Augen sind offen, als hätte jemand die Lider mit Tesafilm an die Brauen geklebt". Der Vater sinniert über den Sinn und Unsinn von Familienchroniken, lässt sich von der philosophierenden Tochter über die entscheidenden Fragen des Lebens belehren, wird Zeuge, wie sie sich mit dem Schreiblesefieber infiziert und sich ein hemmungsloser Diskussionsdrang Bahn bricht. Entschädigt wird Harmsen durch profunde Kenntnisse in der "Nuckologie", der Wissenschaft von der Bedeutung des Schnullers. Wenn es stimmt, dass "nuckeln" von "langsam saugen" kommt, das sich wiederum von dem mit "saufen" verwandten "sugen" herleitet, wird mit diesem unscheinbaren Produkt aus Kautschuk oder Silikon der Grundstein für viele Suchtkarrieren gelegt.
Harmsens von Berufs wegen gut geschmierte Assoziationsmaschinerie läuft trotz der Verlegung seiner Tätigkeit in die eigenen vier Wände weiter im oberen Drehzahlbereich. So setzt er das schmerzhafte Zahnen des Säuglings in Beziehung zum Sündenfall, als Strafe für das unerlaubte Naschen vom Baum der Erkenntnis. "Wenn die Unerersättlichen schon überall ihre Zähne hineingraben müssen", lässt der Autor den Schöpfer sagen, "dann sollen sie auch ihr Leben lang dran zu knabbern haben! Wenn schon Krone der Schöpfung, dann - bitte schön! - eine leicht verbeulte mit angeknacksten Zacken!" Das trifft nicht weniger auf den Vater zu, der - kaum dreißig Jahre älter - mit saniertem Gebiß herumläuft, "sozusagen mit Kronen der Schöpfung". Mit den gefühlsduseligen Schilderungen Frieds hat Harmsens Buch wenig gemein. Nichts liegt ihm ferner, als die Seiten mit den lustigen Dingen zu füllen, die in bunten Zeitschriften gemeinhin unter der Rubrik "Kindermund" abgehandelt werden. Ob der Hausmann nun über Spielzeugberge nachdenkt, die sich um seine Kinder auftürmen oder betont offenherzig Vorschläge unterbreitet, wie Kinder noch kreativer (sprich: anstrengender) werden können - seine Haltung bleibt immer ironisch distanziert, ohne je abgeklärt zu wirken. Das Entscheidende aber ist die Kehrseite der Medaille: die Zeit mit seinen Kindern hat den Vater verändert und zeigt ihre wohltuenden Nachwirkungen noch dann, als ihn der Job schon längst wieder hat.
Letzte Station: Joseph von Westphalens nach Art eines Lexikons aufgebautes Buch "Wie man seine Eltern erzieht". Westphalens Erfolgsrezept, so könnte man mutmaßen, liegt in der Umkehrung der geläufigen Schwarzweiß-Werte. Schon sein Roman zur vielbejubelten Jahrtausendwende erteilt ein gutes Stück Anschauungsunterricht in der hohen Kunst des Aneckens (Titel: "Warum mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht").
Im Erziehungsbuch liegen die Dinge jedoch ein wenig anders. Auf der einen Seite versorgt Westphalen als erklärter Anwalt der Kinder seine Klientel mit reichlich Munition. Mussten die Heranwachsenden bis dahin Tadel, Ermahnungen und Maßregelungen erdulden, so heißt es jetzt plötzlich: Zurück an den Absender! Ob es die Großen glauben oder nicht, es reist sich ungemein bequem in dieser Retourkutsche. Die Anleitung zum Widerstand verfolgt andererseits nur das Ziel, die sich auf Elternseite konzentrierende Macht und Kompetenz gleichmäßiger auf beide Parteien zu verteilen. Das Buch antizipiert einen neuen Mittelpunkt, von dem aus betrachtet Erziehung als wechselseitiges Geben und Nehmen, Lernen und Lehren, Gewinnen und Verlieren denkbar wird. Nicht alle Ratschläge an das jugendliche Publikum sind deshalb von so bitterbösem Humor geprägt wie die empfohlene Replik auf den elterlichen Appell an die Pflichten ihrer Kinder: "Wir reden in 40 Jahren weiter, okay!? Dann habe ich die Pflicht, euch im Altersheim die Fernsehprogramme einzustellen."
Westphalens Zöglinge fallen aus der Rolle, ohne ausfallend zu werden. Sie befleißigen sich einer gepflegten Ausdrucksweise und treten durch souveräne Höflichkeit hervor. Sie sind aufgeweckt und schlagfertig, erfinderisch und lernwillig. Sie verhalten sich taktisch klug und verunsichern ihre Eltern durch schillernde Ironie. Sein Ziel, so zeigt der Autor, erreicht man nicht durch Streiten und Herumpöbeln, sondern indem man den Eltern argumentativ die Hölle heiß macht und sich seiner Haut mittels Goethescher Verse, Bibelsprüchen oder Zitaten aus der Barockzeit erwehrt. Ein geschickt platziertes Fremdwort verblüfft den Gegner und wirkt manchmal Wunder.
Wie verhalte ich mich bei schwer erziehbaren Eltern, wie aktiviere ich die Schuldgefühle von Vater und Mutter? Wie schmeichle ich mich ein, zu welchen subtilen Strategien der Erpressung kann ich greifen? Wie erziele ich beim Kampf um das neue Fahrrad einen optimalen Verhandlungserfolg, wie bewege ich knausrige Eltern zu einer Taschengelderhöhung? Was tun, wenn es einmal eine Ohrfeige setzt oder, schlimmer noch, zu Hause nur noch "Futter aus dem Ökoladen" auf den Tisch kommt? Die Beantwortung dieser für Kinder unmittelbar existenziellen Fragen exerziert Westphalens Buch vor - mit viel Mutterwitz, Empathie und einem gutem Gespür für die Dramaturgie von Eltern-Kind-Debatten. Dieser ,umgekehrte' Erziehungsberater besticht vor allem aber dadurch, dass er den Halbwüchsigen in die Offensive versetzt, ihm Selbstbewusstsein, Schläue und Intelligenz zuspricht. So bestärkt lässt das "Kind von Welt" nur zu gerne Nachsicht gegenüber den "Erziehungsberechtigten" walten und sieht großzügig über deren Schwächen hinweg. Auf spezielle Weise karthartisch wirkt auch dieses Buch, denn das ungewöhnlich erwachsene Benehmen der Kinder schärft den Blick für das bisweilen kindische Verhalten der Erwachsenen. Beherzt greift Westphalen in das große Reservoir der Jugendsprache ("mega unkrass") und erfindet gleich noch ein paar Worte dazu ("null Nashorn", "total togo"). Durch die zahlreichen Verweise ("Links") zwischen den einzelnen Artikeln wird das Gelesene ständig von neuem aktiviert und befestigt; umgekehrt wecken noch unbekannte Begriffe Neugier und machen Lust aufs Weiterschmökern. Dem Autor gelingt es, sprachlich wie gedanklich unverkrampft ("unvernagelt") zu bleiben, ohne den trotz allem mittransportierten pädagogischen Anspruch zu lockern oder sich anzubiedern.
Eltern und ihre Kinder treffen sich, wie angedeutet, irgendwo in der Mitte, ohne dass die heimliche Übereinkunft eigens auf den schauderhaften Begriff vom gegenseitigen "Verständnis" gebracht werden müsste.
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