Auf dem Massiv des "global benjamin" herrscht Stille
Über die Schwierigkeit, einen Zweitausender zum Klingen zu bringen
Von Geret Luhr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Es ist still geworden um Walter Benjamin." Mit diesen Worten leitet Klaus Garber die fast zweitausend Seiten lange, dreibändige Dokumentation eines Kongresses ein, den er selbst anlässlich des 100. Geburtstages von Walter Benjamin im Jahr 1992 in Osnabrück organisiert hatte. Für die Stille, die sich um Benjamin gelegt habe, macht Garber jenen politischen Umsturz verantwortlich, der sich um die Zeit des Kongresses ereignete: den nahezu vollständigen Zusammenbruch der kommunistischen Systeme. Denn nur ein Umsturz von solch welthistorischem Ausmaß, so Garber, habe die Stimme Benjamins zum Schweigen bringen können. Nun ist Klaus Garber mit Sicherheit kein profilierter Denker der extremen Linken. Und doch sieht er es als erwiesen an, dass die Zukunft der Benjamin-Philologie allein darin liegen könne, die politisch unabgegoltenen Potenzen seines Werks wieder zu aktualisieren.
Das Hohelied der notwendigen "Aktualisierung" bzw. "Re-Aktualisierung" Benjamins, es wird seit Jahrzehnten gesungen und klingt doch nie stimmiger. Immer noch nehmen viele Denker die Begriffsprägungen und Begriffskonstellationen, die Benjamin angesichts der heraufziehenden Katastrophe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, für bare politische Münze. Dabei verkennen sie zum einen, dass die historische Situation sich grundlegend verändert hat, ja dass andere, neue Gefahren für die Menschheit am Horizont aufgezogen sind, Gefahren die sich mit geschichtsphilosophischen Spekulationen der Benjaminschen Art nicht einmal tangieren lassen. Zum anderen übersehen sie, dass Benjamins politische Überzeugungen bereits zu seiner Zeit alles andere als dazu angetan waren, die Menschheit vor der Katastrophe zu bewahren. Der statische Grabenkampf zwischen Faschismus und Kommunismus hatte als eine Art Selbstzerstörung der Ideologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts alle demokratischen Hoffnungen zunichte gemacht: auch und zumal Walter Benjamins Denken konnte sich diesem gefährlichen Strudel nicht entziehen.
Ein Bewusstsein davon scheint bei denjenigen, die Benjamins politische Wiederbelebung fordern, nicht zu existieren, und so erweisen sich - ganz entgegen der These Garbers - vor allem jene Beiträge des Bandes als überholt, die auf dem Aktualisieren der Inhalte beharren. So liest man im Eröffnungsbeitrag des renommierten Benjaminforschers Irving Wohlfahrt folgende Überlegung: "Die Frage nach Benjamins Aktualität ist, so meine ich, insofern unser aller Gretchenfrage, als sie die Frage nach unserer eigenen Aktualität stellt. Benjamin ist für viele aus meiner Generation der letzte halbwegs theologische Denker gewesen, der uns, seine entzauberten Nachkommen, noch unbedingt angeht." Tatsächlich spricht Wohlfahrt hier für viele Intellektuelle, deren Benjaminlektüre auf das eine Ziel hinausläuft, seiner Stimme wieder, so wie man es gewohnt war, prophetische Geltung und kritische Schlagkraft in der Diskussion zu verschaffen - und zwar ohne dass damit irgendwelche politischen Ambitionen im eigentlichen Sinn verbunden wären. Dass Benjamin dergestalt zu einer "linken Ikone" verkommt, deren Funktion es ist, die relative Funktionslosigkeit der Intelligenz innerhalb des kapitalistischen Systems zu bemänteln, hat bereits Otto Karl Werckmeister erkannt - und zwar in einem Beitrag, den er 1992 für Osnabrück verfasste und der jetzt in den Tagungsbänden gedruckt vorliegt.
Der Anspruch des Kongresses wie der Dokumentation, einen umfassenden Querschnitt der internationalen Benjaminforschung vorzulegen, jenen "global benjamin" also, den die Bände im Titel tragen, scheint damit zumindest ansatzweise erfüllt. Jede Position findet auf den zweitausend Seiten irgendwo ihre Gegenposition, für einen Ausgleich der Sekundärstimmen ist gesorgt. Der Beitrag von Otto Karl Werckmeister weist den Leser jedoch auf ein anderes und vielleicht sogar entscheidenderes Defizit des ehrgeizigen Unternehmens. Man hat ihn - in einer überarbeiteten und erweiterten Version - bereits in Werckmeisters vor einigen Jahren bei Hanser erschienenem Großessay "Linke Ikonen" lesen können. Und so geht es einem bei zahlreichen der über hundert in den Bänden versammelten Beiträgen: Man kennt sie bereits. Viele der Autoren haben offenbar die acht Jahre dauernde Publikationsspanne nicht abwarten wollen. Sie haben ihre Beiträge vorab in Zeitschriften veröffentlicht oder sie anderweitig verwertet - ein vergleichender Blick in die sehr nützliche "Bibliographie zu Walter Benjamin (1993 - 1997)", die dem dritten Band beigefügt wurde, kann das leicht bestätigen. Wer also in den vergangenen Jahren sich mit der Literatur zu Walter Benjamin beschäftigt hat, wird im "global benjamin" nicht viel neues entdecken können.
Eine Summe der bisherigen Forschung demnach, was hier vorgelegt wurde, so dass ein kurzer Blick auf den Inhalt einige Schlüsse zulässt. Die wichtigsten Themen und Begriffsbildungen Benjamins sind reichhaltig vertreten. Ein großer Teil der Aufsätze beschäftigt sich mit den "dialektischen Bildern", mit der "Allegorie", mit der "Aura" und mit den esoterischen Aspekten von Benjamins Sprach- und Geschichtsphilosophie. Surrealismus und Messianismus sind stark vertreten, die "Einbahnstraße" ebenso wie die "Berliner Kindheit" und die "Kritik der Gewalt". Ein ganzer Band, der zweite nämlich, beschäftigt sich gemäß literaturwissenschaftlicher Tradition mit "Kontakten und Korrespondenzen" beziehungsweise mit "Prismatischen Konjunktionen", worunter 35 Aufsätze fallen mit notorischen Titeln wie "Benjamin und Franz Hessel", "Benjamin und Erich Unger", "Benjamin und Ernst Schoen", "Benjamin und Fourier", "Benjamin und Wittgenstein", "Benjamin und Roland Barthes" und so weiter. Vor diesem Hintergrund an zumeist spekulativer Forschung fallen die Lücken, die gelassen wurden, deutlich ins Auge: Benjamins Biographie ist so gut wie ausgespart (als rühmliche Ausnahme sei hier Wil van Gerwens Aufsatz über Benjamin auf Ibiza genannt sowie Chryssoulu Kambas' Text über Walter Benjamin als Adressaten literarischer Frauen), das Exil Benjamins ist kaum der Rede wert, seine Literaturkritik kommt als Thema nicht vor.
Inwieweit sich die Forschung der vergangenen Jahrzehnte in den zweitausend Seiten wiederspiegelt, zeigt auch die Tatsache, dass der Herausgeber Klaus Garber ein weiteres mal versucht, auf seinen Lieblingsfeind einzuschlagen: das Adorno-Archiv mitsamt den Herausgebern der "Gesammelten Werke". Das kennt man zu genüge, es ist aber der einzige Lärm in einem Massiv, das ansonsten eher Stille verbreitet.
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