Rettung oder Musealisierung?

Walter Benjamin im Medium seiner Begriffe rekonstruiert

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch in seinem sechzigsten Todesjahr wird Walter Benjamin von monumentalen Veröffentlichungen umschwärmt. Sie beängstigen den geneigten Leser weniger durch ihren Umfang: vor allem der enzyklopädische Anspruch beunruhigt. Auf nahezu zweitausend Seiten präsentierte sich unlängst die weltweite Benjamin-Forschung im Bestreben, die Schnittmenge internationaler Lesarten dingfest zu machen und einen "Global Benjamin" zu ermitteln. Über hundert Aufsätze wurden dafür zusammengestellt, die ein vages prismatisches Bild Walter Benjamins hinterließen. Es hat der Flut der Veröffentlichungen über Walter Benjamin kein Ende gesetzt.

Nun legen die zwei Berliner Germanisten Michael Opitz und Erdmut Wizisla zwei Bände mit gut achthundertfünfzig Seiten nach, in denen die zentralen Begriffe des Benjaminschen Denkens klärende Deutung erfahren sollen. Ähnlichkeit, Aura, Allegorie, Mythos, Erwachen Rettung und Geschichte, um nur einige zu nennen: Diese Begriffe ergeben eine Skizze seines gesamten Schaffens, indem sie symbolisch ihren gesamten Kontext mitführen. In der Lebendigkeit seiner Sprache lag vielleicht das bedeutendste der Benjaminschen Talente. Es ist in seinen Begriffen gegenwärtig.

Walter Benjamin über seine zentralen Begriffe zu erschließen, ist naheliegend und vielversprechend. Die programmatischen Begriffe stehen wie Grenzpfähle um eine Reihe von Dunkelstellen, in denen sich schon so mancher Interpret verlaufen hat. Das, was sich an Benjamins Denken erfassen lässt, sollte sich an seinen zentralen Begriffen entfalten lassen. So darf man vermuten, dass mit jener Aufsatzsammlung die grundlegendste und klarste Topographie der Schriften Walter Benjamins vorliegt. Und tatsächlich nehmen die Aufsätze eine gründliche Vermessung der Benjaminschen Landkarte vor, wie es sie bis jetzt noch nicht gegeben hat.

Dennoch: Skepsis ist geboten! Ein Benjamin-Lexikon droht Benjamin endgültig zum Klassiker zu degradieren. Und gerade er selbst, jener dunkle und sperrige Denker misstraute der nachträglich hergestellten Ordnung kultureller Archive. Mit dem Begriff der Rettung, so erfährt man in einem der besten Aufsätze der vorliegenden Neuerscheinung, kennzeichnete er eine subversive Strategie der Erinnerung, die dem mainstream der Überlieferung seine systematischen Aussparungen vorhält, ihn durch den nicht aufgehenden Rest kontrastiert. Denn die Art, so schreibt Benjamin, in der "etwas Gewesenes" "als ,Erbe' gewürdigt wird, ist unheilvoller, als seine Verschollenheit es sein könnte." Bezogen auf sein eigenes Werk hätte ihn die Drohung, zum Gegenstand der Musealisierung zu werden, besonders erschreckt. Daher ist mindestens ein Maßstab, an dem die Aufsatzsammlung gemessen werden wird, durch Walter Benjamin selbst vorgegeben.

Man wird der Publikation allerdings nicht vorwerfen können, sich einer falschen Vereinheitlichung des polyzentrischen Denkens Walter Benjamins schuldig zu machen. Die Gefahr einer einebnenden Verflachung ist durchaus reflektiert. Ihr wird schon in der Organisation des Aufsatzbandes begegnet: Dreiundzwanzig Aufsätze sind von dreiundzwanzig so unterschiedlichen Autoren wie Hans Heinz Holz, Detlev Schöttker und Sigrid Weigel verfaßt und stellen eben so viele unterschiedliche Ausgangspunkte, Zugriffe und Perspektiven dar. Beliebig sind die Perspektiven nicht. Die Aufsätze genügen wissenschaftlichen Standards und die Autoren, ganz überwiegend Literaturwissenschaftler in akademischen Ämtern, zählen zu den renommiertesten und wichtigsten Benjamin-Interpreten.

Sie tragen auch Benjamins literarischer und philosophischer Sperrigkeit durchaus Rechnung. Deshalb ist der Aufsatzband letztendlich kein Benjamin-Lexikon. Werden auch die grundlegenden Strukturen seines Denkens deutlich, wird gleichwohl kein befriedeter Benjamin für die Schublade präsentiert, sondern bestenfalls ein Benjamin-Baukasten. Mit ihm zu arbeiten bleibt dem Leser selbst überlassen. Dafür finden sich auch die vielen Stellenhinweise und Literaturangaben, die geradezu zur Vertiefung auffordern.

Soweit sind Konzeption und Durchführung des Aufsatzbandes sehr anspruchsvoll und dem Gegenstand auch angemessen. Trotzdem lassen sich einige Abstriche machen. Insbesondere der konstitutiven Interdisziplinarität des Benjaminschen Denkens, seinem Sitzen zwischen den Stühlen, ist durch die scientific community der Autoren, die sich fast ausschließlich aus Literaturwissenschaftlern zusammensetzt, nicht angemessen Rechnung getragen. Nur zwei Philosophen besprechen einen Denker, der in der Einleitung ausdrücklich als Philosoph vorgestellt wird. Historiker und Kunstwissenschaftler fehlen ganz.

Die Herausgeber weisen zurecht selbstkritisch darauf hin, dass sehr wichtige Begriffe des Benjaminschen Denkens ausgespart sind. Mag man das auch verzeihen, könnte man doch ergänzen, dass einige der erläuterten Begriffe, wie "Sammler" oder "Passagen", eher illustrative als terminologische Bedeutung haben und vielleicht nicht unbedingt ins Fundament seines Denkens zählen. So erreichen auch nicht alle Aufsätze die wünschenswerte Prägnanz und Klarheit.

Insbesondere aufgrund der überwiegenden Zahl sehr guter Aufsätze, die grundlegendes klären, bleiben diese Defizite jedoch akzeptabel. Dass dieser zweibändige Benjamin-Baukasten für eine Reihe von intellektuellen Spreng-Sätzen gut ist, wird dadurch nicht berührt. Letztlich bleibt Walter Benjamin auch nach dieser Veröffentlichung kontrovers und subversiv, ein Maulwurf im kulturellen Archiv. Er wird eher verlebendigt als musealisiert, so dass sich sagen lässt: Vor der Gefahr seiner nachhaltigen Archivierung ist er vorübergehend gerettet.

Titelbild

Michael Opitz / Erdmut Wizisla: Benjamins Begriffe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
500 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518120484

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