Kritisches zur Kritik

Rezensionen und Essays von Ulrich Greiner

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mitten im Leben" nennt Ulrich Greiner seine Sammlung von Rezensionen und Essays aus den Jahren 1990 bis 2000 und eröffnet sie mit der Frage: "Warum liest man Romane?" Die Frage ist durchaus berechtigt, schließlich könne man ja, so Greiner, sich durch Fernsehen besser unterhalten (tatsächlich?) oder sich in Sach- und Fachbüchern auf "bessere und solidere Art" informieren (worüber?). Greiner geht offenbar davon aus, dass weder Kenntnisdrang noch Zerstreuungsliebe den durchschnittlichen Romanleser antreiben. Was aber dann? Die Antwort ist klassisch: Der Mensch liest Romane, um aus der schnöden Realität ins "Reich der Einbildungskraft und der Erinnerung" zu entfliehen, wo er "mit dem Autor oder dem Erzähler oder dem Helden (oder allen dreien) in einen Austausch tritt". Dies mag im Idealfall so sein. Hier stellt sich der Rezensentin jedoch die Frage, warum der so beschriebene ideale Leser dann nicht auch zu Dramatischem oder Lyrischem greifen könnte. Die Antwort auf diese Frage ist weniger pathetisch denn banal: weil Greiner hauptsächlich Romane rezensiert.

"Mitten im Leben", der Titel des Buches, ergibt sich nicht aus der (falschen) Annahme, Literaturkritik stünde mitten im Leben und das Feuilleton sei der meistgelesene Teil einer Zeitung. Solchen Illusionen gibt sich ein Profi wie Greiner nicht hin. Vielmehr bezieht sich der Titel auf die oben zitierte Lust am Lesen in Form einer Begegnung mit dem fremden Ich. Der Tatsache, dass diese Lust gelegentlich in Unlust umschlägt (wenn das Ich gegenüber gar zu fremd ist?), trägt Greiner Rechnung durch die Aufnahme einer Reihe von Verrissen. Er nennt sie "Einsprüche" - denn sie hängen nicht primär von der Qualität des rezensierten Buches ab, sondern vielmehr von der Meinung der lieben Kollegen: Was einige Male hoch gelobt wurde, muss schließlich verrissen werden. So einfach. Und so ehrlich. Im Gegensatz zu Reich-Ranicki maßt sich Greiner also keinen pädagogischen Effekt seiner Rezensionen an. Zumindest reizt es ihn, das, was andere in den Himmel gehoben oder auch zerfetzt haben, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Er denkt - und das kann man nicht von allen Kritikern sagen - den Literaturbetrieb immer mit.

Erfrischend ehrlich sind auch andere Bekenntnisse Greiners. Dass er lieber kitschige als oberlehrerhafte Literatur liest zum Beispiel. Einen latenten Hang zur Sentimentalität verzeiht er einem Autor eher als die implizierte Frage nach dem Abiturzeugnis des Lesers. Arrogante Bücher mag Greiner nicht. Auch der Kritiker ist also ein lustvoller Leser, zumindest dieser hier. Erstaunlich denn auch, wie sich Greiner in all den Jahren des Rezensierens für die "F.A.Z." und die "Zeit" seine Neugier bewahrt hat - nicht nur die auf das Neue (der Band enthält auch einige engagierte Erstlingsrezensionen, z.B. zu Gerhard Kelling und Clemens Eich), sondern auch die Neugierde auf das bereits Bekannte. Da wird ein Autor wie Grass im vollen Bewusstsein seiner überragenden literarischen Qualitäten verrissen (Grass' weltklugen Kommentar zum 20. Jahrhundert findet Greiner in dessen Gesamtwerk, nicht in "Mein Jahrhundert"). Da werden Klassiker wie Melville, Hemingway oder Böll ausgegraben. Da wird Kleist im Lichte moderner Körpertheorien neu betrachtet. Da wird vor allem immer wieder Neues mit Altem verglichen: nicht in Form überheblichen Abwertens des Neuen gegenüber dem unerreichbaren Alten, sondern im Sinne eines Verdeutlichens und Erinnerns. Wenn Greiner vergleicht, dann nicht (oder selten), um seine weitschweifige literarische Kenntnis zu demonstrieren (die ist auch ohne Demonstration beeindruckend). Verglichen wird nur, wenn es tatsächlich Sinn macht. Dabei kann Ulrich Greiner sich jedoch nicht enthalten, wo immer möglich auf seine "Götter" zu verweisen: auf Kafka, auf besagten Melville, auf Botho Strauß und - immer und immer wieder - auf Hans Henny Jahnn, der für Greiner der Inbegriff des im Schatten stehenden und zu wenig entdeckten Schriftstellers des vergangenen Jahrhunderts ist. Zu den Urteilen kommen die Vor-Urteile - auch dies ein bewusster Vorgang bei Greiner.

Leserfreundlichkeit scheint bei Greiner oberstes Gebot zu sein. Seine Kritiken sind ein Lesevergnügen auch für denjenigen, der den Urtext nicht gelesen hat. Wohl kommentiert und klug geordnet präsentiert das Buch Greiners beste Rezensionen der letzten Jahre. Allein der hohe Grad an Selbstreflexivität würde diese schon zu einer lohnenden Lektüre machen. Greiners Literatur-Lust aber macht sie zum Genuss.

Titelbild

Ulrich Greiner: Mitten im Leben. Literatur und Kritik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
267 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3518396412
ISBN-13: 9783518396414

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