Das Lesbare und das Unlesbare

Axel Heckers "Dekonstruktive Lektüren zu Franz Kafka"

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Lektüreprogramm von Axel Hecker enthält drei Texte, die Kafka unter dem Titel "Strafen" in einem Buch zusammenzustellen beabsichtigte: "Die Verwandlung", "In der Strafkolonie" und "Das Urteil". Die Reihenfolge der Lektüre richtet der Autor an dem Grad der Lesbarkeit aus. "Die Verwandlung" sei ein lesbarer Text mit nur kleinen Unterbrechungen, weil er einen geradezu klassischen Handlungsverlauf zeige. "In der Strafkolonie" bewege sich am Rande der Lesbarkeit, und "Das Urteil" sei schließlich kein lesbarer Text, eher ein literarisches Programm, weil er durch Brüche gekennzeichnet sei. Die Annahme der Nichtlesbarkeit ist laut Hecker ein logisches Konstrukt, keine erfahrungsbasierte Aussage. Dem liegt ein Literaturverständnis zugrunde, wonach Literatur "Intentionalität im Rohzustand" sei, die diskursiv noch nicht gebündelt ist: "Literatur zeigt die Kraftlinien des Sinns, wenn er noch nicht durch eine versammelnde, darstellende, reinigende Intention gebändigt und behütet ist". Die Frage der Lesbarkeit entscheidet sich demnach an der (vertrauten) Rationalität von Handlungen oder aufgebauten Wissensstrukturen. 'Störungen' in dem Vertrauten zeigen das Ausgeschlossene oder Übersehene an.

Einsatzpunkt für die Lektüre der "Verwandlung" ist der Körper. Anhand der Verschiebung vom Menschen- zum Insektenkörper im Text lässt sich der Körper in seinem Verhältnis zum Bewusstsein bestimmen. Hecker wählt dafür einen idealistischen Rahmen, demzufolge der Körper abgewertet wird "zugunsten einer Perfektion, die nur im Geistigen und Ideellen zu erreichen ist". Dieser ideelle Rahmen wird nun unter den Bedingungen des (vernachlässigten) Körpers betrachtet. Der dekonstruktive Impuls der Lektüre folgt exakt den Vorgaben des Textes, sofern der Körper Gregor Samsas das einzige Moment darin ist, das in einer ansonsten realistischen Umgebung ausgetauscht wird. Die Motivation für die Ersetzung des Menschen- durch einen Insektenkörper sieht Hecker darin begründet, dass "der Körper in seiner ins Extrem geführten Falschheit absolut gesetzt wird". Die idealistische Betrachtung wird demnach überpointiert, wobei sich zeigt, dass der Körper kein vernachlässigbares Element ist, sondern eine permanente Störung der Idealität des Bewusstseins darstellt.

Diese Analyse ist aus der Logik der Sachlage heraus zwingend entwickelt, sofern Gregor ununterbrochen Pläne zur Verbesserung seiner Lage schmiedet; er überlegt Strategien, die ihn aus der misslichen familiären Situation befreien und in das alte Verhältnis zu der Schwester und den Eltern setzen soll. Er reflektiert und betrachtet seinen Körper zunächst als dysfunktionales Element seiner Person. Aber gerade die Einheitlichkeit der Person wird durch das Vorhandensein des falschen Körpers ununterbrochen vereitelt. Der Nebenschauplatz (aus der Sicht Gregors) ist längst zum Hauptschauplatz geworden, ohne dass Gregor die Veränderung realisiert. Hecker entwickelt anhand des Textes vier Körperkonzepte: den ohnmächtigen, den peinlichen, den sinnlosen und den verantwortungslosen Körper. Aus der Sicht der idealistischen Betrachtung von Körper und Geist kann der ohnmächtige Körper nicht handeln, ist der peinliche Körper zu verstecken und der sinnlose Körper kommunikationslos. Sie alle erwecken den Anschein, als ob es einen 'richtigen' Körper (für den Dualismus Körper und Geist) geben könnte. Der verantwortungslose Körper registriert die Unmöglichkeit einer Besserung der Störung des Bewusstseins durch den Körper und verharrt in seiner Eigentümlichkeit. Der "verantwortungslose Körper" ist gewissermaßen das Endstadium des Käfers Gregor Samsa, der vorführt, dass es für ideelle Annahmen im Dualismus Körper/Geist keine Lösung gibt. Die vorhergehenden drei Konzepte durchläuft der Käfer in der Geschichte. Der "ohnmächtige Körper" führt Gregor in das Problem der Kontingenz ein, planvolles Handeln wird durch den Körper sabotiert. Der "peinliche Körper" will vom Bewusstsein ausgeschlossen oder nicht wahrgenommen werden, weil er den Ansichten und Werten zuwiderläuft. Der "sinnlose Körper" wiederum rekurriert auf die Störungen der Kommunikation durch die materielle Basis, er untergräbt die Kommunikationsmaximen oder auch die Idealität der Kommunikation von Seiten des Körpers.

Ergänzen müsste man noch die Abhängigkeit des Selbst- und Körperkonzeptes vom strukturellen Feld, in das es eingebunden ist. In den entscheidenden Konvergenzpunkten zwischen Gregor und der Familie, nämlich Nahrung und Sexualität, tritt jeweils auf allen Seiten eine Wendung zum Schlechteren ein. Während Gregor zunächst mit Wollust frisst, verliert er seinen Appetit, als er bemerkt, dass die Familie appetitlos ist. Nachdem Mutter und Schwester über das sexuelle Begehren Gregors (aus seinen 'Menschenzeiten') informiert sind - das goldgerahmte Bild einer Dame im Pelz möchte er nicht missen - korrigiert er sein Verhalten trotz seines Widerstandes entsprechend. Die zunehmende Lethargie auf allen Seiten der Familie ist dem Versuch geschuldet, sich den Anderen anzugleichen, in gewisser Weise ist darin eine mimetische Leistung ausgedrückt, die auch durch die Veränderung des Körpers von Gregor nicht verloren geht. Der Gründungsmythos der Familie besteht aus den Vorkommnissen um die plötzliche Mittellosigkeit; Gregor geht arbeiten, um die Familie zu ernähren. Die Bewährungsprobe schafft für ihn einen einmaligen "Glanz". Das soziale Netzwerk der Familie wird umstrukturiert und ermöglicht kurzfristig neue Handlungs- und Sichtweisen, die schnell in Routine übergehen. Dasselbe tritt nach Gregors Tod ein: plötzlich sind alle wie verändert, die Tochter dehnt ihren "jungen Körper". Das wird in ihrem Selbstverständnis als Zeichen des Aufbruchs gehandhabt, bedenkt man aber die erzählte Familiengeschichte, deutet sich hier der Anfang einer neuen Verwandlung an, in der der Körper als Grundlage alles Ideellen neu festgeschrieben wird. Gerade vom Körper ist der geringste Widerstand gegen die Einnahme durch die Familienstruktur zu erwarten. In Anlehnung an Hecker könnte man vom lethargischen Körper sprechen, der die Idealität der Familie unterläuft, obwohl er zunächst andeutet, sie unterstützen zu können.

"In der Strafkolonie" dekonstruiert laut Hecker die Rationalität. Das Provozierende daran sei, dass "durch eine subtile rhetorische Strategie [...] die Suggestion entsteht, ein in mehr als einer Hinsicht abwegiger, sich gegen das Verständnis sträubender Vorgang könnte wirklich so stattgefunden haben." An den Figuren des Offiziers und des Reisenden stellt Hecker langsame, beinahe unmerkliche Veränderungen in der Bewertung von Gewalt fest, die abschließend dazu führen, dass sich die Positionen ineinander verschachteln und paradox erscheinen. Der Reisende verliert die scheinbare Neutralität des Forschungsreisenden, der Offizier seine vermeintliche Härte und Ungerechtigkeit. Die Bereiche des Glaubens und des Wissens diffundieren ineinander. Am Schluss, so Hecker, sei der Reisende indirekt der letzte Auftraggeber der Maschine. So gelesen ist die "Strafkolonie" eine Geschichte der Verkennungen. Entsprechend lautet das Fazit: "'Die Strafkolonie' zeigt eine fortwährende Dekonstruktion der wesentlichen Unterschiede, die das Vernünftige, Menschliche, Lebendige mit ihrem Gegenteil infiziert." Den Hinrichtungsapparat nennt Hecker eine Dekonstruktionsmaschine, weil sie "die reale und metaphorische Gelenkstelle all der Ambiguitäten bildet, die die 'Strafkolonie' im Umfeld der grundlegenden Opposition von 'Vernunft' und 'Gewalt' inszeniert."

Dekonstruktiv ist die Lektüre, weil sie am Text das Gleiche als das Andere liest und umgekehrt. Unverständlich müssen dabei die Ausfälle gegen die Sekundärliteratur bleiben, weil sie den methodischen Boden verlassen, auf dem sich die Arbeit so glänzend bewegt hat. Äusserungen wie "Dieser Text scheint die Interpreten - in den Worten des Offiziers: - 'wie Fliegen' anzuziehen", oder zum Referat über die Sekundärliteratur: "Das Ganze ist ein Sammelsurium pseudomodernistischer Konzepte, die vor dem ratlosen Leser ausgebreitet werden", sind unverständlich, allein schon weil eine dekonstruktive Lektüre ohne Wahrheitsanspruch auftritt und eine redliche Geste am Besten zu ihr passt. Was hat gewirkt: Die Ratlosigkeit vor dem Text? Hermeneutische Raserei? Wenn es ein gewollter Ausfall gegen die Norm ist, war er unnötig.

Einwände gegen die Lektüre der "Strafkolonie" insgesamt lassen sich bezüglich der Anspielungen und Motive in Kafkas Text machen, die Hecker nicht mitliest. Gerade zur Bestimmung des strukturellen Feldes hätten einige Motive hilfreich sein können, beispielsweise die Hinrichtungsmaschine: Sie ritzt den Schuldspruch nach alten Vorlagen in den Körper ein. Die älteste denkbare Vorlage ist die Kreuzigung Jesu selbst, denn dort wird der Schuldspruch (I.N.R.I., Jesus behauptet, der König der Juden zu sein) in das Kreuz eingeritzt. Die Parallelität der Stundenführung zwischen Kreuzigungs- und Hinrichtungsgeschehen - in der sechsten Stunde begreift der Verurteilte seine Lage, von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte eine Finsternis über dem Land u. a. m. - bestimmen den Bereich des Glaubens und seine Abgrenzung zum Bereich des Wissens sehr genau. Der Gegensatz zwischen der Kreuzigung Jesu und der Hinrichtungsmaschine besteht in der Originalität eines einmaligen Geschehens und der Mechanisierung dieses Geschehens unter den Kommandanten. Übersetzt man diese Relationen in Begriffe der Dekonstruktion, ist das Thema des Textes das Verhältnis von Präsenz und Wiederholung. Die "Strafkolonie" zeichnete dann die Verfallsgeschichte religiös behaupteter Präsenz nach, die in der Wiederholung Präsenz nicht herstellen kann und langsam in ritualisierte Gewalt übergeht. Die Hinrichtungsmaschine wäre in diesem Kontext keine Dekonstruktionsmaschine, sondern die historisch gewachsene Mechanik der Verfehlung selbst und dasjenige vom Glauben, das sich im repetierbaren Wissen niederschlägt.

"Das Urteil" liest Hecker in paradigmatischer Absicht. Kafkas Durchbruchstext soll zeigen, inwiefern in ihm der "Durchbruch zur Literatur" angelegt ist. Das Modell für die Lektüre übernimmt Hecker aus Emmanuel Lévinas Konzeption des Verhältnisses von Ich und Anderem. "Das Urteil" problematisiert in diesem Zusammenhang ein naives Verständnis von Psychologie und der in ihr angelegten kausalen Erklärungen. Nach Lévinas ist das Verhältnis von Ich und Anderem durch einen unvorgängigen Bruch gekennzeichnet, den das Ich erfährt. Er wird durch die Erfahrung der Unermesslichkeit des Anderen bedingt. Georgs Wunsch nach einem geschlossenen Bild von sich und seiner sozialen Umgebung bricht entzwei, als der Vater ihm die Grundkonstituenten einer jeden Vorstellung - Raum und Zeit - durcheinander wirbelt. Georg erfährt in der Auseinandersetzung den Bruch selbst, der durch jedes Wissen geht.

Paradigmatisch ist "Das Urteil", weil es laut Hecker anzeigt, dass die Tauglichkeit eines Lebenssystems von seiner Unabgeschlossenheit abhängt. "Es ist", schreibt Hecker in einer bewunderungswürdigen Genauigkeit über die einzelnen Textrelationen im "Urteil", "als ob der Sinn des Anderen: des Nicht-Identischen, des Falschen, des Unvorstellbaren, des Nicht-Kommunizierbaren, der Unterbrechung bedürfte, um Sinn zu sein, auch wenn dieses Andere nicht als etwas oder als Sinn von etwas gedacht werden kann, auch wenn diese Andersheit wie ein blinder Fleck der Vernunft, wie eine Monstrosität, eine Irrationalität erscheinen muß." Tatsächlich ist nicht nur "Das Urteil" durch eine minutiöse Äquilibristik gekennzeichnet, die literarisches Programm und Literatur zugleich ist. Kafka registriert die Erschütterungen, die jener "Rohstoff der Intentionalität" dem Denken darüber wiederholt zufügt. Für die Lektüre dieser Sinnspuren im abwägenden "Hin und Her" der Texte bildet Heckers Buch eine hilfreiche Bereicherung.

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Axel Hecker: An den Rändern des Lesbaren. Dekontruktive Lektüren zu Franz Kafka.
Passagen Verlag, Wien 1998.
181 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3851653009

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