Ein gebrochenes Verhältnis

Anikó Szabó über die Rückberufung und Rehabilitierung Göttinger Hochschullehrer nach 1945

Von Volker MichelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Michel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Diskussion über die Zugeständnisse der Wissenschaften an die nationalsozialistische Diktatur hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Untersuchungen hervorgebracht. Im Vordergrund standen dabei oft der Nachweis konzeptueller Anpassungsleistungen einzelner Disziplinen bzw. deren herausragende Vertreter. Stark biographisch und dezidiert fakultätsübergreifend orientiert ist dagegen Anikó Szabós umfangreiche Studie "Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung", hervorgegangen aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Universität Hannover. Sie trägt den Untertitel "Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus". Dass die unheilvollen Jahre ihre Schatten vorauswarfen, belegen die eingestreuten Blitzlichter auf das universitäre Klima in der Weimarer Republik. Schon vor dem Schicksalsjahr 1933 dominierte dort ein nationalkonservativer Geist. Die Schatten verschwanden keineswegs mit dem Kriegsende, wie sollten sie auch, war doch in den Folgejahren nicht nur in Göttingen die "Professorenschaft weitgehend identisch mit derjenigen der NS-Zeit".

Dazwischen liegen zwölf Jahre, in denen jüdische Gelehrte ebenso wie demokratisch gesinnte Dozenten, aber auch Wissenschaftlerinnen massiven Repressalien ausgesetzt waren und um ihr Leben fürchten mussten. Was ist aus ihnen geworden, auf welche Art und Weise sind sie ihrem Fatum begegnet? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen nicht emigrierten Dozenten und den von den Nationalsozialisten Verfolgten, nachdem unter alliierter Aufsicht im April 1945 erste Versuche unternommen worden waren, den Lehrbetrieb an der Universität wieder aufzunehmen? Wie intensiv und angemessen betrieb man juristische und 'ideelle' Wiedergutmachung - auf deren prinzipielle Unzulänglichkeit Szabó hinweist -, zunächst direkt 1945 und dann, sechs Jahre später, nach der Einführung des Bundesgesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes (BWGöD)? Fragen, denen Anikó Szabó akribisch und mit ausführlicher Miteinbeziehung des judizialen Kontextes nachspürt.

Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem den Beweggründen für Rückkehr und Wiedergutmachung, Termini, die einer variablen Dynamik unterliegen und denen umfängliches Konfliktpotential innewohnt. Doch die Autorin nimmt sich Zeit für Einzelfallanalysen und erschließt dabei akademische Biographien en détail. Kraft der ausführlichen Verzeichnung von Namen und Lebensdaten stellt sie sich ganz bewusst in eine Memento-mori-Tradition. So steht zu Anfang eine Auflistung jener Dozenten, die relegiert wurden und deren Lebenslauf nach der Vertreibung im Dunklen geblieben ist oder die das Ende des Nationalsozialismus nicht erlebten oder bis 1947 starben. Auch für die Nachzeichnung der ersten universitären Rehabilitierungsbemühungen wählt Szabó das Jahr 1947 als Zäsur, da "im Großen und Ganzen bis zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung über [...] Integration bzw. erneute Ausgrenzung" gefallen war.

Die Situation gestaltete sich schwierig. Zu rehabilitieren waren per Gutachten, Stellungnahmen u. ä. aber nicht nur die Verfolgten, sondern auch jene Gelehrten, die nicht emigrierten, sondern sich arrangierten. Ein prekäres Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten entspann sich, geprägt von Verschleierungstaktik und Enthüllungsgelüsten, innerhalb dessen sich Beispiele finden lassen für die "korporative Ausgrenzung" eines NS-Gegners (hier der Altphilologe Konrat Ziegler, der allerdings in Greifswald lehrte und 1943 nur in Niedersachsen wohnhaft war) wie auch für den wissenschaftlichen Neubeginn. Hierfür steht im Fachbereich Soziologie - über Umwege - Helmuth Plessner.

Alles in allem konstatiert Szabó innerhalb der Hochschullehrerschaft ein "gebrochenes Verhältnis", von einem "Neuanfang" nach 1945 kann nicht die Rede sein. Allein prononcierten NS-Propagandisten blieb der Zugang zur Universität verwehrt. Dagegen kehrten nur vier von zehn noch lebenden ordentlichen Professoren nach Göttingen zurück. Die geringe Zahl von Remigranten zeigt, wie problematisch es für viele war, die ehemalige Wirkungsstätte wieder zu betreten, eine Hochschule, die ihrerseits mit unverschämten Konditionen um die Wiedereingliederung ihrer ehemaligen Dozenten "warb".

Die Autorin schreibt angenehm leserfreundlich. Mehr noch: Scheinbar distanziert, dabei mit unaufdringlicher Sympathie für die Emigrierten referiert Szabó zahllose Lebensläufe, die von persönlicher und nationaler Enttäuschung, von Diskriminierungen und Demütigungen, von materieller Not und Isolation in einer fremden Umgebung handeln. Mit der Solidarität innerhalb der scientific community war es nicht weit her, wobei anerkannte fachliche Leistung kein Garant für persönliche Integrität war. Gleichwohl arbeitet Szabó einer "Prominentisierung innerhalb der Emigrationsforschung" gezielt entgegen: Ihr Personensample ist weitgefasst, auch Assistenten und wissenschaftliche Hilfskräfte finden Berücksichtigung. Die herangezogenen Quellen, die z. T. aus sonst selten beachteten Archiven stammen (u. a. Public Record Office London; Archive of the Society for the Protection of Science and Learning, Oxford), wählte sie umsichtig aus und ergänzt sie sinnvoll durch Auszüge aus Briefen, autobiographischen Berichten und anderen Nachlassmaterialien.

Der Leser erfährt zahllose individuelle Verstrickungen und Geschichten, die sich nicht zur Geschichte einer Institution addieren lassen - was die Verfasserin auch nicht anstrebt. Dennoch hätte man sich am Ende einiger Themenblöcke über eine pointierende Zusammenfassung gefreut. Gewinnbringend für weitere Recherchen ist die angehängte Dokumentation. Alphabetisch aufgelistet und in zentrale biographische Kategorien rubriziert, findet man dort das Korpus der in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten Dozenten, die an den Hochschulen in Göttingen, Braunschweig und Hannover tätig waren. Die wenigen den beiden Technischen Hochschulen in Braunschweig und Hannover gewidmeten Kapitel erscheinen eher als Anhängsel, derer die Studie gar nicht bedurft hätte, zumal umfassendere Analysen hierzu in Arbeit sind.

Titelbild

Anikó Szabo: Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus. Mit einer biographische Dokumentation der Entlassenen und verfolgten Hochschullehrer: Universität Göttingen - TH Braunschweig - TH Hannover - Tierärztliche Hochschule Hannover.
Wallstein Verlag, Göttingen 2000.
765 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3892443815

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