Zwiespältige Neuorientierung

Ein Jahrbuch zu Exilen im 20. Jahrhundert

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Exilforschung in Deutschland beschäftigte sich aus guten Gründen in den vergangenen Jahrzehnten vor allem mit den vom nationalsozialistischen Regime Vertriebenen. Mittlerweile sind die Flüchtlinge der Jahre nach 1933 - anders leider als die der Gegenwart - nicht mehr misstrauisch beäugte Randgruppe, sondern viele Werke der Künstler unter ihnen haben ihren angemessenen Platz in der Literatur-, Kunst- oder Musikgeschichte gefunden. Die Gesellschaft für Exilforschung unternimmt es nun in ihrem 18. Jahrbuch mit dem Titel "Exile im 20. Jahrhundert", die deutsche Emigration in einen umfassenderen Kontext zu stellen.

Ziel ist eine vergleichende Exilforschung. Die Herausgeber räumen in ihrem Vorwort allerdings ein, dass es für eine übergreifende analytische Perspektive noch an Material fehle und es vorerst um die Sammlung von Informationen gehe. Eine gemessen am anspruchsvollen Titel empfindliche Lücke des Bandes ist ebenfalls bereits im Vorwort genannt: mit zwei Ausnahmen befassen sich die Beiträge mit Fluchten aus europäischen Staaten. Shi Mings Aufsatz über die in Europa lebenden Exilanten aus China in den neunziger Jahren sowie Irmtrud Wojaks und Pedro Holz' Darlegungen über chilenische Exilanten in der Bundesrepublik nach Pinochets Putsch von 1973 können diese Lücke nur unvollkommen ausfüllen. Die quantitativ bedeutsamen Fluchtbewegungen der zweiten Jahrhunderthälfte nahmen in den Kriegs- und Bürgerkriegsregionen der so genannten Dritten Welt ihren Ausgang und strandeten meist bereits in Sammellagern der kaum weniger elenden Nachbarländer. Ein Folgeband müsste auch diese Erscheinungen in den Blick nehmen.

Der Wert des Jahrbuchs liegt in den einzelnen Beiträgen, die fast ausnahmslos auf hohem Niveau eine Fülle von Informationen vermitteln und zu plausiblen Wertungen gelangen. Dabei sind die Autoren des Bandes zwar überwiegend Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen, teils aber auch selbst Exilierte - neben Shi Ming und Pedro Holz gilt das für Peter Meleghy, der von der ungarischen Emigration nach 1945 berichtet, und für Jean-Louis Cremieux-Brilhac, der nach der französischen Niederlage von 1940 nach England flüchtete und ab 1942 Chef des Geheimen Nachrichtendienstes der Bewegung France Libre war.

Sehr unterschiedliche Ansätze sind im Band versammelt. Die Mehrzahl der Beiträger versucht einen Überblick über die Flüchtlinge aus den einzelnen Ländern, ihre soziale Zusammensetzung, ihre politischen Aktivitäten und ihre Fluchtwege. Instruktiv sind hier besonders Reiner Tostorffs Beitrag zu spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen nach 1939 und Alessandra Minerbis Schilderung der Emigration aus dem faschistischen Italien. Andere Abschnitte wie Brita Eckerts Aufsatz über die Goethe-Rezeption im deutschsprachigen Exil nach 1933 und Wolfgang Stephan Kissels Analyse des Dichtergedenkens als kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im russischen Exil 1921 bis 1939 gehen dem Phänomen von Literaturrezeption als Kulturpolitik nach.

Insgesamt entsteht also ein äußerst facettenreiches Bild jedenfalls der europäischen Exile vor allem zwischen 1920 und 1950. Deutlich wird, wie unterschiedlich die Exile sich gestalteten: unterschiedlich nach der Politik der Verfolgerstaaten wie der Fluchtländer, unterschiedlich je nach dem Grund der Flucht und dem vielfach damit verknüpften Verhalten der Exilanten, die sich auf weitere Flucht, auf Assimilation, auf Bewahrung der kulturellen Tradition ihrer Heimat, auf politischen Widerstand in dieser Heimat oder auf eine Kombination dieser Haltungen orientieren konnten.

Stehen die differenzierten Einzelbeiträge auf der Habenseite des Jahrbuchs, so deutet sich zumindest punktuell eine Konzeption an, der gegenüber Skepsis angebracht ist. In manchen Aufsätzen, vor allem aber im namentlich nicht gezeichneten Vorwort scheint eine Totalitarismustheorie durch, deren analytischer Wert durch die gleichzeitig dargebrachten Fakten allerdings dementiert wird. Für die Lage der Flüchtlinge war es gleichgültig, ob die Politik der Verfolgerländer nach herkömmlichen Kriterien als totalitär definiert werden kann; Möglichkeiten des legalen oder illegalen Grenzübertritts, die Asylpolitik der Fluchtstaaten waren für sie wichtiger, und ebenso die ethnische Zusammensetzung und politische Haltung der Bevölkerung, auf die sie trafen. Die Völkermorde, auf die das Vorwort verweist, sind ebenfalls kein Merkmal "totalitärer" Politik. Ein kaum "totalitärer" Kolonialstaat wie Deutschland am Jahrhundertbeginn, eine sich konsolidierende und modernisierende Nation wie Atatürks Türkei nach dem Ersten Weltkrieg konnten ebenso Genozid begehen wie der deutsche Faschismus im Zweiten Weltkrieg - im Unterschied zur politisch noch weitaus monolithischeren Sowjetunion in der stalinistischen Zeit.

Zum Verständnis der historischen Besonderheiten trägt der latente Antitotalitarismus nichts bei. Zu welchen Konsequenzen diese Haltung dagegen führen kann, zeigt Elsbeth Wolffheims Vorstellung eines an sich löblichen Projekts. Der deutsche PEN erreichte eine Institutionalisierung seines Projekts "Writers in Exile". Hierdurch erhalten, zum Glück, geflüchtete Schriftsteller für wenigstens einige Jahre eine materielle Grundlage. Freilich werden "nur solche Kandidaten" ausgewählt, die "bei ihren Protesten gegen die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung keine Gewalt angewendet haben" - ein Kriterium, an dem zahlreiche der in den historischen Beiträgen gelobten Flüchtlinge gescheitert wären. Mehr noch: Wolffheim weist den deutschen Betreuern die paternalistische Rolle von Erziehern zu einem lauen Demokratismus zu. So imaginiert sie zu schützende "Neuankömmlinge, die noch gänzlich orientierungslos sind" und "aus den Querelen der bereits existierenden Exil-Gruppierungen" herauszuhalten wären - als wüssten die Flüchtlinge nicht besser über die politischen Konfliktlinien ihrer Heimat Bescheid als, beispielsweise, Wolffheim; die wiederum mitleidig die "Nestwärme" der Exilvereine anerkennt, doch die dummen Flüchtlinge warnt, dass sie dort von "obskuren Fanatikern geködert und manipuliert" würden: "Die Gefahr ist nicht gering, auch hier gibt es Parallelen zu den Intrigen und Machtkämpfen unter den deutschsprachigen Emigranten der Nazi-Zeit."

Man wüsste gerne, wen Wolffheim mit den "obskuren Fanatikern" nach 1933 meint; müsste sie historisch konkret werden, würde sie wohl ehrlich überzeugt die Notwendigkeit auch gewaltsamen Kampfes gegen den deutschen Faschismus vertreten. Kaum ein Exilant, bei allen Machtkämpfen, dürfte 1943 den Sieg von Stalingrad bedauert, 1944 die alliierte Invasion in der Normandie pazifistisch kritisiert haben. Wenn Wolffheim dennoch, unberührt von jeder Konkretion, zivilgesellschaftliche Glaubenssätze verbreitet, so deshalb, weil sie das historisch Besondere aus dem Blick verliert.

Deshalb ist der Hinweis auf ihre Sätze relevant, die quantitativ im Gesamt des Jahrbuchs kaum erheblich sind. Immerhin markieren sie eine Gefahr des Forschungsprogramms. "Exile im 20. Jahrhundert" zu vergleichen kann das je Spezifische der Exile zeigen und gerade dadurch die Sichtweise schärfen. Dagegen aber steht die Gefahr der Einebnung. Wenn der Bremer Historiker Karl Holl in seinem den Band abschließenden Bericht über ein interdisziplinäres Lehrprojekt als Erfolg nennt, dass "hinter den vielfältigen nationalen, ethnischen, politischen, sozialen, religiösen Anlässen von Flucht und Exil in der Geschichte der Flüchtling als ein menschheitsgeschichtlicher Archetypus erschien", so verschwinden besondere Verantwortungen, verschwindet auch in modischer Komparatistik das Besondere der deutschen Verbrechen.

Gefährlich ist diese Wendung auch, weil sie sich mit neueren Methoden amalgamiert, die dieses statische Potential an sich nicht notwendig besitzen. Mit seinem kulturwissenschaftlichen Verfahren vermag Wolfgang Stephan Kissel sehr genau nachzuzeichnen, wie die Emigranten ihre Werte ins kulturelle Gedächtnis überführen. Doch wo ihn sein Universitätskollege Holl verallgemeinernd zitiert, dass nun der Schritt von einer "positivistischen-faktographischen, aber auch politisch-ideologischen Aufarbeitung" zu einem "komparatistisch-kulturologischen Ansatz" vollzogen sei, deutet die Formulierung auf die Entsorgung von Geschichte. Sie deutet zudem auf die Gefahr, dass ein an sich sinnvolles Forschungsprogramm ideologischer Überformung zum Opfer fällt, gerade indem seine Vertreter meinen, sich einer als ideologisch denunzierten Vergangenheit zu entziehen.

Titelbild

Claus-Dieter Krohn / Erwin Rotermund / Lutz Winckler / Wulf Köpke (Hg.): Exilforschung. Band 18. Ein internationales Jahrbuch. Im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung.
edition text & kritik, München 2000.
280 Seiten, 31,70 EUR.
ISBN-10: 3883776459

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